Der Ecktisch in der Nische des Restaurants, die eine gewisse Privatheit im großen Gastraum gewährte, war immer für Willrott und seine Gäste reserviert. Die Kanzlei zahlte dafür, auch wenn der Tisch am Abend leer blieb. Heute Abend aber war der Tisch besetzt. Oberbürgermeister Hajo Posch und der Besitzer der Privatbank Heinrich Umbreit hatten sich zu Alexander Willrott gesellt, der gerade Messer und Gabel auf seinen Teller fallen ließ und den letzten Rest des edlen Rotweines schlürfte, den er sich zu seiner vorzüglichen Piccata Milanese gegönnt hatte. Willrott lehnte sich zufrieden zurück und rülpste genüsslich.
Posch quittierte Willrotts eigenwillige Tischmanieren mit pikiertem Blick, legte ebenfalls das Besteck aus der Hand, griff nach der Stoffserviette und reinigte penibel Mund und Hände, obwohl er seine Spaghetti noch nicht einmal zur Hälfte aufgegessen hatte. Ihm war der Appetit vergangen.
Umbreit hingegen aß unbeeindruckt weiter. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass Willrott und Posch ihm zusahen, wie er das Innere seines Hummers ausschälte, bis auch das letzte Stück der rosaroten Köstlichkeit in seinem Mund verschwunden war. Was bezahlt wird, wird gegessen, an dieser Devise hatte er sein Leben lang festgehalten. Geld, in welcher Form auch immer, verschenkte man nicht, keinen Cent, an niemanden.
Umbreit investierte lieber. Zusammenraffen und gewinnbringend anlegen, nur so machte Geld Sinn und echten Spaß, besonders wenn es nicht das eigene war. Der Umgang mit Geld war nicht nur sein Beruf, es war sein Lebensinhalt. Das störte ihn auch an Willrott am meisten, der das Geld mit beiden Händen zum Fenster rauswarf. Willrott hatte sich inzwischen eine wuchtige Villa an den Stadtrand gebaut, fuhr Jaguar und verbrachte jede freie Minute im Golfclub oder in tropischen Urlaubsparadiesen, getreu seines Lebensmottos nur das Beste ist gerade gut genug. Aber er war ein brillanter Anwalt und für Umbreits nicht immer ganz einwandfreie Geschäfte unverzichtbar. Und Willrott wusste das, längst hatte er das Ruder an sich gerissen. Posch und Umbreit hatten keine Chance und gaben sich mittlerweile mit dem zufrieden, was Willrott ihnen noch zubilligte.
Sehr zum Ärger von Oberbürgermeister Hajo Posch, der am liebsten alle verfügbaren Mittel aus ihren gemeinsamen Geschäften für imposante Projekte in seiner Stadt eingesetzt hätte. Vor fünfzehn Jahren war er als Vertreter der Pharmaindustrie aus Hamburg nach Neustadt gekommen und schon kurze Zeit später als parteiloser Kandidat von den Bürgern, die genug hatten von ihren wankelmütigen Kommunalpolitikern, auf den Sessel des Oberbürgermeisters katapultiert worden. Ein großartiger Erfolg für seine bis dahin eher mäßige politische Karriere, ein Erfolg, der damals landesweit Schlagzeilen gemacht hatte. Er hatte sich einen guten Ruf erarbeitet in seinen fünfzehn Amtsjahren, in denen er aus dem verschlafenen Städtchen ein ansehnliches Mittelzentrum gemacht hatte. Seine rigoros mit Unterstützung von Umbreit durchgezogene Wohnraumverdichtung hatte Neubürger in die Stadt geholt, die rege Bautätigkeit für Arbeit und Wohlstand gesorgt. Sie würden ihm ein Denkmal setzen, wenn er im nächsten Jahr das Rathaus verließ, das war sicher.
Von den genialen Anfängen war indes nichts mehr übriggeblieben. Inzwischen ging es nur noch um finanzielle Interessen. Er hatte immer versucht, das Wohl der Bürger und der Stadt in den Vordergrund zu stellen. Das war vorbei, seit er und Umbreit damals Willrott als Rechtsanwalt ins Boot geholt hatten.
Als Heinrich Umbreit endlich auch nicht den kleinsten Fetzen Hummerfleisch mehr in der Schale ausmachen konnte und sein Besteck abgelegt hatte, kam Willrott auf den eigentlichen Grund für ihr Arbeitsessen zu sprechen: Staatsanwalt Greiner, der zunehmend nervöser und damit zur Gefahr für ihre Unternehmungen wurde.
„Ganz ehrlich“, murmelte Umbreit, während er die Reste des Hummerfleisches mit viel Mineralwasser aus den Zähnen spülte. „Mir ist das egal. Was soll er uns schon anhaben?“
Willrott trommelte mit den Fingerkuppen auf der blütenweißen Tischdecke. Seine blasse Gesichtshaut verfärbte sich gefährlich rot und ließ die Aknenarben noch deutlicher hervor scheinen. Von seiner eben noch zur Schau gestellten Zufriedenheit war nichts mehr übrig. Er kochte innerlich. Was bildete sich dieser Fatzke ein?
„Also ich finde er hat recht!“, warf Posch ein und öffnete rasch den Krawattenknoten, der ihn zu ersticken drohte. „Wir brauchen jetzt endlich seine Ernennung zum Oberstaatsanwalt und für uns alle am besten verbunden mit einer weit entfernten Versetzung.“
„Und wie soll das gehen?“, brummte Umbreit. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Sein Part in diesem Spiel war durchweg legal, wenn auch nicht immer moralisch einwandfrei. Er war Geschäftsmann, ein Banker mit Leib und Seele, für moralische Bedenken blieb kein Raum. Doch Willrotts Ton gefiel ihm nicht und er beschloss lieber zu kooperieren, als einen Konflikt zu provozieren.
„Das wüsste ich auch gerne“, warf Posch ein. „Dazu müsste er wenigstens einen spektakuläreren Fall haben, mit dem er sich für eine solche Position empfehlen könnte. Bislang ist er noch nicht mit besonderen Leistungen in Erscheinung getreten, eher im Gegenteil. Da stehen ganz andere oben auf der Beförderungsliste.“
„Das lässt sich ändern. Außerdem zählen in diesem Land nicht Leistung, sondern Beziehungen. Nutzt also eure Kontakte. So schwer kann das doch nicht sein, für den Rest sorge ich, wie immer, wenn es um was geht“, antwortete Willrott eine Spur zu zynisch und zu laut.
„Meine Herren, wir wollen doch nicht die Haltung verlieren. Wir sind hier nicht allein“, beruhigte Posch. Dabei nickte er höflich den Gästen am Tisch gegenüber zu und winkte Catal heran, der immer noch an der Theke stand und die Diskussion in der Nische aufmerksam verfolgte.
Catal näherte sich der Nische mit einem Beleg, den er Willrott überreichte. „Waren alle zufrieden“, fragte er beiläufig, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
Willrott unterschrieb den Beleg und reichte ihn Catal zurück. Posch und Umbreit standen auf.
„Ich verlasse mich auf euch“, rief Willrott ihnen nach, als die beiden bereits durch die vollbesetzte Gaststube zum Ausgang marschierten.
Catal setzte sich neben Willrott und betrachtete ihn neugierig. „Was ist los?“
„Melina Simon. Sie wurde heute vorzeitig aus der Haft entlassen.“
Catal kratze sich unschlüssig an der Nase. Dann beugte er sich dicht zu Willrott „Du hast doch gesagt, sie kommt auf keinen Fall früher raus“, flüsterte er kaum hörbar.
„Davon bin ich ausgegangen“, antwortete Willrott ebenfalls in gedämpfter Lautstärke. „Du solltest deine Übersiedlung nach Italien lieber vorziehen Aber erst bringen wir zu Ende, was wir angefangen haben.“
„Was hast du vor?“
„Das sage ich dir, wenn es soweit ist.“