Fischstäbchen
Fischstäbchen! Ausgerechnet Fischstäbchen! Ich hasse Fischstäbchen. Mir kommt sofort das Würgen, wenn ich Fischstäbchen nur sehe. Ich sitze da und starre auf den Teller. Starre die Fischstäbchen an und plötzlich bin ich wieder 4 Jahre alt.
Ich sitze im Kindergarten beim Mittagessen. Es gibt Fischstäbchen. Alle anderen Kinder sind schon fertig und dürfen spielen, aber ich muss noch sitzen bleiben und aufessen. Der Bissen in meinem Mund weicht immer mehr auf und verwandelt sich in Fischpampe. Mein ganzer Mund ist voll davon. Der Bissen, den mir die Kindergartentante reingestopft hat, war eigentlich viel zu groß für mein kleines Kindermündchen. Und je länger ich drauf herum kaue, umso mehr wird es. Es füllt bereits meinen ganzen Mund aus, da ist kein bisschen Platz mehr. Und es wird trotzdem immer mehr. Ich sollte schlucken, aber es geht einfach nicht. Am liebsten möchte ich alles ausspucken, aber das darf ich nicht. Die Tante hats verboten. Ich hab ihr zwar gesagt, dass da eine Gräte drin ist, aber sie glaubt mir nicht. Sie sagt, in Fischstäbchen gibts keine Gräten, ich solle mich nicht so anstellen und endlich aufessen. Ich spüre sie aber. Bei jeder Kaubewegung piekst sie mich in die Zunge oder die weichen Schleimhäute an der Wangeninnenseite. Ich muss endlich schlucken. Die Fischpampe wird mehr und mehr. Ich versuche mich dazu zu zwingen, aber der Ekel ist so groß, dass es einfach nicht geht. Dazu kommt noch die Angst, beim Verschlucken der Gräte daran zu ersticken. Ich habe Todesangst zu schlucken. Aber ich muss. Okay, gehen wir das Ganze mal vernünftig an. Es muss ja irgendwie runter. Ich versuche mal mit der Zunge zu ertasten, wo die Gräte gerade ist. Ach, da ist sie - und piekst mir schon wieder in die Zunge. So weit, so gut. Jetzt vorsichtig die Gräte von der restlichen Pampe trennen und in einer Wange verstauen. Ich schiebe mit der Zunge in meinem Mund herum, bis die Gräte richtig positioniert ist. Das dauert ein Weilchen, die Tante schaut schon wieder böse herüber. Sie möchte, dass ich endlich aufesse, damit sie wegräumen kann. Nach dem Essen kommt immer die Schlafstunde. Dafür muss aber erst der Essenswagen mit dem schmutzigen Geschirr in die Küche gebracht werden. Dann werden Matratzen auf dem Boden verteilt. Sie wartet schon sehr ungeduldig darauf. Okay, ich habe es geschafft. Die Gräte ist endlich in der Wange verstaut. Jetzt teile ich mit der Zunge die restliche Pampe in kleinere Teile, die leichter runterzuwürgen sind. Stück für Stück und ganz vorsichtig, damit die Gräte nicht wieder aus der Wange rutscht. Ich schiebe wieder mit der Zunge an der Pampe herum und versuche das erste kleine Stück abzuteilen. Ich habe ein Stück abgetrennt, aber es ist zu groß, also nochmal teilen. Für die Zungenakrobatik, die da gerade in meinem Mund stattfindet, müsste ich eigentlich einen Preis gewinnen. Sehr vorsichtig und präzise versuche ich zu schieben und zu teilen. So geschafft, das erste kleine Stück ist abgeteilt, jetzt nur noch schlucken. Ich hole tief Luft und halte den Atem an, während ich mich dazu zwinge die Schluckbewegung auszuführen. Vor mir steht ein Wasserglas, ich überlege die abgeteilten Stückchen mit Wasser herunterzuspülen. Aber dann denke ich, nein, da ist die Gefahr zu groß, dass die Gräte sich aus der Wange löst und mitgeht. Wenn die mir im Hals stecken bleibt, dann ersticke ich. Also lieber kein Wasser. Okay, tief Luft holen und los. Und tatsächlich schluckt mein Mund das Stück herunter, ich spüre im Hals wie es die Speiseröhre runter rutscht. Ich bin unglaublich erleichtert. Es hat endlich geklappt. Und gleich noch ein Stückchen abteilen und schlucken. Kann ja jetzt nicht mehr so schwer sein. Wenns einmal ging, gehts auch nochmal. Ich fummle wieder mit der Zunge im Mund herum, um das nächste Stückchen abzuteilen. Die Tante schaut mich immer noch böse an. Geschafft, und nochmal tief Luft holen und schlucken. Na also geht doch. So mache ich weiter, Stückchen für Stückchen, bis nur noch die Gräte übrig bleibt - die letzte Hürde. Wie bekomm ich die jetzt bloß runter? Ich versuche es nochmal so, wie ich die Stückchen runterbekommen habe. Tief Luft holen, anhalten und schlucken. Nichts bewegt sich. Mein Mund weigert sich zu schlucken. Mist. Andere Taktik. Die Tante guckt immer noch böse herüber. Inzwischen rinnen mir Tränen übers Gesicht. Ich kann doch auch nichts dafür. Ich hab die verdammte Gräte ja nicht in den Fisch getan. Aber sie glaubt mir ja eh nicht, dass da eine ist. Okay, irgendwie muss das letzte Stückchen noch runter. Ich platziere die Gräte mittig auf der Zunge, greife zum Wasserglas und trinke es komplett leer. In einem Zug. Die Gräte wird mitgespült, ich spüre wie sie mir im Hals runter rutscht, bleib bloß nicht stecken. Ich habe Todesangst. Ich will noch nicht sterben. Und schon gar nicht will ich an einer verdammten Gräte ersticken. Aber es geht zum Glück alles gut. Die Gräte ist problemlos runter gerutscht und nicht stecken geblieben. Ich bin so erleichtert. Die Tante hat mitbekommen, dass ich endlich runter geschluckt habe und kommt rüber. Auf meinem Teller liegen noch einige Fischstäbchen. Sie teilt wieder einen Bissen ab - viel zu groß - und versucht ihn mir in den Mund zu schieben. Ich kneife die Lippen zusammen, in dem Versuch den großen Bissen etwas kleiner zu bekommen. Und tatsächlich bricht das Fischstäbchenstück auseinander. Es fällt ein Teil auf den Tisch. Die Tante schaut zuerst bitterböse, aber dann ändert sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig. Sie ist erstaunt und sagt, wie zu sich selbst, da ist ja eine Gräte drin. Sie steckt zwischen meinen immer noch zusammengedrückten Lippen. Sie glaubt mir nun. Ich darf den Bissen ausspucken und endlich vom Tisch aufstehen. Mir ist schlecht, mich ekelt, aber ich bin froh. Ich bin so froh, endlich aufstehen zu dürfen und freue mich heute direkt schon auf die Schlafstunde. Aber niemals, den Rest meines Lebens nicht, vergesse ich diesen Ekel und diese Angst. Ich hasse Fischstäbchen und auch jeden anderen Fisch.
Ich sitze immer noch da und starre meinen Teller an. Alle anderen essen bereits. Ich sitze und starre und denke, Fischstäbchen, ausgerechnet Fischstäbchen. Wie soll ich die jetzt bloß runter kriegen?