Seitenwind Bonuswoche 8: Weihnachtlicher Ausrutscher

Es ist wirklich ärgerlich, dass es immer weniger Kamine gibt. Und wenn, dann haben sie nur noch Fake-Schornsteine mit dünnen Rohren drin oder eklige Sperren, irgendwelche Filter für die Umwelt und Tierschutzgitter. Die moderne Welt macht es mir wirklich nicht einfach! Aber mein Q – jaaaa, das hat James Bond von mir geklaut! – hat mir neue Zaubertricks gezeigt, mit denen ich durch alle Fenster und Türen komme. So leicht werdet ihr mich nicht los! Dafür liebe ich meinen Job viel zu sehr.

Nun stehe ich wieder vor einer Haustür von einem Haus ohne Kamin und zücke Trick Nummer 1. Q hat es Scheckkarte genannt und sie extra für mich rot lackiert mit einem Sternmotiv. Ich habe lange geübt und nun verschaffe ich mir Einlass und schleiche ins Haus. Sofort werde ich umhüllt von herrlichen Düften und ich schnuppere genüsslich. Vanille, Zimt, Apfel, Orange … schon stehe ich in der Küche und stibitze vergnügt grinsend einen Zimtstern aus einer Blechdose. Im Kühlschrank entdecke ich jede Menge vorbereiteter Dinge für ein feines Weihnachtsessen. Bratapfeljoghurt? Ich kann nicht widerstehen, finde einen Löffel und verputze ihn genüsslich. Nun zieht es mich in das große Wohnzimmer und dort bleibe ich wie angewurzelt stehen. Potzblitz! Da ist ein Kamin! Allerdings ist er künstlich, das erkenne ich erst auf den zweiten Blick. Direkt daneben steht ein riesiger Weihnachtsbaum, bunt geschmückt und ich entdecke gerührt kleine, von den Kinderhänden der kleinen Zwillinge gebastelte Sterne.

Ich stelle meinen Sack ab und will gerade mit meiner Arbeit beginnen, als mich Schritte zusammenfahren lassen. Die Wohnzimmertür öffnet sich wieder und der Teeniesohn des Hauses schlurft herein. Schnell drücke ich mich in eine Lücke zwischen Weihnachtstanne und Kamin und erstarre. Es ist doch viel zu spät! Selbst er sollte im Bett liegen! Aber nein, er sieht sich um und entdeckt mich sofort. Verflixt, was hat der Bursche im Dunkel für gute Augen! Ich halte den Atem an und starre einfach geradeaus. Ich bin nicht da! Staunend kommt der Junge langsam auf mich zu und bleibt so dicht vor mir stehen, dass ich nur die Lippen schürzen müsste, um seine Nase zu küssen. Aber ich halte durch, starre gerade aus und ertrage es, wie er mich betrachtet, an meinem Bart zupft, meinen Augenbrauen… AUA! Bursche, das ist alles echt! Lass das! Nun stochert er mit dem Zeigefinger in meinem Bauch herum. Mein starrer Blick wird etwas runder. Ja, ich habe ein kleines bisschen zugenommen, na und? Das ist Bodyforming und in meinem Beruf wichtig. Nimm deine Flossen von meinem Bauch und verschwinde, mir geht die Luft aus!
„Abgefahren.“, murmelt er schließlich und schüttelt den Kopf. Er hält mich für eine lebensgroße Puppe. Uff! Ganz vorsichtig atme ich die angehaltene Luft aus und nur meine Augen folgen ihm, als er durch das Zimmer zu einem Schrank geht. Er öffnet ihn und holt eine Flasche guten alten Whisky heraus. Meine Augen weiten sich entgeistert, als er sie öffnet und direkt aus der Flasche trinkt. Er ist erst 15! Das kann ich nicht zulassen! Was mach ich nur? Er schüttelt sich am ganzen Körper nach dem ersten kleinen Schluck, was mich grinsen lässt. Haha! Geschieht dir recht, mein Junge. Doch dann kommt der nächste Schock. Er hockt sich vor den alten Schreibtisch seines Vaters und zückt eine Scheckkarte! Was zum… Q! Er hat dich beklaut? Er kennt den Trick? Und spielt an der verbotenen Tür mit den nicht jugendfreien Inhalten! Das geht eindeutig zu weit.
„Das solltest du nicht tun!“, platzt es aus mir heraus. Der Junge springt hoch, die Flasche noch in seiner Hand und nun ist er derjenige, der starrt. Kann ich auch! Wir starren beide.
„Heilige Scheiße!“, keucht er schließlich, sodass ich zusammenzucke.
„Fluchen solltest du auch nicht. Das gehört sich nicht, zum Donnerwetter!“
„Du fluchst doch selber!“
„Ich habe die Flüche erfunden! Das sind alles meine! Also lass es einfach!“, fauche ich zurück. Er zieht die Augen schmal zusammen und kommt in einem bedrohlichen Schleichgang auf mich zu.
„Du verkleidest dich als Weihnachtsmann und brichst bei uns ein, du Sackgesicht?!“ knurrt er nun. Zugegeben, ich bin beeindruckt. Einmal weil er Mut hat und einmal weil er wirklich gut fluchen kann.
„Verkleiden? Bist du noch ganz dicht? Ich BIN der Weihnachtsmann!“ Verärgert reiße ich ihm den Whisky aus der Hand und setze die Flasche an. Er sieht mir mit offenem Mund zu, während ich die halbe Flasche leere. Dann zerrt er sie mir wieder aus der Hand.
„Alki was? Hast du ne Ahnung, wie teuer der ist?“ Ich breite die Arme aus.
„Wenn du deinen Vater schon beklaust, dann machs halt richtig und nicht mit so einem Minischluck. Wegnehmen ist wohl cooler als schenken, was?“ Wir funkeln uns an. Ich weiß, ich bin gerade nicht ganz fair.
„Was für ein Problem hast du?“, frage ich rundheraus. Der Junge sieht mich groß an und ich spüre, dass er schwankt zwischen dem kindlichen Wunsch, mich als der anzuerkennen, der ich wirklich bin oder dem erwachsenen Wunsch, Hilfe zu rufen und mich als Einbrecher anzuzeigen. Aber seine Fassade bricht zusammen.
„Ich habe kein Geschenk für meine Mutter.“, seufzt er. Mir bricht fast das Herz, denn ich höre seinen Schmerz. Die Flasche landet in meiner Hand und ich setze sie wieder an. Ich weiß ,dass er ein Künstler ist. Ein Sprayer. Und auch verantwortlich für viele besprühte Hauswände. Nun sind ihm seine Farben ausgegangen für das große Kunstwerk, das er seiner Mutter schenken wollte. Die Geschäfte haben geschlossen. Mit einem energischen Ruck stelle ich die Flasche beiseite, greife in meinen Geschenkesack und drücke ihm ein dickes Paket in die Arme. Das Klickern der Metallkugeln in den Spraydosen ist deutlich zu hören. Er starrt mich mit offenem Mund an und merkt nicht, dass ich ihm gekonnt die Scheckkarte aus seiner Gesäßtasche klaue.
„Verschwinde einfach und mach deine Arbeit zu Ende. Sie ist wichtig!“, knurre ich und mache eine Kopfbewegung Richtung Tür.
„Echt jetzt?“ Seine Stimme krächzt. Ich ziehe meine buschigen Brauen zusammen und starre bereits wieder finster.
„Du bist wirklich der liebe, gute Weihnachtsmann!“ Blitzmerker!
„Ich bin nicht lieb! Lieb ist die große Schwester von nett! Hau schon ab!“ Ich kann richtig gut knurren und offenbar habe ich ihn damit beeindruckt. Er rennt aus dem Zimmer und stolpert nicht gerade leise die Treppe hoch.
Die Geschenke sind schnell verteilt. Unter anderem Leinwände und weitere Farben für den jungen Burschen. Den Whisky nehme ich mit, der ist wirklich gut. Die Karte auch… ich muss mit Q ein ernstes Wörtchen reden.

Als die Tanne fast durchs Fenster flog

Martha W. mochte Weihnachten nicht. Missmutig knabberte sie an den trockenen Supermarktkeksen und starrte die winzige Tanne in der Zimmerecke an. In einer schwachen Minute hatte sie diese heute Morgen erworben, weil sie als Restexemplar reduziert gewesen war und Martha W. wenigstens einmal so tun wollte, als würde sie die Bräuche mitmachen. Martha W. besaß keine Christbaumdeko, daher hatte sie Alufolie in Streifen geschnitten und über die stacheligen Äste gelegt. Selbst im Schummerlicht sah es jämmerlich aus. In einem Schuhkarton hatte sie eine Lichterkette aus Kindertagen gefunden, doch die meisten Lichter funktionierten nicht mehr. Zumindest brannte auf dem Wohnzimmertisch ein Teelicht neben der aufgerissenen Kekstüte.
Während Martha W. immer mehr Krümel in ihrem Schoß sammelte, klebte ihr Blick unentwegt an dem Bäumchen. Was hatte sie bloß geritten, dieses hutzelige Ding zu kaufen? Allein der Duft vermochte es, ihren innerlich brodelnden Kessel zum Überlaufen zu bringen … was auch genau in diesem Moment geschah. Martha W. sprang aus dem Sessel auf, stürmte zu dem Bäumchen, ergriff es und zerrte es bis zum nächstgelegenen Wohnzimmerfenster, das sie beim Öffnen fast aus der Verankerung riss. Dann hievte sie das Bäumchen auf die Fensterbank und schob. In diesem Moment hörte sie eine Stimme. »He, Sie da, was soll denn das?« Martha W. fuhr herum. In dem zweiten Wohnzimmerfenster hing ein Mann und zwängte sich ächzend herein. Er murmelte etwas wie »zu kleine Öffnungen und zu viel Fastfood«. Jedenfalls hing er wie die Tanne nun im Fensterrahmen.
»Könnten Sie mir mal helfen?«, fragte er schließlich. Martha W. seufzte. Kaum versuchte sie, ein bisschen Weihnachten in ihr Leben zu lassen, wurde sie gleich mit Wahnsinn bestraft. In diesem Moment ging Martha W. noch davon aus, dass sie halluzinierte. Doch als der fremde Mann in ihrem Fenster fast schon flehte, ihn aus der misslichen Lage zu befreien, wurde sie unsicher. Sie ließ los. »Halt!«, schrie der Mann auf. »Der Baum!« Martha W. erschrak so sehr, dass ihre Hand hervorschnellte und die Tanne vor ihrem Sinkflug bewahrte. »Also gut«, sagte der Mann im Fenster gequält. Er schien eine Position gefunden zu haben, die zwar unbequem, aber absturzsicher war. »Dieser Abend ist schon bescheiden genug gelaufen. Da brauche ich echt nicht noch sowas.« Martha W. sah fragend zu ihm herüber. »Die Leute sind nicht zufriedenzustellen, geifern nach teuren Geschenken, die sie dann ungenutzt lassen, umtauschen oder wegwerfen.« Martha W. ging langsam ein Licht auf, es war allerdings das falsche. Der Bart, das Kostüm … ein Dieb, ein Räuber, ein Mörder, dem Anlass entsprechend gekleidet – natürlich musste ihr das heute passieren. Hätte sie doch bloß dieses Bäumchen nicht gekauft.
»Wissen Sie, da ruft doch so ein Gör bei der Polizei an, weil ihm die Geschenke nicht passen, die ich unter den Baum gelegt habe. Die wiederum ruft bei mir an und gibt mir eine Verwarnung. Eine Verwarnung für den Weihnachtsmann, können Sie sich das vorstellen?!« Noch wagte es Martha W. nicht, in diese seltsame Situation hinein zu sprechen. »Dann hab ich noch dieses eine letzte Päckchen zu verteilen, bevor ich Feierabend machen kann, und muss jetzt mit ansehen, wie die Empfängerin den Weihnachtsbaum aus dem Fenster wirft! Wo soll ich denn jetzt das Päckchen hinlegen, verraten Sie mir das mal?!«
Die Wut von Martha W. wandelte sich zunehmend in Mut. »Meinen Sie etwa mich, Sie unverschämter Eindringling?«, fragte sie und fühlte sich gleich ein paar Zentimeter größer. Immerhin sprach sie gerade mit jemanden, der ihr zwar an den Kragen wollte, aber im Fenster feststeckte. Der Mann seufzte. »Ich hab es zwar heute schon ein paar Mal gesagt, aber ja: Ich bin es wirklich. Der Bart ist echt, der Bauch leider auch, sonst wäre ich längst im Zimmer. Der Schlitten vor Ihrem Fenster ist auch keine Illusion …« Bei dieser Aussage schielte Martha W. verstohlen nach draußen und glaubte, ein paar ungewöhnliche Konturen, Lichter und eine leuchtend rote Nase zu erspähen. Dies verunsicherte sie noch mehr. »Also, wären Sie so freundlich, holen diese verd… Tanne wieder rein und helfen mir dann?« »Sie haben hier ja wohl gar keine Forderungen zu stellen«, entgegnete Martha W. und ließ die Tanne noch ein paar Zentimeter weiter aus dem Fenster rutschen, um die Reaktion des Mannes zu genießen. Er schien ernsthaft erschrocken zu sein. »Na schön«, sagte sie. Sie zog das um einige Nadeln ärmere Bäumchen zurück ins Zimmer und hörte ein erleichtertes Aufatmen. Dann näherte sie sich vorsichtig dem Mann im Fenster. Was hatte sie schon zu verlieren? Mit vereinten Kräften war die Engstelle kurz darauf passiert und der Weihnachtsmann kletterte erleichtert herein. Er baute sich vor Martha W. auf, strich Mantel und Bart glatt und wollte gerade sein Sprüchlein aufsagen, da winkte Martha W. ab. »Geschenke brauche ich nicht.« Sie ließ den verdutzten Weihnachtsmann stehen, schlurfte in die Küche und kam kurz darauf mit zwei warmen Glühweinen zurück. Dann lud sie ihn ein, es sich auf der Couch bequem zu machen, während sie sich in den Sessel sinken ließ.

So saßen die zwei von Weihnachten vollends Frustrierten bis spät in die Nacht zusammen, plauderten über dies und das und schliefen schließlich ein. Am nächsten Morgen erwachte Martha W. mit verspannten Gliedern im Sessel. Ihr Blick glitt zu dem Tannenbaum, den sie am Abend achtlos auf dem Boden liegen gelassen hatte. Er stand nun aufrecht, geschmückt mit einer wunderschön funkelnden Lichterkette und ein bisschen Lametta. Die Alufolie war verschwunden. Unter dem Baum lag ein einzelnes kleines Päckchen. Doch Martha W. öffnete es erst Wochen später. Das größte Geschenk hatte sie bereits erhalten: Martha W. mochte Weihnachten jetzt ein bisschen. Vielleicht würde sie sich nächstes Jahr wieder ein Bäumchen kaufen. Vielleicht.

Der fehlende Schlitten

Ich wurde mitten in der Nacht von einem polternden Geräusch geweckt. Leise schlüpfte ich aus meinem Bett und schlich neugierig die Treppe in das Erdgeschoss hinunter.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich leises Fluchen. Ohne Licht zu machen, trippelte ich auf Zehenspitzen an die Tür heran und legte eine Hand auf die Klinke. Mein Herz trommelte wie ein wild gewordener Tambourin gegen die Innenseite meines Brustkorbs, als ich tief durchatmete und dann mit einem Ruck die Tür aufriss.
Meine Hand lag schon auf dem Lichtschalter, als eine Stimme im Dunkeln rief: «Nein kein Licht. Bitte?»
Ich versuchte in dem dunklen Zimmer etwas zu erkennen. Undeutlich erkannte ich die Umrisse des Weihnachtsbaums, des Sofas oder des kleinen Esstisches, den irgendwann ins Wohnzimmer verfrachtet hatte und dort geblieben war. Einer der Stühle des Esstisches lag umgestossen auf dem Boden, das war wohl das Poltern gewesen, das mich geweckt hatte. Und neben diesem umgeworfenen Stuhl stand eine Gestalt.
Ich konnte zwar nur ihren Umriss erkennen, aber sie war gross, sehr gross.
«Und warum nicht?», fragte ich ohne die Hand vom Lichtschalter zu nehmen.
Die Gestalt schien um Wort zu ringen, «Weil äh, weil…, na ja. Also die Sache ist… Ich bin der Weihnachtsmann.
«Das ist ja unglaublich.», rief ich freudig überrascht aus, «Ich habe so viele Jahre lang versucht dir aufzulauern und bin immer eingeschlafen. Und nun gelingt es mir doch noch, als erwachsener Mann, ohne dass ich es beabsichtigt hätte. Krieg ich ein Autogramm? Kann ich deinen Schlitten sehen? Kann ich vielleicht sogar ein Stück mitfahren?»
«Äh nein.», sagte der Weihnachtsmann etwas verlegen, «Das geht leider nicht, denn ich habe noch so viel vor und eigentlich darf ich ja sowieso nicht gesehen werden, das zerstört den Zauber. Darum geh doch bitte wieder in dein Bett und schlaf weiter. Ich deponiere hier noch die Geschenke und räume schnell auf und muss dann auch schon weiter.»
«Ja aber…», sagte ich und wollte ihn nicht so schnell gehen lassen.
«Bitte.», flehte der Weihnachtsmann.
«Na gut.», murmelte ich und schlich die Treppe hinauf.
In meinem Zimmer angelangt konnte ich aber nach allem was geschehen war nicht gleich schlafen gehen und da es in meinem Zimmer etwas stickig war, öffnete ich das Fenster und öffnete die Fensterläden. Frische, kalte Nachtluft drang in mein Zimmer. Ich atmete tief ein und fröstelte ein wenig. Ich schaute über die Vorstadt hinweg in der ich lebte. Kleine Einfamilienhäuser mit mehr oder weniger gepflegten Gärten reihten sich aneinander. Und jetzt mitten in der Nacht stand über all dem der Mond, der sein fahles Leuchten vom wolkenlosen Himmel über die Stadt goss.
Das silbrige Licht des Mondes brachte den Schnee auf meinem Vorplatz zum Glitzern und beleuchtete den schwarzen Kastenwagen, der dort stand.
Moment mal. Ich besass gar kein Auto. Ich mochte sie nicht und da ich mit dem Velo innerhalb von 20 Minuten zur Arbeit und in die Stadt kam, braucht ich auch keins. Wem gehörte dieser Kastenwagen? Und wenn das in meinem Wohnzimmer wirklich der Weihnachtsmann war, wo war dann sein Schlitten?
«Der Typ hat mich angelogen.», zischte ich mit zornig zusammengekniffenen Augen. Ich ging zu meiner Zimmertür und schloss sie ab. Dann nahm ich mein Handy, rief bei der Polizei an und meldete, dass ich einen Eindringling in meinem Haus habe.
Der freundliche Polizist, der meinen Anruf entgegennahm sagte, dass sie gleich eine Streife vorbeischicken würden. Es wäre sowieso schon eine in der Nähe, da in dieser Nach schon in zwei andere Häuser eingebrochen worden sei. Ich solle warten und mich am besten in einem Zimmer einschliessen.
Nach dem Anruf trat ich wieder ans Fenster und sah, wie eine grosse, sehr grosse Gestalt, die einen schwarzen und keinen roten Mantel trug, einen riesigen Sack aus meinem Haus schleppte.Die Gestalt schleppte den Sack zum Kastenwagen, öffnete eine der hinteren Türen und wuchtete den Sack in den Wagen, in dem sich offenbar schon andere Säcke befanden.
Bevor die Gestalt jedoch in den Kastenwagen einsteigen konnte, raste ein Polizeiwagen heran. Die Sirene hatten die Beamten offenbar nicht eingeschaltete, um den Dieb nicht zu warnen.
Der Gauner ergab sich ohne Gegenwehr und sobald er Handschellen trug, schloss ich meine Zimmertür auf, zog Schuhe an und ging zu den Polizisten hinaus um ihnen zu danken.
In zwei der drei Säcken, die die Polizei im Kastenwagen sicherstellte, befand sich das Diebesgut der zwei anderen Einbrüche. Im dritten befanden sich meine Playstation, mein Thermomix, meine Kaffeemaschine und diverse kleinere Wertgegenstände, sowie ein wenig Bargeld, dass ich zum Einkaufen in einem kleinen Portemonnaie in der Küche deponiert hatte.
«Wisst ihr,», sagte ich zu den Polizisten, «zuerst glaubte ich ihm ja, dass er der Weihnachtsmann sei, aber dann sah ich aus dem Fenster und sah diesen Kastenwagen und da wusste ich, dass er log, denn wer hätte schon davon gehört, dass der Weihnachtsmann mit einem schwarzen Kastenwagen unterwegs ist.»
«Müsste der Schlitten nicht auf dem Dach landen?», fragte der eine Beamte und lachte freundlich.
Ich wurde aber plötzlich unsicher und schielte schnell zu meinem Dach hinauf. Zum Glück befand sich aber auch dort kein Schlitten.

Der Weihnachtsmann bei der Arbeit

Jan horchte auf. Er lag im Bett und spitzte die Ohren. Er hatte doch etwas gehört, oder irrte er sich? Er lauschte in die Stille hinein. Nichts. Und doch plötzlich hörte er ein Poltern aus dem Erdgeschoss. Da war jemand im Haus. Er schlug lautlos seine Bettdecke um, schlüpfte aus dem Bett und schlich sich auf Zehenspitzen zu der Treppe. Wieder ein Geräusch. Dieses Mal schien etwas umgefallen zu sein. Vorsichtig ging er die Treppe hinunter, umschiffte die knarzende Treppe, die ihn vielleicht verraten hätte.

Mutig stellte er sich in den Türrahmen des Wohnzimmers, drehte das Licht auf und konnte seinen Augen nicht trauen. Vor ihm stand ein Mann mit weißem Bart, einem roten Mantel mit weißem Kragen, schwarze Stiefel bis zu den Knien, einen breiten, schwarzen Gürtel, der seinen dicken Bauch zusammen zu halten schien und eine rote Mütze mit einer weißen Quaste am Ende.

„Was bist Du den für ein Clown“ entfuhr es seinen Lippen. Der ältere Herr machte große Augen, fühlte sich sichtlich ertappt bei seinem Einbruch. Ruhig antwortete dieser „Ich bin der Weihnachtsmann“. Jan fing laut zum Lachen an „Ja klar, Opi und ich bin Rudolf, das Renntier! Hast Dich wohl verirrt. Du bist nämlich hier in Europa und da bringt das Christkind und nicht der Weihnachtsmann die Geschenke“.

Jan mit seinen vierzehn Jahren glaubte weder an das Christkind noch an den Weihnachtsmann. Er ließ sich sicher nicht verarschen von dem Eindringling vor ihm. Er stemmte seine Arme in die Hüften, um bedrohlicher in seiner Erscheinung zu wirken. Der alte Mann sagte mit einer tiefen, aber wohlklingenden Stimme „Hör mal zu, Jan“ „Woher kennen Sie meinen Namen?“ fragte er verwundert. „Ich kenne den Namen aller Kinder auf der Erde. Es tut mir leid, dass ich Dich geweckt und erschreckt habe. Ich werde älter und blöderweise bin ich etwas schwerfälliger geworden. Dann kommt noch hinzu, dass sich das Christkind krankgemeldet hat und ich jetzt auch noch Europa beliefern muss.“

„Sagen Sie, geht es Ihnen nicht gut. Ich würde eigentlich die Polizei rufen, aber vielleicht wäre die Rettung die bessere Option?“ „Ich brauche keine Rettung. Ich muss meine Arbeit erledigen. Unzählige Kinder warten noch auf die Geschenke, die ich hier in meinem Sack habe.“ „Fast hättest Du mich gehabt, Alter. Aber ich bin doch kein Idiot! Wie sollen denn in deinen Sack die ganzen Geschenke für alle Kinder auf der Welt reinpassen? Das bringt Dich jetzt in Erklärungsnot, was? Hast nicht gedacht, dass ich ein so schlaues Kerlchen bin.“ Stolz streckte er die Brust nach vorne, selbst begeistert von seiner Intelligenz und Auffassungsgabe.

„Jan. Lass es gut sein. Du warst ein braver Junge dieses Jahr. Hast deiner Mutter wenig Sorgen bereitet. Unter dem Weihnachtsbaum habe ich bereits alles abgelegt für Dich. Du kannst gerne in meinen Sack reinschauen, damit Du mir glaubst.“ „Und dann steckst Du mich in den Sack und entführst mich?“ fragte Jan jetzt kleinlaut, in dem Bewusstsein, dass er alleine im Haus mit diesem seltsamen Mann war. Der angebliche Weihnachtsmann machte seinen Sack auf und breitete ihn so weit es ging auseinander. Er trat einen Schritt zurück und ließ sich in den Sofasessel fallen. „Komm schon, Jan. Es passiert Dir nix. Schau rein und dann wirst Du verstehen.“

Seine Neugier war schon immer sein Verhängnis gewesen und jetzt konnte er ihr wieder nicht widerstehen. Er musste wissen, was in dem Sack da drinnen war, koste es was es wolle. Langsam trat er näher an den Sack heran und schaute hinein. „Wow!“, stieß er ungläubig hervor. In dem Sack waren Geschenke gestapelt, unendlich viele, nicht zum Zählen. Und der Sack hatte keinen Boden, sondern schien bis hinab in die Tiefen der Erde zu reichen. Jan blickte auf und starrte den sitzenden Mann auf seinem Sofa an. „Was soll das, das gibt es nicht. Was ist das für ein Trick“. „Jan, das ist kein Trick. Ich bin der Weihnachtsmann. Das hatte ich Dir doch schon gesagt. Geh jetzt schlafen. Ich bin schon viel zu spät dran. Ich muss meine Arbeit heute noch schaffen, sonst werden viele Kinder traurig sein“. Jan war vollkommen irritiert, murmelte dann ein „Danke, für die Geschenke“ vor sich hin, drehte sich um und ging rauf in sein Zimmer. Er hoffte inständig, dass dies nur ein Traum war. Wenn er das in der Schule morgen erzählen würde, würden die ihn in die Klapsmühle einweisen. Lieber er erzählte niemanden von dem Erlebten. Nur ein Traum redete er sich ein und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Der Weihnachtsmann schaute Jan nach, wie er sich langsam entfernte. Er schüttelte den Kopf. Manchmal wünschte ich, dass ich etwas Anständiges gelernt hätte, dann müsste ich mich nicht mit diesen Neunmalklugen herumschlagen. Ich werde alt. Früher wäre mir das nicht passiert, dachte er wehmütig. Langsam rappelte er sich hoch, nicht ohne Schmerzen in seinen alten Knochen zu spüren, schulterte seinen Sack und verließ dieses Haus durch die Türe. Warum sollte er sich noch durch den Kamin zwängen, wenn Jan ihn doch eh während seiner Arbeit gesehen hatte. Er lächelte. Es wurde Zeit einen Nachfolger zu suchen und dem Christkind würde er morgen seine Meinung geigen.

Wie (un)weihnachtlich

Da ist er. Dieser eine Abend. Man kann ihn nicht verpassen. Seit August werden im hiesigen Radiosender die Tage rückwärts gezählt. Seit September gibt´s Lebkuchen im Supermarkt. Toll.
Für Familien ist das Ganze sicher eine riesen Sache. Für mich nicht. Ich bin keine Familie. Als Nicht-Familie verweigere ich das Feiern dieser aus den Fugen geratenen Geburtstagsparty.
Ich feiere anders. Weil ich heute frei habe und morgen auch. Und übermorgen erst. Also Beene hoch, Amerika!
Das heiße Bad war gut, nun trocknet die Kohlemaske im Gesicht. Während in der Mikrowelle mein x-ter Lülü Verzehrtemperatur erreicht, setz ich die Mütze auf und schlüpfe in ein paar Gartenclogs.
Noch eine gemütliche Zigarette auf der Terrasse, bevor ich mit Papyrus in eine andere Welt reise. Meine Art der Besinnlichkeit.
Draußen ist es mittelkalt, nass und windig. Klägliche Schneereste reflektieren Nachbars bunte Beleuchtung. Drüben wird hörbar gezankt. Ich lächle leise, während ich zum Gartenstuhl schlurfe.
An der Fluppe ziehend, lasse ich mich fallen … und lande auf einem Körper. Vielmehr in einem Körper. Die ausladende Mitte gibt mächtig nach.
Hochspringen, brüllen, Kippe in den Eindringling stecken – alles eine Bewegung. Innerlich ziehe ich den Hut vor mir.
Wild hopsend wedle ich mit der ausgedrückten Kippe vor dem Fremden herum. Der Bewegungsmelder reagiert. Licht enthüllt die Szenerie. Auf meinem Gartenstuhl hockt ein ausladender Typ im Weihnachtsmannkostüm. Mit beiden Händen hält er sich ein Auge und wiegt wimmernd vor und zurück.
»Spinnst du?«, kommt es anklagend vom Stuhl.
»Ich? Wieso denn ich? Was machen sie hier?«
Der Typ schielt einäugig zu mir hoch und erschrickt sichtlich.
»Alter…«, murmelt er.
Ich bin kurz beleidigt, strecke dann entschlossen das Kinn vor und frage lauter:
»Was machen sie hier?«
»Ich sitze.«
»Ah. Nee, is klar. Warum genau?«
»Ich denke.«
»Wollen sie mich verarschen? Raus hier, sonst hol ich die Polizei!«
Der Typ lässt sein Gesicht los und sieht mich an.
»Hast du ne Kippe ins Auge bekommen oder ich? Guck doch mal hin! Ich bin der Weihnachtsmann und jetzt bin ich verletzt!« Er fängt wieder an zu wimmern.
Ich lache auf.
»Armes Hascherl! Das kommt davon, wenn man auf fremden Terrassen abhängt!«
»Das kommt davon, wenn man nen SCHEIß Kamin mit nem SCHEIß rechten Winkel im Kaminrohr hat!«
Ich schaue genauer hin. Der Typ sieht lädiert aus. Die ehemals rote Robe ist verdreckt, im Bart haben sich regelrechte Rußblätter verfangen. Der Kartoffelsack neben ihm weißt einen großen Dreiangel auf. Vielleicht…
»Gesetzt den Fall…«, setze ich an.
Der Rote linst hoffnungsvoll aus seinem Musauge.
»Ja?«
»Gesetzt den Fall, du bist der Weihnachtsmann.«
»Ja!«
»So kannst du nicht weiter.«
»Ist mir klar. Gegenüber geht gerade nicht. Die müssen erst zu Ende zanken und bei dir geht´s auch nicht. Du bist ungläubig.«
»Bin ich, aber sozial.«, grinse ich und halte den ausgestreckten Zeigefinger in die Luft.
Wir beide sind uns schnell einig. Während der Weihnachtsmann meinen Lülü bekommt, bringe ich Mantel und Kartoffelsack wieder auf Vordermann.
Als er geht, dreht er sich noch einmal um.
»Ein Geschenk hab ich nicht für dich.«, sagt er bedauernd, »Aber halt mal still.«
Seine warme Hand legt sich auf meine Stirn. Und auf einmal sind sie da – die Bilder der Vergangenheit.
Duftende Kekse, liebevolle Augen und leise Musik. Eine alles umarmende Wärme. Das Weihnachten der Kindheit findet seinen Weg in meine Erinnerung und ich weiß – nichts wird anders aber alles ein klein wenig schöner.

Euch allen schöne Weihnachten!

###Die Rosenquarzkette

Sie hatten ihr gesagt, dass alles gut werden würde, wenn sie nur fest daran glaube. Trotzdem war Mama gestorben. Sita war nicht mit zur Christmesse gegangen. Ihre Tante und der Onkel haben keine eigenen Kinder und waren als Neueltern überfordert gewesen, ob man Sita alleine lassen könne. Allerdings war Sita in den letzten Wochen um Jahre gealtert und niemand behandelte sie wie ein Kind. Die Schwester ihrer Mutter hatte sie sofort zu sich geholt, als Mama ins Krankenhaus musste. Der Mann der Tante schweigt sie stets mitfühlend an und nickt, als wolle er ihr zustimmen, auch, wenn sie gar nichts gesagt hatte.

Sie nimmt die Boxen für die Christbaumkugeln. Sie hatten den Baum erst gestern Abend geschmückt. Sita nimmt die Kugeln vorsichtig vom Baum und verpackt sie in das Seidenpapier. Die Kugeln legt sie in die Fächer der Box. Sie ist leise, aber schnell.

„Nanu!“, poltert es hinter ihr.
Im Türrahmen steht ein als Weihnachtsmann verkleideter Mann, vermutlich der Nachbar.
„Ich bin etwas zu alt für den Weihnachtsmann. Die beiden sind auch in der Kirche, es ist gerade keiner da.“
„Was machst Du denn da? Nimmst Du die Kugeln ab?“
Sita fühlte sich ertappt. Sie wollte nur ein Zeichen setzen, dass dieses Jahr kein Weihnachten wie jedes Jahr gefeiert werden kann. Dass Weihnachten ohne Mama einfach nicht stattfindet. Dass der schönste Baum nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Mama gestorben ist. GESTORBEN. Da muss Weihnachten mal ein Jahr pausieren.
„Ich denke nicht, dass Sie das was angeht. Ist es wirklich so vereinbart, dass Sie hier rein schleichen? Weiß Tante Margret das?“
„Du glaubst nicht an den Weihnachtsmann, hm?“
„Ich? Ich glaube an gar nichts mehr. Ich habe geglaubt, dass sie meiner Mutter helfen können, aber sie ist trotzdem tot. Ich glaube sicherlich nicht daran, dass ein Mann auf einem Schlitten alle Kinder der Welt in einer Nacht besuchen kann. Ich bin 10 Jahre alt, ich habe schon viel gesehen.“
„Das glaube ich dir sofort, mein Kind. Übrigens besuche ich nicht alle Kinder in einer Nacht. Ich habe viele Helferlein und die besuchen quasi alle Kinder. Ich besuche nur die wenigen, die mich jedes Jahr besonders brauchen. Kinder, die ein Wunder brauchen.“
Sita rollte genervt mit den Augen. Von einem möglichen Wunder hatten die Ärzte auch gesprochen, als Mutters Fieber gesunken war. Aber es kam doppelt so schlimm zurück. Sie schluckt den Klos im Hals hinunter und atmet tief ein, so kann sie Tränen unterdrücken. Das hat sie in den letzten Wochen gelernt. „Muss ich die Kugeln jetzt wieder aufhängen? Da vorne stehen übrigens die Kekse, nehmen Sie sich ruhig welche, es sind genug da.“

Der Weihnachtsmann nimmt sich einen Keks und beißt beherzt ab. „Das sind nicht die Kekse deiner Tante, das ist das Rezept deiner Mutter!“
Sita lässt erschrocken eine Kugel fallen, aber sie fällt weich auf den Teppich und rollt nur hinter den Zeitungsständer am Sessel des Onkels. „Woher wissen Sie das? Die habe ich gebacken, nach ihrem Rezept.“
„Oh, ich kenne alle Keksrezepte aller Mütter und das hier hat mir immer gut gefallen. Da ist ein Schuss Sahne drin, oder?“ Er kniet sich zu Sita auf den Teppich. „Sita, ich bin wegen Dir hier. Dein Weihnachtsgeschenk hat dich noch nicht erreicht und das muss ich natürlich persönlich erledigen.“
Sita schaut auf den halb abgeschmückten Baum. „Mach dir darum keine Sorgen, Sita, der Baum ist nicht wichtig. Ich verrate dich nicht. Die Kette ist sehr schön.“
Sita seufzt, sinkt in den Schneidersitz und umfasst die Rosenquarzkette. „Die ist von meiner Mama. Anscheinend. Nach ihrem Tod musste unsere Wohnung sehr schnell geräumt werden. Meine Tante hat nach schönen und persönlichen Erinnerungen für mich gesucht. Sie dachte, die Kette würde mir helfen. Ich kenne die aber gar nicht, die Kette ist irgendwie leer. Ich fasse sie an, aber ich spüre meine Mama nicht.“
„Mehr hast du nicht von ihr?“
„Es konnte nichts gefunden werden. Mein Onkel hat ihr Handy und den Computer durchsucht, aber wir finden die Fotos nicht.“
„So!“, sagt der Weihnachtsmann und klopft sich auf die Oberschenkel, „das ist wirklich traurig, aber ich habe nicht so viel Zeit. Du musst dann jetzt kurz mitkommen, für dein Geschenk.“
„Können Sie Tote auferwecken?“
„Natürlich nicht.“
„Dann brauche ich ihr Geschenk nicht.“
„Das entscheide mal, wenn du es ausgepackt hast.“
Den angebissenen Keks legt er auf die Kommode, nimmt ihre Hand und nach einem kurzen Schwindel, landen beide in einem dunklen Lagerraum. Der Weihnachtsmann zieht an einem Seil und das Licht geht an. „Hier lagern die Sachen deiner Mama. Deine Tante hat noch nichts aussortiert, ihr ging das vermutlich auch zu schnell.“
„Ist das hier ein Traum?“
„Ja und nein. Also ja, das ist ein Traum, aber der Raum ist echt und wir sind wirklich hier.“
„Innerhalb meines Traumes.“
„Eher innerhalb deines Unterbewusstseins. Ich bin ja echt und der Raum auch, also können wir nicht in deinem Traum sein.“
„Das…“
„Ja, das macht keinen Sinn, das sagen alle Kinder, jaja.“
Sita sieht ihr Fahrrad und greift nach dem Lenker. „Nicht anfassen, Sita! Der ist kalt und feucht vom Kondenswasser. Wenn wir kalt und feucht anfassen, wachen wir manchmal aus unseren Träumen auf!“ Der Weihnachtsmann watet durch die Kartonstapel. Mit seiner Robe bleibt er hier und da hängen und stößt den einen Karton vom anderen. Zielsicher greift er sich einen Karton und kommt zu Sita zurück. „Das ist er, das ist Dein Geschenk. Um es zu öffnen, musst du an eine direkte Verbindung mit deiner Mutter denken!“
Er klatscht in die Hände und alles wird schwarz.

Sita kommt nur langsam zu sich. Sie ist auf dem Boden im Wohnzimmer eingeschlafen, jemand hat sie mit einer Decke zugedeckt. Sie richtet sich auf. Der Weihnachtsbaum ist komplett entschmückt und steht dunkel und grün in der Ecke. Sie blickt in das Gesicht des Onkels. „Margret ist dir nicht böse. Wenn du keinen Baum möchtest in diesem Jahr, dann geht es auch ohne. Aber lecker gegessen wird trotzdem.“
Die Tante kommt rein und schaut Sita tief in die Augen. Beide versuchen zu lächeln, es gelingt keinem. „Da ist noch ein zusätzliches Paket gekommen, ich weiß gar nicht, von wem das ist.“ In diesem Moment fällt Sitas Blick auf einen angebissenen Keks auf der Kommode. Ruckartig dreht sie sich um: „Was?“
Kann das wirklich wahr sein? Mit großen Schritten geht sie auf das Paket zu, es ist der Karton aus Mamas Lager. Zitternd öffnet sie die Schachtel und es ist eine Kiste mit einem Zahlenschloss drin. Die direkte Verbindung zu ihrer Mama, schießt es Sita in den Kopf. Direkte Verbindung. Langsam dreht sie die Zahlen auf 3386, die Kurzwahl, mit der Sita ihre Mutter auf dem Handy anrufen konnte. Mama war immer ans Telefon gegangen. Die Kiste geht auf.

Die Tante atmet erschrocken ein: „Das sind ihre Tagebücher!“ Der Onkel greift nach einer kleinen, durchsichtigen Box, vielleicht waren da mal Büroklammern drin gewesen. „Ich denke, wir haben ihre Speicherkarten mit den Videos und Fotos gefunden.“ Sita findet Briefe, Zeichnungen, Ohrringe, kleine Figuren und Zettelchen. Ein Schatz.
Nachdem sie alles einmal in die Hand genommen hatte, fällt Sitas Blick auf die Christbaumkugel neben dem Zeitungsständer am Sessel des Onkels. Sie hebt die Kugel auf und schaut zur Tante. „Ich denke, ich würde den Baum doch gerne schmücken.“ Die Tante nickt und der Onkel hat innerhalb weniger Minuten den Schmuck ausgebreitet, damit die beiden sich austoben können.
Sita wühlt sich den Abend durch die Kiste und sie findet ein besonderes Foto: Mama mit Sita im Krankenhaus, offensichtlich ist Sita erst wenige Minuten alt. Und die Mama trägt die Rosenquarzkette.
Der Weihnachtsmann hat ihre Mama zum Leben erweckt, obwohl er sagte, er kann das gar nicht.

Wenn Sita ihre Mama vermisst, liest sie in den Tagebüchern und schaut sich Fotos und Videos an. Dabei reibt sie die Kette und lädt sie mit ganz viel Liebe auf. Sie trägt die Kette jeden Tag und fasst sie an, wenn sie ein wenig von ihrer Mama braucht. Das wird mit den Jahren immer seltener, aber geht nie ganz verloren.

Wenn ich doch nur mehr Kleber im Haus hätte! Dieser verdammte Discounterbaum, ich hätte ihn nicht so nah an die Heizung stellen sollen… Zum gefühlt 100.000 mal hebe ich eine der fitzeligen vertrockneten Tannennadeln vom Boden auf, tippe sie in mein Kleisterfässchen und pappe sie zurück an eines der dürren Ästchen. Nur blöd, dass meine Klebekraft überwiegt und sie letztlich an mir hängen bleibt.

Vermaledeiter biodegenerativer Abfall… schimpfe ich vor mich hin. Ich habe doch schon immer gesagt, dass ein künstlicher Baum die bessere Wahl ist!
»Aber Schatz, denk doch nur an die Kinder und wie viel schöner so ein echter Baum ist! Dieser wunderbare Duft!« Ich schnaube laut auf, als ich mir die empörte Stimme meiner Frau in den Kopf rufe. Von wegen Duft, dieses Jahr wird man eher high, wenn man an unserem Baum schnüffelt. Weihnachtsstimmung stelle ich mir da irgendwie anders vor.

Ruuuuuuuuuuuuuuuuuummmmmms

Was zum Teufel war das jetzt schon wieder? Ich fahre blitzartig herum, verliere das Gleichgewicht und kippe im Fallen den halbvollen Kleistertopf über mich. Na super. Pumuckl lässt grüßen. Ich will mich gerade fluchend wieder aufrichten, als ein riesiger Schatten über mich fällt. Wenn das mal nicht der Meister Eder ist…

»Hätten Sie Ihren Kamin nicht endlich mal reinigen können? Jedes Jahr das Gleiche… was glauben Sie, wie viele von diesen roten Bademänteln ich mittlerweile wegen Menschen wie Ihnen wegschmeißen musste? Der hier ist sogar von Gabor! Eigentlich sollte ich direkt wieder gehen…«

Ich bin zu verblüfft, um überhaupt etwas erwidern zu können. Da steht doch tatsächlich der Weihnachtsmann vor mir! Ziemlich ramponiert, aber eindeutig mit Rauschebart. Ich hoffe, er hat seinen Cola Truck nicht in unserer Einfahrt geparkt, sonst würde Gießbert von Gegenüber mir morgen wieder die Hölle heiß machen…

»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Naja gut, mich sieht man wohl nicht alle Tage. Apropos - was tun Sie überhaupt hier, Sie sollten längst im Bett sein! Da hat der Sandmann wohl mal wieder nicht richtig gestreut…«

Ich verstehe nur Bahnhof. Und frage mich sogleich, ob Rudolf wohl neben dem Weihnachtsmann im Cola Truck sitzen darf - stilecht mit cooler Sonnenbrille und roter Nase. Vielleicht bin ich einfach schon so high von dem ganzen Kleber, dass ich halluziniere? Das muss es sein!

Der Blick des Möchtegern-Weihnachtsmannes fällt auf unseren Baum. Er verzieht mitleiderregend das Gesicht.

»Ist der von Jetti?«

Ich nicke.

Er seufzt. »Glauben Sie mir, mit Ihrem Exemplar sind Sie noch gut weggekommen. Was ich heute schon alles sehen durfte…«

Ein weiterer Rums ertönt, als er seinen schweren Sack auf den Boden plumpsen lässt. Das Geräusch müsste eigentlich die halbe Nachbarschaft geweckt haben – vermutlich war der Sandmann bei Ihnen gründlicher. Ein irres Lachen bricht sich Bahn und der eingebildete Santa Claus wirft mir einen komischen Blick zu.

»Vielleicht hätte ich Ihnen doch lieber ein paar Beruhigungstabletten, anstatt der gestrickten Wollsocken mitbringen sollen«, sagt er besorgt, während er einen Stapel Pakete unter unseren kläglichen Baum legt.

»Ist das der neue Service von DHL?«, frage ich und krümme mich vor Lachen als ich an die „Ho-ho-ho, ihr Paket kommt heute“ Mails denke, die mein Postfach aktuell zum Überlaufen bringen.

»Vollkommen übergeschnappt der Arme«, murmelt der rotgewandete Rauschebart und tätschelt mir beschwichtigend die Wange, bevor er seinen Sack erneut schultert und mit schweren Schritten das Haus verlässt – diesmal durch die Eingangstür.

Hätte er doch wenigstens eine Dose Cola für mich dagelassen - oder besser gleich einen Whiskey. Den könnte ich jetzt wahrhaftig gebrauchen!

Baby Kugel

„Entschuldigung! Was fummeln Sie an unserem Weihnachtsbaum?“
Ich stehe im Rahmen der Wohnzimmertür und mein Blick ist auf den Kerl gerichtet, der an einer goldenen Kugel hantiert. Ich bin überrascht, dass ich gelassen bleibe. Es ist nach Mitternacht und ich kenne diesen Herren nicht, der da vor mir steht. Der rote Mantel an ihm wirkt vertraut.
Mit einem breiten lächeln sieht er mich an.
„Ah! Wen haben wir denn da! Wenn das man nicht die Anja ist!“
Seine Stimme ist brummig, aber eine natürliche Fröhlichkeit ist darin zu hören.
„Beinahe hätte ich mit dem Sack diese Christbaumkugel herunter gerissen."
Er deutet auf die Kugel. Baby´s erstes Weihnachten steht darauf.
„Das hätte Tränen gegeben, da es die Baby Kugel deiner ältesten Tochter ist.“
Er lächelt und ich nicke. Wer ist dieser Mann? Weißer Bart, dicker Bauch.
Er bückt sich und legt Päckchen unter den Baum, zu denen die ich hin gepackt habe. „Was sind das für Geschenke?“
„Das waren Wünsche der Kinder, die mich per Wunschzettel erreicht haben. Die dürfen doch nicht fehlen.“
Ich sehe ihn an, ich weiß nicht wer er ist.
„Geh wieder schlafen Anja. Die Kinder sind wieder früh wach, schließlich ist heilig Abend.“
Ich nicke und drehe mich zum Schlafzimmer um.
„Gute Nacht Herr -“, wie heißt er? Ich sehe ihn wieder an.
„Weihnachtsmann oder Santa Claus, je nachdem. Einige sagen Christkind zu mir.“
Ich reibe mir über die Augen. Weihnachtsmann?
„Gute Nacht Herr Weihnachtsmann.“
„Gute Nacht Anja, schön dich wieder gesehen zu haben. Ich wünsche dir und deiner Familie ein frohes Fest!“
„Danke, Ihnen auch.“ Ich gehe zum Bett und kuschle mich unter die Decke. Hoffentlich macht der Herr Weihnachtsmann das Licht wieder aus, wenn er geht.

„Mama! Wach auf! Der Weihnachtsmann war da!“ Ich öffne meine Augen. Zwei Augenpaare strahlen mich an.
„Wie schön! Dann sollte ich aufstehen.“
Im Wohnzimmer fällt mein Blick auf den Baum. Die Kinder reißen das Papier der Geschenke auf. Mein Blick streift die Baby Baumkugel. Ein Glück, dass sie nicht kaputt gegangen ist. Meine Augen weiten sich und ich starre den Baum an.
„Es war der Weihnachtsmann! Er war wirklich hier!“
Die Kinder nicken und lachen.

Frohe Weihnachten und andere Küchenkatastrophen

Ich schlich murmelnd durch die offene Hintertür, ein Hauch von Unbehagen in meinem sonst so frohgemuten Schritt: „Die verflixten Schornsteine in diesen neuen Häusern scheinen viel schmaler zu sein als früher. Haben die denn gar nicht an mich gedacht?“ Meine Stimme, ein tiefes Grollen, das mehr an das sanfte Rollen ferner Donner erinnerte, verlor sich im wirbelnden Schneetreiben.

Behutsam schüttelte ich den Schnee von meiner Mütze, deren roter Stoff einmal leuchtend wie ein Rubin gewesen war, nun aber von vielen Weihnachtsnächten erzählte. Die Geschenke in meinem Sack sangen eine zerbrechliche Melodie, als wären sie aus den Träumen schlafender Kinder gewoben.

Vorsichtig öffnete ich eine Schiebetür. Mehlstaub kam mir entgegen und tanzte durch die Luft wie winterlicher Nebel am Fluss, der langsam über Kieselsteine kriecht.

Mitten im Chaos stand sie, ein Wirbelwind in Menschengestalt. Mit Dinkelmehl in ihren braunen Locken, die aussahen, als hätten sie eine eigene Lebensgeschichte zu erzählen, sah sie aus wie eine gepuderter Orang-Utan. Ein Klecks Teig klebte an ihrer Wange, und sie wischte Kuchenkrümel von ihren Brillengläsern, die so dick waren, dass sie an die Fenster alter, geheimnisvoller Bibliotheken erinnerten. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften – eine Geste, die eine unerschütterliche Entschlossenheit verriet, auch wenn ihr Kuchen einem explodierten Vulkan glich.

„Äh… Frohe Weihnachten?“, machte ich mich vorsichtig bemerkbar, meine Stimme so weich wie der erste Schnee des Winters.

Sie wirbelte herum, und ihre Augen, lebhaft und voller Leben wie ein frühlingshafter Wald, weiteten sich. „Oh! Du… aber… ich dachte, du kommst durch den Kamin!“

Ich hob meine buschige Braue, die aussah wie ein gepflegter Tannenzweig, und deutete auf meinen mit Ruß bedeckten Mantel. "Hab’s versucht. Bin steckengeblieben.“ Mein Versuch, den Bauch einzuziehen, wirkte so unbeholfen wie ein Bär, der sich im Ballett versucht.

„Experimentelles Backen?“ bot sie an, das schiefe Lächeln auf ihren Lippen so ansteckend wie Kinderlachen.

Ich lachte ein warmes, tiefes Lachen, das durch den Raum hallte und die frostige Nachtluft für einen Moment zu vertreiben schien. „Sieht eher aus wie ein Experiment in Schwerkraft und Backphysik.“

Sie lachte mit und ihr Lachen klang wie das Plätschern eines fröhlichen Baches. „Willkommen in meiner bescheidenen Backkatastrophe. Kann ich dir etwas anbieten? Vielleicht einen heißen Kakao?“

Ich rieb mir das Kinn, das sich unter einem dichten, weißen Bart verbarg, der an frisch gefallenen Schnee erinnerte. „Nun, bei all dem Zucker und Gewürz … Hast du vielleicht etwas Stärkeres? Etwas, das einem alten Mann hilft, die Kälte zu vergessen und das Feuer im Ofen zu spüren?“

Ihre Augenbrauen, so expressiv wie die Flügel eines Schmetterlings, wanderten nach oben: „Etwas Stärkeres? Ich wusste nicht, dass der Weihnachtsmann einen Schluck benötigt, um durch die kalte Nacht zu kommen.“

Ich zwinkerte ihr verschmitzt zu, ein Zwinkern, das Geschichten von vielen Weihnachtsnächten und geheimen Freuden erzählte. „Oh, glaub mir, nachdem man Millionen von Keksen gegessen hat, braucht man etwas, um den Geschmack zu neutralisieren.“

Sie kramte in einem Schrank, der aussah, als hätte er mehr Geheimnisse als Geschirr und Vorräte. Von ganz hinten zog sie eine Flasche mit einem Etikett hervor, auf dem ‚Rentier-Benzin‘ in verspielter Schrift stand. „Wie wäre es damit? Ein Gebräu, stark genug, um selbst das müdeste Rentier zu beleben.“

Ich lachte, und mein Bauch wackelte wie eine Schüssel voll Gelee, ein Anblick, der unweigerlich an heimelige Weihnachtsabende erinnerte. „Das klingt perfekt. Ein, zwei Schlückchen von dem, und Rudolphs Nase wird nicht das Einzige sein, was heute Nacht leuchtet! Oder drei geht auch.“

Sie goss uns ein, und wir prosteten uns zu. „Auf experimentelles Backen und unerwartete Begegnungen!“

Nach dem dritten Schluck setzte ich eine Grimasse auf, die an das Gesicht eines schelmischen Kobolds erinnerte. „Hui, das bringt die Glöckchen zum Klingen! Jetzt, über diesen Kuchen…“

Sie blickte auf den Kuchen, der mehr einer Mondlandschaft glich, ein Kunstwerk der Zerstörung und Kreativität. „Ich fürchte, das einzige Geschenk, das dieser Kuchen bietet, ist eine Lektion in Demut.“

Ich grinste, ein Grinsen so breit wie der Horizont an einem klaren Wintertag. „Perfekt. Ich nehme ihn. Frohe Weihnachten! Oh, und bevor ich es vergesse…“

Ich griff in meinen Sack, der so tief und geheimnisvoll war wie die Weiten des Nordpols, und zog ein kleines Paket heraus. Es war ungeschickt verpackt, mit mehr Klebeband als Geschenkpapier, ein Zeugnis menschlicher Unvollkommenheit. „Das ist für dich. Ich hoffe, du magst Überraschungen.“

Erfreut nahm sie das Paket entgegen. Ihre Hände, die von Leben und Arbeit mehr erzählten als jedes Wort. „Was könnte es sein? Ein weiteres Backexperiment?“

Mit einem Schmunzeln, das das Geheimnis der Nacht in sich trug, riss sie das Papier auf und zum Vorschein kam ein Kochbuch mit dem Titel „Backen für Dummies: Der ultimative Leitfaden zum Vermeiden von Küchenkatastrophen“.

Ich lachte, ein Lachen, das die Wärme und Freude der Weihnacht in sich trug. „Ich dachte, das könnte nützlich sein. Fürs nächste Weihnachten, weißt du?“

Sie rollte mit den Augen, ein Ausdruck spielerischer Resignation, aber ihr Lachen füllte den Raum hell und herzlich. „Danke, ich werde es vielleicht in Betracht ziehen.“

Mit einem Zwinkern und einem Nicken verschwand ich, den unglücklichen Kuchen und das Restgefühl des ‚Rentier-Benzins‘ unter dem Arm, und murmelte: „Nächstes Jahr probiere ich es mit dem Fenster. Und vielleicht einem Kochkurs als Geschenk?“

Martas schlaf

»Da hol mich doch der Teufel«, hechel ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Der Nikolaus?«
Der Mann, der in meinem Wohnzimmer steht, wirkt ertappt, doch nach nur einer Sekunde fängt er sich. Er dreht seinen pelzbesetzten Kopf in meine Richtung.
»Nikola-us«, fährt er mich an. »Nikola-us. Nicht Niko-laus. So wie Brutus oder Antonius. Ich bin doch kein Phthiraptera.« Seine Augen verraten echtes Entsetzen. »Was machst du eigentlich hier?« Seiner Hand zeichnet einen Halbkreis in den dunklen Raum. »Du solltest längst schlafen.«
Was ich seit langen nicht mehr kann. Seit Martas Unfall, seitdem sie im Koma liegt. Ich reibe mir die geschwollenen Augen.
»Ich will das nicht«, behaupte ich und zeige in die Ecke, in der ich die Weihnachtsnordmanntanne aufgestellt hatte. »Ich will das alles nicht.«
»Wie«, entgegnete der Fremde, »was willst du nicht?«
»Ich will keine Geschenke, ich will nur allein sein. Ich will«, wiederhole ich und zeige mit meinem Zeigefinger auf seine Brust, »will verdammt noch mal alleine sein. Ich brauche das nicht. Wer zum Teufel hat dich hier reingeschickt? Meine Eltern? Klaus?«
Jetzt sah er gekränkt aus. »Ich verstehe.« Er kniete sich, sammelte ein paar Kartons vom Boden auf und steckte sie in seinen Beutel. Dann sah er mich wieder an. »Nur eines noch«, flüsterte er nun. Seine Hand näherte sich langsam meiner Brust, dann fühlte ich die Wärme seiner Finger, als er sie auf mein Herz legte. »Vergiss nie, was Liebe ist. Vergiss nie, was Hoffnung ist.«
Als ich blinzelte, war er verschwunden. Ein Post-it viel vor meine Füße, auf dem mit einem blauen Edding eine Telefonnummer geschrieben war.
Gerade im Moment, als ich anrufen wollte, klingelte mein Handy: »Schwester Nadia, Johanneshospital. Sie sollten nur wissen: Sie ist aufgewacht. Marta ist aufgewacht.«
Die Wärme, die seine Finger auf meiner Brust hinterlassen hatte, brannte wie flüssiges Gold auf meiner Haut. Ich ließ das Post-it fallen. »Danke«, flüsterte ich.
»Was?«, drang es aus dem Telefon.
»Nichts«, erwiderte ich. »Ich komme. Sagen sie ihr, dass ich komme. Und: Schöne Weihnachten.«

… wie Schnee so rot wie Blut so schwarz …

„Wer hat ihn gefunden?“

Becker blätterte in seinem Notizblock. „Eine Frau Peters, wohnt im Nachbarhaus. Vorläufig nicht vernehmungsfähig, redet nur wirres Zeug. Schwerer Schock, sagt der Notarzt. Sie ist gerade auf dem Weg in die Notfallpsychiatrie, aber ich konnte zwei andere Nachbarn befragen. Ziemlich klarer Fall, Chef!“

Traude rief die SMS auf, die Friedrich ihr vor drei Tagen geschickt hatte: „Sexter Dezember, sex Uhr am Gartenhaus! Und sei pünktlich, böses Mädchen!“

Ihr Blick glitt zur Zeitanzeige: Noch zwei Minuten. Sie sah auf. Drüben leuchtete es matt rot. Trotz der abendlichen Dunkelheit war die wohlvertraute Gestalt über die winterlich stille Fläche hinweg zu sehen.

Traude mochte Friedrichs Wortspiele. Gerade dass er als Mann von Bildung so herrlich … Sie sahen sich nicht allzu oft, vor allem, um ihren Mann nicht misstrauisch zu machen, dafür jedoch um so intensiver. Letzte Ostern hatte Friedrich ihr als nackter Rammler aufgelauert, in den Rheinauen. Was er dort mit zwei Körben roher Eier auf ihrem Körper zelebriert hatte … Prompt spürte Traude ihren Bauch flattern und atmete schwerer. Ob er diesmal vielleicht seine Rute … ?

Sie seufzte. So ein Oberstudienrat, Altphilologe zumal, schöpft eben aus reicher Bildung, ganz anders als Rudolf. Nach 20 Ehejahren reichte dessen Fantasie gerade aus, wie ein Eber zu grunzen, wenn er genug hatte. Zum Glück war er, wie jedes Jahr um diese Zeit, in den Spessart verschwunden – zusammen mit zwei Fass Bier und seinen Ballerbrüdern. „Auf Säue“, wie er es nannte.

Traude wischte den Gedanken ebenso schnell beiseite wie er gekommen war. Erwartungsvoll strich sie sich über die Hüften und ging mit wiegenden Schritten auf den stilvollen Rundbau aus Bambus zu.

„Huhu!“ Sie winkte, doch die Gestalt am Gartenhaus machte keinerlei Anstalten zu reagieren. Nur der stilecht über die dunkelrote Brust wallende Bart leuchtete ebenso weiß wie der schneestille Garten ringsum.

‚Ah,‘ dachte Traude erwartungsfroh, ‚ich soll …‘ Das konnte er haben. Sie erschauerte und wiegte ihre Hüften, kuschelig warm im grausilbernen Chincillapelz über die von jungfräulichem Schnee bedeckte Rasenfläche auf das Gartenhaus zu.

„Was Können sie mir schon sagen?“

Hauptkommisar Meinrich sah interessiert zu, wie der Forensiker mit einem Schraubenzieher und einer Zange sorgfältig Tackerklammer um Tackerklammer aus dem Opfer und den Wandpaneelen des Gartenhauses löste.

„Für den genauen Zeitpunkt brauche ich noch, das geht zuverlässiger im Labor. Aber sonst? Waidmännisch ausgeschwartet, ganz klar. Wenn Sie mich fragen, ich tippe auf jemanden mit reichlich Jagderfahrung und null Skrupeln.“

Meinrichs Gedanken bewegten sich zielsicher durch das mehr als durchsichtige Soziogramm dieses Falls und erlaubte sich die Hoffnung, heute vielleicht doch noch vor Mitternacht Feierabend machen zu können.

An der Grundstückseinfahrt hielt ein Taxi. Heftige Wortwechsel klangen herüber, dann hastete ein hochgewachsener Mann im eleganten Burberry-Mantel über die mittlerweile ziemlich zertrampelte Schneedecke auf sie zu. Dichtauf Becker, der vergeblich versuchte, den Neuankömmling zu bremsen.

„Was ist denn hier …?“

Dann sah der Mann im Burberry-Mantel die Bescherung an der Gartenhauswand, drehte sich weg und begann zu würgen.

„Das ist der Besitzer, Chef, Oberstudiendirektor Friedrich Hirsemann“. Becker war etwas außer Puste, aber mit einem Blick auf den immer noch würgenden Hausbesitzer fuhr er in dem knappen Telegrammstil fort, der ihn für seinen Chef so wertvoll machte: „Mit Motorschaden in der Pampa liegengeblieben, sagt er, und smartphone-Akku leer. Als erstes fragte er, ob wir seine Nachbarin gesehen hätten.“

„Hm …“ Meinrich dachte kurz nach. „Bringen Sie ihn zu ihr ins Krankenhaus,“ sagte er. „Dann kriegen Sie raus, wo dieses Jagdhaus liegt. Nehmen Sie Verstärkung mit.“ Er drehte sich wieder zum Forensiker, der den halbgeschälten Torso unbeirrt Klammer um Klammer vom Bambuspaneel enttackerte,

„… aber wer um alles in der Welt ist dann das hier?“

Das Schreibblockaden-Wunder

Eine aller letzte Chance. Die letzte. Ich musste mich bemühen. Ich musste diese Kurzgeschichte schreiben. Es würde mir die Welt bedeuten, eines dieser Autorenprogramme zu gewinnen. Doch ich war mitten in einer Schreibblockade. Nichts Sinnvolles wollte geschrieben werden. Ich begann mit verschiedenen Worten und wusste nicht, welches Wort folgen sollte. Ich hatte alles versucht. Schlaf, Musik, Kakao. Nichts wollte funktionieren. Ich konnte einfach nur auf meinen leeren Bildschirm sehen.
Mittlerweile war es dunkel. Dicke Schneeflocken rieselten zu Boden. Eingekuschelt in einer Decke und einer Tasse Tee in der Hand saß ich an meinem Schreibtisch. So hatte ich seit Stunden bereits verharrt. Es musste doch irgendetwas aus meinem Kopf kommen. Irgendeine geniale Idee. Irgendetwas, was der Leser besonders lustig oder kreativ finden würde. Es funktionierte nicht. Meine Kreativität war wohl bereits in die Weihnachtsferien übergegangen. Ich seufzte. In dem Moment rauschte es. Ich drehte mich um. Schwarzer Ruß staubte aus meinem Kamin, dann knallte es. Ich hustete gegen die dicke Wolke an. War mein Schornstein kaputt? Doch ich hustete nicht alleine. Geschockt hielt ich den Atem an. Ein Einbrecher? Schnell schaltete ich meinen Bildschirm aus und losch das Licht. Ich kauerte mich unter meinen Schreibtisch, bewaffnet mit meiner heißen Teetasse.
»So eine verfluchte Scheiße« hörte ich es murmeln: »So einen dreckigen Kamin habe ich in meinem ganzen, ewigen Leben noch nicht gesehen!«
Ich hörte, wie der Fremde in den Raum trat. Er machte ein paar Schritte, dann blieb er stehen. Mein Herz pochte. Es schlug wie wild und wollte sich nicht beruhigen.
»Was ist das denn?« wunderte sich der fremde Mann. Es raschelte, dann erhellte er den Raum mit seinem Feuerzeug: »Keine Milch, kein Keks? Da habe ich die Amerikaner doch lieber!«
Das Adrenalin pumpte in mir. Ich war panisch. Da stand ein Fremder in meinem Wohnzimmer, drei Meter von mir entfernt! Was sollte ich tun? Entschlossen schob ich den Stuhl zur Seite und sprang hervor. Der Mann schrie auf, ich schrie ebenfalls und überkippte ihn mit meinem Tee. Der Mann schrie noch lauter, das Feuerzeug erlosch. Ich schaltete das Licht an und nahm mir mein Handy.
»Bleiben Sie, wo Sie sind, sonst rufe ich die-« ich stockte. Und starrte den Mann an.
»Ich bin kein Dieb!« rechtfertigte sich der Mann und richtete seine rote Mütze. Irritiert ging ich auf ihn zu und zog an seinem weißen Bart. Der Mann schrie: »Hör auf!«
Er trat ein paar Schritte zurück: »So ein schlecht dekoriertes Haus habe ich abseits von Berlin nicht mehr gesehen!«
»Wer sind Sie?!« forderte ich zu wissen.
»Der Weihnachtsmann. Aber da du hier keinen Baum hast, werde ich wieder gehen« er drehte sich um und wandte sich dem Kamin zu: »Den solltest du bis nächstes Jahr dringend putzen!«
Mir ratterte der Kopf, dann sprang ich ihm eilig in den Weg: »Du bist der Weihnachtsmann?«
»Ja?«
»Dann könnte ich deine Hilfe gebrauchen …«

Der Weihnachtsmann und die Truhe

«Verdammt, ich hasse diese neumodischen Edelstahlkamine und Öfen mit einer Glastür davor. Äh, ich meine natürlich hoho!»

Der Weihnachtsmann richtete sich auf und sah sich in dem Wohnzimmer des noblen Einfamilienhauses um. Er bückte sich und zog den winzigen Sack aus dem Ofen. Der Sack wies keine Brandspuren auf und schwoll zu beeindruckender Größe an. Es hatte Vorteile, der Weihnachtsmann zu sein. Er beugte sich vor, um Geschenke aus den Tiefen zu fischen, als die Tür aufschwang und ihn im Rücken traf.

Ein mittelalter, schlanker Mann zog eine gewaltige Holztruhe ins Wohnzimmer.

«He! Wer zum Teufel sind Sie? Wie haben Sie die Alarmanlage überwunden?» Mit diesen Worten näherte er sich langsam dem Schreibtisch und zog eine große Automatikpistole aus der Schublade.

«Ich bin der Weihnachtsmann. Sie wissen schon, der mit den Rentieren, dem Hoho und den Geschenken.»

«Klar, tolle Tarnung für einen Einbrecher. Was haben Sie schon gestohlen?»

«Nichts, ich wollte gerade etwas dazulegen.»

«Ja, ja. Und gleich erzählen Sie mir, sie haben eine einhundertjährige Ausbildung am Nordpol hinter sich, oder wie man sonst zu dem Job kommt.» Der Hausbesitzer angelt mit der Linken nach einem Telefon.

«Nein, eigentlich wollte ich nur Weihnachtsabend zu meiner Liebsten und bin ziemlich schnell gefahren. Aber das gehört jetzt nicht hierher. Ich kann beweisen, dass ich der Echte bin.»

«Wie?»

«Nun, ich kann zum Beispiel durch die Verpackung der Pakete den Inhalt erkennen. Nützlich, um Geschenke nicht zu verwechseln. Also da in der großen Truhe liegen Frauenkleider, Schuhe, ein Handtuch und eine Statue. Und … äh … eine … Frau … und die Staue ist blutverschmiert, äh …»

«Du hast durch das Fenster geschaut, was? Eigentlich wollte die Polizei anrufen. Na ja, jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an.»

Mit einem sauberen Schuss zwischen die Augen erledigte der Hausbesitzer den Weihnachtsmann.

Es war alles vorbereitet. Die Plane im Kofferraum des SUV, das Versteck der Leiche, das Alibi. Ein weiterer Körper würde mehr Aufwand bedeuten, aber bevor er die Firma bei einer Scheidung teilte, ging er lieber das Risiko ein. Doch auf den Schreck schenkte er sich erst einmal einen Drink ein.

«Und wenn die Kinder dann keinen Weihnachtsmann mehr haben, müssen sie eben mehr auf dem Handy spielen. Prost.»

Der tote Weihnachtsmann verschwamm vor seinen Augen. Es war keine gute Idee, unter Stress zu trinken. Hatte er ihn nicht mitten in der Stirn erwischt? Wieso war das Einschussloch nun an der Schläfe? Seltsam, er kratze sich seinen Bart. Die Pistole hatte er doch beim Einschenken auf den Schreibtisch gelegt, wieso hatte der Kerl sie in der Hand?

Er wischte die Blutstropfen von den blankpolierten Stiefeln, rückte die Mütze gerade und schnappte sich den Sack. Auf der Terrasse wartete Rudolf. Die Nase leuchtete in einem aggressiven Rot auf, als das Leittier des Schlittens spottete:

«Der Vorgänger war ein betrunkener Autofahrer und nun ein schießwütiger Mörder. Es geht wirklich abwärts. Aber los, Alter, wir haben eine lange Liste.»

Der Mann startete einen letzten, verzweifelten Versuch:

«Und wenn ich nicht will?»

«Knecht Ruprecht hat schon ganz andere Kaliber überzeugt. Er besitzt mehr Werkzeug als dieses lächerliche Reisigbündel. Es wird immer einen Weihnachtsmann geben. Und nun übe: Hoho!»

Tierärztlicher Notdienst

„Was machen Sie in meinem Schlafzimmer?“ Ich springe aus meinem Bett. Ein Typ in schwarzen Stiefeln und roten Klamotten mit weißem Bart und Brille starrt mich an. Keine Ahnung, wie lange schon, aber er hält einen leeren Jutesack in der Hand. Der wollte mich eben bestimmt ersticken. Heilige Scheiße. Gott sei Dank bin ich wach geworden. Ich muss die Polizei rufen.

„Wonach sieht’s denn aus?“ Er kratzt sich am Bart, als wäre es das Normalste der Welt, vor meinem Bett zu stehen.

„Sofort raus hier. Sie haben wohl den Knall nicht gehört. Ich rufe die Polizei.“ Ich greife nach meiner Nachttischlampe, bereit ihm das Ding zwischen die Augen zu donnern.

„Silvio, beruhige dich.“ Seine Stimme klingt weich. Weich wie eine warme Wolldecke, die mich ummantelt. „Ich bin es doch. Kannst du dich nicht an mich erinnern?“

Nein, um ehrlich zu sein, kann ich das nicht. Der Weihnachtsmann wird er ja wohl kaum sein. Aber er kennt meinen Namen. Das wundert mich. An dem Schild an meiner Einfahrt steht lediglich Tierarztpraxis Callsen. Woher also weiß er…

„Damals, als du dir die Carrera-Bahn gewünscht und dann endlich zu deinem achten Weihnachtsfest bekommen hast, weißt du das gar nicht mehr?“ Er tippt sich auf den Nasensteg seiner Brille.

„Doch, klar… Das war richtig cool.“ Ich stutze. Woher… Nur meine Eltern wissen davon.

„Du, aber warum ich hier bin…“ Er greift nach meiner Hand. „Rudolfs Nase ist entzündet. Sie leuchtet nicht mehr und hat schwarze Flecken. Du bist doch Tierarzt. Du musst uns helfen.“ Er zeigt nach draußen in meinen Garten.

Schwarze Flecken… Das klingt nach… „Warte kurz, ich komme sofort.“ Ich steige in meine Schlappen, werfe mir eine Fleece-Jacke über und renne in den Flur. Der Weihnachtsmann folgt mir. Im Vorbeigehen greife ich eine Taschenlampe und meine Tierarzttasche. Rudolf steht mit hängenden Ohren in meinem Garten. Das Heu aus dem Heunetz rührt er nicht an. Er blickt immer wieder zu seinem Bauch.

„Ach herjee.“ Ich krame in meiner Tasche. Irgendwo habe ich doch… ach hier.

„Was hat er?“ Der Weihnachtsmann krault besorgt Rudolfs Ohr.

„Kann es sein, dass er zu viel Schokolade gefressen hat?“ Ich ziehe die Spritze auf. „Er wird Bauchschmerzen haben, ich gebe ihm etwas gegen die Schmerzen und einen Krampflöser.“

„Naja, nicht mehr als sonst. Die Zartbitter hat er letztens nicht angerührt, aber Haselnuss mag er halt einfach total gern.“ Der Weihnachtsmann streichelt mechanisch Rudolfs Hals.

„Santa, so läuft das nicht. In einen Rudolf gehört keine Schokolade.“

Betroffen sieht er zu Boden. „Nicht mal eine Tafel? Er mag sie doch so gern.“

Die schwarzen Flecken auf Rudolfs Nase verschwinden. Er mümmelt Heu.

„Nicht mal eine Tafel. Komm mal im Sommer wieder und mach bei mir ein Praktikum. Dann erkläre ich dir ein paar Basics.“

Der Weihnachtsmann nickt und steckt Rudolf einen Müsli-Riegel zu.
Alte Männer, ey… unmöglich.

Weihnachtszauber

Der alljährliche Wahnsinn hat begonnen.
Mutter backt seit Tagen allerlei Plätzchen, hat das Haus geputzt, überall blinken
Weihnachtliche Lichter. Auf dem Wohnzimmertisch steht ein Adventskranz und
es wurde bereits die vierte Kerze angezündet. Und jedesmal müssen wir das
Gedicht aufsagen. Wir, das ist meine kleine 5 jährige Schwester und ich.
Advent, Advent ein Lichtlein brennt.
Erst eins dann zwei dann drei dann vier dann steht das Christkind vor der Tür.
Ich verdrehe die Augen und in Gedanken füge ich hinzu: und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann haste Weihnachten verpennt. Pah Christkind…oder wie die Eltern sagen der Weihnachtsmann. Den gibt es doch überhaupt nicht.
Das weiß ich. Denn ich bin doch schon 10 Jahre. Da weiß man sowas. Die Geschenke bringt nicht der Weihnachtsmann. Die werden von Mama oder Papa unter den Baum gelegt, wenn wir Kinder schlafen.
Am Abend soll ich Kekse und Milch für den „Geschenkebringer“ hinstellen.
Da platzt es aus mir heraus. Den Weihnachtsmann gibt es nicht. Kekse und
Milch könnt ihr euch doch wohl selber holen.
Der strafende Blick meiner Mutter ließ mich zusammenzucken und sofort fing Ina an zu schreien das es den doch gibt. Ich verzieh mich auf mein Zimmer.
So ein Blödsinn.
Später, es war wohl so gegen Mitternacht wache ich auf. Leise schleich ich die Treppen herunter um zu schauen ob vielleicht schon die Geschenke unterm Baum liegen.
Aber nein. Dann höre ich Schritte aus der Küche. Schnell verstecke ich mich hinter dem Sofa. Diesmal würde ich Papa auf frischer Tat ertappen.
Als ich höre wie leise die Glöckchen am Baum bimmeln springe ich hervor und schreie: „Ertappt!“
Ich reibe mir ungläubig die Augen. Warum verkleidet Papa sich denn wie der Weihnachtsmann? So schnell gebe ich nicht auf. Ich laufe auf ihn zu und greife nach dem langen weißen Bart.
Aber er lässt sich nicht herunterziehen und eine tiefe Stimme sagt.“Aua, was soll das denn? Und was machst du so spät nachts hier? Du hast mich zu Tode erschreckt.“
Ich bin wie erstarrt nicht fähig irgendetwas von mir zu geben. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Es ist eine total unwirkliche und vor allem peinliche Szene. Ich verspüre den Druck meine Blase entleeren zu müssen und mein Hirn schreit laut lauf! Aber meine Beine gehorchen nicht. Kleine Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn.
Dann spricht der, …ja wer…der…Weihnachtsmann?, mich an.
„Jonas, was machst du so spät noch hier? Solltest Du nicht längst schlafen?“
„Woher kennen sie meinen Namen?“ Stottere ich leise.
„Ich kenne alle Kinder mit Namen und ich weiß das du den Glauben an mich verloren
hast. Auch habe ich vermerkt das du das vergangene Jahr nicht wirklich ein lieber Junge warst. Dein Fleiß in der Schule lässt auch zu wünschen übrig. Einen Brief zu mir an den Nordpol hast du auch nicht geschickt. Das ist freilich nicht schön.“ Bekümmert schüttelt der Weißhaarige im roten Anzug den Kopf.
„Husch, Jonas ab ins Bett. Ich werde mir überlegen ob ich dir etwas unter den Baum lege.“
Wie ferngesteuert setzte ich einen Fuß vor den anderen, die Treppe hinauf in mein Zimmer. Dann schlüpfe ich ins Bett und ziehe schnell die Decke über meinen Kopf. Das muss ein Albtraum sein. Ich kneife mich in die Hand. „Aua.“ Kein Traum.
Verzweiflung ergreift mich. Bin ich verrückt? Oder habe ich das grade eben wirklich erlebt. Ich war mir doch so sicher das es den Weihnachtsmann nicht gibt. Und nun das. Das werde ich keinem erzählen. Sonst lachen mich doch alle aus.
Bekomme ich jetzt keine Geschenke?
Schnell knipse ich meine Nachttischlampe an. Hole das Buch mit Weihnachtsgedichten aus dem Regal und schlage es auf. Ich werde das längste und schönste Gedicht auswendig lernen und morgen, am heiligen Abend aufsagen.

Von Wünschen und Wundern

Liebes Kristkind,
heute hat Ria in der Schule gesagt das es dich garnicht gibt. Das hat mich ser traurig gemacht. Ich weis nicht warum sie das gesagt hat. Ich glaub ihr nicht. Ich seh ja immer im Wonzimmer das du da bist. Dann leuchtet das Licht durch die Scheibe von der Tür. Ich freu mich auf dich und ich schreib dir meinen Wunschzettel so wie jedes Jahr.

Mit einem melancholischen Lächeln lege ich das mit der Kinderhand beschriebene Blatt zur Seite.

Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Wie ungläubig ich meine Klassenkameradin angeschaut habe, damals. Wie ungeheuerlich ich das empfand, was sie da so lauthals verkündete. „Es gibt kein Christkind, das ist alles gelogen.“
Erstklässler waren wir, am Ende des ersten Schuljahres. Diejenigen, die ältere Geschwister hatten, stimmten Ria zu. Ihnen war die Magie schon genommen worden, jüngere Geschwister altern eben schneller.
Die Pausenklingel schrillte und wir gingen zurück ins Klassenzimmer. Die 3. Stunde, Lesen und Schreiben mit Lehrer Friedrich. Mein Lieblingslehrer und normalerweise war ich begeistert bei der Sache. Aber an diesem Tag war ich total abwesend. Ich dachte nach. Über das, was Ria gesagt hatte. Das konnte doch nicht sein, oder? Mutter, Vater, Omas und Opas waren einer Meinung: das Christkind ist echt, genauso wie der Osterhase. Bisher hatte ich nie einen Grund gehabt, daran zu zweifeln. „Anni?“ Ich schreckte aus meinen Gedanken. Lehrer Friedrich stand vor meinem Platz und sah mich mit schief gelegtem Kopf an. „Anni,“ wiederholte er meinen Namen. „du hast ja garnichts geschrieben. Fällt dir kein Wunsch an das Christkind ein?“
„Äh. Wie?“ Ich hatte nichtmal die Aufgabe mitbekommen. Zu tief war ich in meinen Gedanken. Er legte mir die Hand auf die Schulter. „Ist gut. Bleib bitte nach der Stunde noch einen Moment hier, ja?“ Ich nickte.
Die Stunde war um, alle lachten, riefen, rauften, rannten aus dem Raum. Ich blieb sitzen. Lehrer Friedrich kam zu meinem Platz, setzte sich auf den kleinen Stuhl neben mir. „Anni, was ist denn los? Bedrückt dich etwas?“ Ich hörte seine warme Stimme und plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen. Ich erzählte ihm, was Ria behauptet hatte und wie sehr mich das beschäftigte. Ruhig hörte er zu und dann nickte er bedächtig.
„Weißt du,“ sagte er endlich, „das habe ich selbst auch erlebt. Mein großer Bruder hat das damals behauptet. Ich war ganz verwirrt und wusste einfach nicht mehr, was ich glauben sollte.“
Gebannt schaute ich ihn an. „Und, was hast du dann gemacht?“ Ich wollte unbedingt, dass er mir half, dieses Problem zu lösen. Er beugte sich etwas näher zu mir und flüsterte: „Ich habe meine Oma gefragt. Sie war der klügste Mensch, den du dir vorstellen kannst. Sie hatte sogar mal mit dem Nikolaus gesprochen. Und sie sagte mir: wenn du heute nach Hause gehst, sieh genau hin. Wenn du diese drei Dinge findest, ist das der Beweis, den du brauchst. Findest du sie, ist das Christkind Wirklichkeit. Findest du sie nicht, ist es ein Märchen.“ Mit offenem Mund hörte ich zu.
„Also, Annie. Wenn du nachher nach Hause gehst, dann achte genau darauf, was auf deinem Weg liegt. Als erstes muss es ein Tannenzapfen sein. Dann wird dir ein Schneckenhaus auffallen. Und als letztes, das ist das schwerste, wird dir eine blühende Blume am Wegesrand auffallen.“
Bei seinen letzten Worten fiel meine Hoffnung wieder zu nichts zusammen. Eine blühende Blume, mitten im Winter. Wo sollte man die denn finden. Enttäuscht sah ich ihn an. Er aber nickte mir zu und sagte: „So ist das mit Wundern. Es gibt sie, oder es gibt sie nicht.“ Und dabei lächelte er mir aufmunternd zu.

Die nächsten zwei Stunden konnte ich kaum abwarten. Ich dachte nur an das, was ich unbedingt finden wollte und überlegte, welchen Heimweg ich am besten nehmen sollte. Wo wäre die Chance am größten, diese drei Dinge zu finden? Mit dem Klingeln fiel die Entscheidung. Der obere Waldweg sollte es sein. Ich rannte so schnell ich konnte aus der Klasse, keine Grüße, kein Tschüss, ich rannte einfach nur los.
Der Tannenzapfen war schnell gefunden, direkt vor der Schule lagen jede Menge davon herum. Sehr gut. Auch das Schneckenhaus war kein Problem. Wie erwartet war in den Weinbergen ein Überangebot vorhanden. Aber die blühende Blume. Wo sollte ich die herbekommen.
Langsam ging ich über den oberen Steig am Waldrand entlang. Rechts den Wald, links die Weinberge, darunter das Dorf.
Ich blieb stehen, lauschte, sah mich um. Das Licht wurde flüssig, leise setzte Schneefall ein, und alles wirkte irgendwie unwirklich. Ich folgte dem letzten Sonnenstrahl mit den Augen und sah am Waldrand etwas Weißes leuchten. Ich ging darauf zu und starrte ungläubig auf die kleine weiße Blume, die da unbekümmert blühte. Langsam ging ich in die Hocke, streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Konnte das sein? War die wirklich echt?
Ich pflückte die Blüte, schloss die Augen und dachte an die Großmutter meines Lehrers. Es war also wahr. Es gab das Christkind wirklich.
Mit frohem Herzen lief ich nach Hause. Zum ersten Mal an diesem Tag glücklich und mit meiner Welt zufrieden.
Ich öffnete stürmisch die Haustür, rief laut: „War das Christkind schon hier? Habt ihr es gesehen?“

Mein Vater kam mir entgegen. Warum war er schon zuhause? Er machte ein ungewohnt ernstes Gesicht und seine Augen glänzten seltsam. Er ging vor mir in die Knie, nahm mich in die Arme und sagte kaum hörbar in mein Haar: „Anni. Ja, das Christkind war hier. Es hat deine Mama gebeten, zu ihm in den Himmel zu kommen. Du musst dich jetzt von ihr verabschieden.“ Ich verstand nicht. Er schob mich in das Wohnzimmer, wo meine Mutter auf dem Sofa lag. Sie schlief offenbar.
Leicht fühlte ich Papas Hand in meinem Rücken, als er mich vorwärts schob. Ohne jegliches Verständnis blickte ich zwischen ihm und ihr hin und her. Was sollte das? Warum schlief Mama jetzt? Warum sollte ich mich von ihr verabschieden? Wo war das Christkind, wenn es sie mitnehmen wollte? Ich ging zum Sofa, legte meiner Mutter die Christrose in die Hand und lief.
Ich lief, lief, lief, immer weiter, immer schneller, bis ich völlig außer Atem vor dem Haus von Lehrer Friedrich stand. Ich klingelte. Er würde es mir sicher erklären können.

Auf Beutezug

Monatelang hatte ich mich auf diesen Tag vorbereitet. Diesen eisigen Dezembertag, um Mitternacht. Die alte Villa mit den feinen weißen Marmorsäulen war nur auf den ersten Blick ein freundliches Zuhause. Schaute man wie ich durch ein Nachtsichtgerät, sah man die harten Linien der Infrarotlaser, die systematisch den Vorgarten nach Eindringlingen absuchten.
Rasch huschte ich über die frischgrüne Wiese. Schwarz gekleidet, von Schatten zu Schatten einiger Ziersträucher. Schnell unter einer Kamera wegducken! Mein Atem hinterließ kleine weiße Wolken vor Anstrengung.
Der Tresor war nicht mehr weit.

Was war das? Im Augenwinkel sah ich eine Gestalt huschen. Unsichtbar wie ich, befand sie sich offenbar auf dem Dach des Gebäudes. Groß, rundlich und schon wieder hinter einem Schornstein verschwunden.
Das konnte doch nicht wahr sein!
War noch jemand auf die Idee gekommen, zu Weihnachten diese Diamanten zu stehlen? Wie war sie nur auf das Dach gelangt? Egal, ich musste weiter!
Kurz rief ich mir den Bauplan vor Augen, wie dieser in meinem Versteck mit Kaffeeflecken auf den großen Glastisch stand. Tagelang hatte ich mit meiner schwer kranken Freundin den Bauplan studiert, wie in der geheimen Hoffnung, weitere Türen und Gänge zu entdecken. Wir brauchten das Geld. Für ihre Therapie, für mich als Beruhigung.
Dieser Fremde suchte sich offenbar Zugang über ein Dachfenster. Es gab keinen anderen Weg. Das würde allerdings etwas dauern.
Meine Stoppuhr piepste. Alles war geplant. Ich musste weiter, wollte ich die Kamera-Schwenks richtig ausnutzen.
Ich könnte es noch schaffen, denn der Tresor stand im Erdgeschoss. Witzigerweise hinter einem Concorde Gemälde im Wohnzimmer.

Mit einem kratzenden Laut schnitt der Glasschneider einen Moment später das Kellerfenster ein. Aus meinem Rucksack nahm ich einen akkubetriebenen Moniereisenschneider. Ein monströses Gerät, dass mühelos die zwei Zentimeter dicken Gitterstangen durchzwickte. Es knackte mehrmals unangenehm laut, doch in der Villa blieb es still. Kein Licht ging an. Sehr gut!
Ich ließ das Gerät fallen - zu schwer - und ich brauchte den Platz im Rucksack für meine Beute.
Im Keller gab es Wein in alten Fässern. Natürlich. Und von der oberen Etage kam ein sachter Geruch nach Buttergebäck und Karamell. Ich drückte mich an die Wand und eilte die Stufen hinauf.

Ich folgte dem Geruch und befand mich schließlich in der Küche. Gedankenlos landete ein unglaublich leckeres Butterplätzchen in meinen Mund, während ich mit leisen Schritten zum Wohnzimmer schlich. Von oben erreichte mich das Knarzen einer Tür und schwere Schritte auf hölzerne Dielen waren zu hören.
Wer immer dieser Typ da oben war, er war gewiss keine grazile Elfe.
Im Wohnzimmer fand ich nicht nur historische Möbel im verschnörkelten Jugendstil, sondern auch den epischsten Weihnachtsbaum, den ich jemals erblickt hatte. Sicherlich drei Meter hoch. Ein großer Stern als Spitze, kupferfarbene Kugeln. Lametta in der Varianz des Regenbogens und grazile Glasengelchen an den Zweigen.
Ich erinnerte mich daran, dass die Bewohner der Villa vier Töchter hatten. Tat mir fast leid, für das, was ich nun vorhatte.

Aus meinem Rucksack nahm ich das zweite sperrige Gerät. Die Sauerstofflanze in Kleinformat. Ich hatte genug Gas für einige Minuten Betrieb dabei. Also los.
Achtlos warf ich das Gemälde von der Wand, und lächelte, als ich das feine Silberblau des Tresors erblickte. Dieser Bautyp hatte vier Verriegelungen, die ich durch die Wand durchtrennen konnte. Musste!
Keine Zeit verlieren.
„Hopala“, hörte ich von oberhalb der Treppe. Der störende Andere war nur noch wenige Momente entfernt. Dieser dicke Typ zog, dem Schleifen nach zu urteilen, einen Sack mit sich. Hatte er bereits Diebesgut eingesackt? Vielleicht verschwand er ja, ohne das ganze Haus aufzuwecken.
Grellweißes Licht durchbrach das Schummrige. Die Sauferstofflanze tat sich schwer. Dunkelrot – orange – gülden: Endlich schmolz die Tresorwand an der Stelle, wo ich die Bolzen durchtrennen wollte. Aber vermaledeit! Das Gas war schon jetzt nach drei Bolzen aufgebraucht. Ein einzelner, mistiger, oller, verfluchter Drecksbolzen fehlte zu meinem Sieg!

Rumpelnd – Stufe für Stufe – rummste etwas hinter mir die Stufen herab. Ich drehte mich auf der Stelle um.
Ein Typ, der aussah wie der Weihnachtsmann, blickte mir entgegen.
„Euer Ernst?!“, rief ich ihm zu. „Das Zimmer ist schon besetzt. Kollege!“
„Oha?“, rief mir der Weihnachtsmann brummbärtig zu. „Kollege?“
Dann begann er tatsächlich Geschenke aus seinem schweren Sack zu holen. Geschenke! Blau mit roten Band, Grün mit gelben Band, kariert, mit Herzchen, mit Engelchen, mit Weihnachtselfen.
„Sag mal, willst du mich hier veralbern?“, fragte ich ihm offen ins Gesicht.
„Hohoho!“, rief er mir zu. „Keine Bange.“
„Bange?“
„Dein Herz ist voller Sorge! Aber hoho! Ich habe auch etwas für dich…“
Wachsam verfolgte ich jeden seiner Bewegungen, bereit loszuschlagen. Doch dann gab mir dieser freundliche, rundliche Mann eine Gaskartusche – mit roter Schleife.
„Woher wusstest du…?“
„Aber Tim“, meinte er großväterlich. „Ich bin doch der Weihnachtsmann…“
Damit klopfte er mir auf die Schulter, und wies zum Tresor.
„Nun aber beeilen! Ich glaube, ich habe den stillen Alarm ausgelöst!“
Der Weihnachtsmann verschwand im Halbdunkeln der Küche und ließ mich verdattert zurück.

Zimt.

Das Feuer knistert im Kamin, während der Glühwein seine Wirkung entfaltet hat. Ich konnte endlich alle Hemmungen und gesellschaftlichen Zwänge ablegen. Er war hier bei mir an diesem wunderbaren Abend. Wir hatten gut gegessen, über verschiedenste Themen gesprochen und uns gemütlich auf meinem großen, schönen Ledersofa vor dem Kaminfeuer niedergelassen.

Irgendwann, zwischen Glühwein und peinlich langen Pausen in unseren Gesprächen, wagte er den ersten Schritt. Zunächst küsste er mich zaghaft, nahm mein Gesicht in seine warmen Hände und erkundete meine Seele durch meine Augen. Der erste Kuss war vorsichtig, als ob er seine Grenzen ausloten wollte. Grenzen wollte ich ohnehin nie setzen. Ich wusste, was ein Abend zu zweit mit gutem Essen, Kaminfeuer und Punsch mit sich brachte. Endlich wieder Sex, der mir guttun würde und den ich nach zwei Jahren dringend brauchte. Das Gefühl, einen Körper mit all seinen Empfindungen wieder zu spüren.

Nach dem anfänglich vorsichtigen Kuss hatten wir uns beide in eine andere Welt begeben, eine Welt, die alles andere ausblendete und uns unseren Alltag vergessen ließ. Ich zog ihm seinen Pullover über den Kopf und hielt einen Moment inne, um seinen Körper zu bewundern. Er war nicht durchtrainiert wie auf den sexy Kalendern, sondern schlank und geschmeidig. Seine Haut roch nach Frische und einem Parfüm, das eine Zimtnote verriet. Ich liebe Zimt, kein Strudel könnte ohne Zimt auskommen, und ein Chai Latte ohne Zimt ist auch kein richtiger Chai.

Nun lagen wir aufeinander, küssten uns und streichelten unsere Haut. Wir verloren uns ineinander. Die Ekstase steuerte auf den nächsten Schritt, genauer gesagt das nächste Entkleiden, zu. Plötzlich gab es einen Krach im Kamin. Wir hielten inne und wurden aus unserer ekstatischen Welt gerissen. Mit Entsetzen sahen wir, wie ein Mann in Weihnachtsmannkostüm im Feuer unseres Kamins landete. Ich sprang auf und suchte schnell etwas, um mich zu bedecken - ein kleines Zierpolster musste reichen. Der Eindringling kroch auf allen Vieren aus dem Kamin, stand auf und klopfte den Ruß von seiner Kleidung ab, noch ahnungslos, dass er nicht alleine im Raum war. Er zauberte einen riesigen Sack aus dem Kamin, schüttelte ihn und drehte sich in unsere Richtung. Sein Blick war starr auf uns gerichtet, sein Mund, der fast vom weißen Bart verdeckt wurde, stand halb offen. Diese Gestalt erstarrte und hielt inne. Wir tauschten Blicke aus, mein Zimtmann und ich. Alles war still im Raum, bis ein leises, verhaltenes „Ho Ho Ho“ aus dem Mund des alten Mannes die Stille durchbrach.

Der Gast am Heiligen Abend
Es war der Nachmittag des 24. Dezembers, und unser Haus glich einem fröhlichen, wenn auch leicht chaotischen, Weihnachtswunderland. Überall hingen glitzernde Dekorationen, die so aussahen, als hätten sie einen kleinen Krieg mit dem Lametta überlebt. Der Weihnachtsbaum stand majestätisch, wenn auch etwas schief im Wohnzimmer – ein stiller Tribut an unseren familiären Hang zur „Perfektion“. Nachdem wir den letzten Schmuck angebracht hatten – einen Engel, der aussah, als hätte er zu tief ins Glühweinfass geschaut –, zog ich mich für eine Pause zurück.

Mit einer Tasse Tee, die verdächtig nach etwas Stärkerem roch und einem Buch, das ich schon dreimal gelesen hatte, ließ ich mich in meinen Sessel fallen, der mit jedem Weihnachten mehr a Form verlor. Ich versuchte, mich in die Welt der Literatur zu flüchten, doch dann hörte ich ein Geräusch aus dem Wohnzimmer, das klang wie eine Mischung aus einem stolpernden Rentier und einem überraschten Elfen. Ich dachte zuerst, es sei unser Kater, Herr Chaos, der sein jährliches Baumschmück-Ritual (oder besser gesagt: Baumentblätterungsritual) vollzog. Aber das Geräusch klang zu groß und zu unbeholfen für ein vierbeiniges Fellknäuel.

Getrieben von Neugier und der bange Ahnung, dass unser Weihnachtsbaum seinen letzten glitzernden Atemzug getan hatte, schlich ich die Treppe hinunter. Jede Stufe quietschte auf ihre eigene, festliche Weise, fast so, als wolle sie „Stille Nacht“ in Quietsch-Dur spielen. Ich bewegte mich mit der Anmut eines Elefanten auf Zehenspitzen, bemüht, kein weiteres Aufsehen zu erregen.

Als ich das Wohnzimmer erreichte, stockte mir der Atem – und das lag definitiv nicht nur an der üppigen Weihnachtsdekoration. Nein, mitten im Raum stand der Weihnachtsmann, umgeben von einem Meer aus Lametta und funkelnden Lichtern. Er war durch die noch offene Terrassentür hereingeschlichen und hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, auf frischer Tat ertappt zu werden.

Unsere Blicke trafen sich, und für einen Moment waren wir beide wie in einer Komödie gefangen. Dann brach der Weihnachtsmann das Schweigen, ließ ein leises „Ho, ho, ho“ hören, das mehr nach einem überraschten Räuspern klang, und setzte ein breites Grinsen auf.

„Sie sind aber früh dran“, flüsterte ich, irgendwo zwischen Amüsement und Verwunderung schwankend.

„Ja, dieses Jahr bin ich etwas zu früh“, gab der Weihnachtsmann zu, während er sich peinlich berührt am Bart zupfte. „Ich wollte sicherstellen, dass alle Geschenke rechtzeitig da sind, bevor ihr mit der Bescherung beginnt. Außerdem wollte ich dem Verkehrschaos ausweichen. Sie wissen ja, Rudolph mit seiner roten Nase ist nicht gerade der beste Navigator.“

Sein Schmunzeln und die leichte Röte, die sich unter seinem weißen Bart abzeichnete, machten ihn auf einmal menschlich. Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen, während ich mir vorstellte, wie der Weihnachtsmann versuchte, einem Rentier-GPS zu folgen, das nur „Links abbiegen bei der nächsten Wolke“ sagte.

Was dann folgte, könnte man getrost als eine Episode aus einer Weihnachtskomödie beschreiben. Ich, ein zufälliger Komplize des Weihnachtsmanns, half ihm, die Geschenke strategisch unter dem Baum zu verteilen. Dabei mussten wir einige akrobatische Manöver vollführen, um nicht in den Lichterketten hängen zu bleiben oder von Weihnachtskugeln überrascht zu werden, die wie kleine, verräterische Minen auf uns herunterfielen.

Während wir so beschäftigt waren, erzählte mir der Weihnachtsmann die wildesten Geschichten. Von einem Haus in Italien, wo er fast von einer Nonne mit einem Nudelholz verwechselt wurde, bis hin zu einem Vorfall in Australien, wo ein Känguru versuchte, sich in seinen Schlitten zu schmuggeln. Ich lachte so sehr, dass ich kaum atmen konnte, besonders bei der Geschichte, wie er einmal versehentlich den falschen Schornstein hinuntergerutscht war und in einer Saunaparty landete.

Als alles fertig war, zwinkerte mir der Weihnachtsmann mit einem verschmitzten Lächeln zu, das verriet, dass er unsere gemeinsame Verschwörung genoss. Dann verschwand er so leise, wie er gekommen war, wahrscheinlich um seine nächste chaotische Bescherung fortzusetzen.

Ich kehrte in mein Zimmer zurück, mein Herz noch immer voller Lachen über unser kleines Abenteuer. Ich konnte kaum glauben, was soeben passiert war – es fühlte sich an wie ein Traum, aber die umgekippten Kekse auf dem Boden im Wohnzimmer bewiesen das Gegenteil.

Später am Abend, als meine Familie zusammenkam und wir die Geschenke auspackten, konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Jedes Mal, wenn jemand ausrief, „Oh, der Weihnachtsmann hat sich dieses Jahr selbst übertroffen!“, musste ich an unsere heimliche Aktion denken. „Der Weihnachtsmann hat dieses Jahr besonders gute Arbeit geleistet“, sagte ich mit einem Wissen, das nur ich teilte.

Erst nach der Bescherung erzählte ich meiner Familie von meinem weihnachtlichen Abenteuer. Niemand glaubte mir natürlich – alle lachten darüber, für die war es nur eine „lustige Weihnachtsgeschichte“. Aber ich musste noch oft an diesem Abend über diese kurze, aber urkomische Begegnung mit dem Weihnachtsmann schmunzeln. Sie wurde zu einer meiner liebsten Weihnachtserinnerungen.

So wurde die Geschichte von dem Weihnachtsmann, der in unser Haus einbrach, Teil unserer Familienlegende – eine Geschichte, die wir jedes Jahr an Heiligabend erzählen würden.

Tim | Rußige WeinNacht

Oh my crap!
Damals hatte ich den schlimmsten Kick seit 1989.
Der 25. Dezember 1993. So gegen 1 Uhr nachts. Ohne Drogen, aber mit Glühwein.

Ich war damals bereits seit Wochen extrem frustriert.
Als Spätjugendlicher. Alarmzeit pur.
Warum? Wegen ihr. Die Spacko-Perle. Gabriella.
Egal! Nicht das Thema.
Es ging um etwas völlig anderes.

Weihnachten. Familie. Festessen.
Mein ganz persönliches Defcon 5, im familiär überreizten Nervenkostüm – innerlich jederzeit kurz vor dem Terminator. Jugendliches Emo-Drama hoch zehn eben.

Klar, die Festtage. Etwas Besonderes. Bezaubernd und besinnlich.
Nicht jedoch mit einer deutsch-griechischen Großfamilie.
Das war immer wie Feuer und Benzin. Ständig knallte es irgendwo. Streit um das Essen; Zoff wegen der Deko; Rabatz, weil jemand die Katze in den Weihnachtsbaum hat klettern lassen; Diskussionen um die Andacht zum Heiligabend. War Pfarrer Savvidis schwul oder nicht? Dergleichen halt. Überhaupt: alle redeten immer. Vom Tag vor Heiligabend, bis zum Abschied und der Heimfahrt der Verwandtschaft, laberten sie in einer Tour – und man erwartete jederzeit, dass ich auch etwas dazu beitrug.
Zudem kamen ständig diese Fragen. Was soll beruflich aus mir werden? Warum will ich eigentlich studieren? Übernimm doch lieber die Stahlbaufirma deiner Mutter. Hast du eine Freundin? Mit Kondomen kannst du umgehen, ja? Warum kommst du nicht einmal wieder „heim“ nach Kavela, dann stellen wir dir die Tochter der Familie Manousakis vor.
Immer wieder dergleichen.
Außerdem tatschten alle immer an mir herum, vor allem die Großeltern. Ich war siebzehn und sie kniffen mir in die Wangen, als wäre ich fünf.
Wie gesagt: innerlich war ich kurz vor der juvenilen Explosion.
Tim Ausrastellidous – der entnervte Familiendödel. So nannte ich mich selbst, während der Festtage.

Kein Wunder also, dass ich damals meinen Stash Alk im Keller versteckt hielt – eine Flasche Glühwein in einer Aldi-Tüte, unter den Eierkohlen. Von meinen Eltern aus war das „Gläschen in Ehren“ für mich nämlich noch Tabu. Da es normalerweise ich war, der zum Kohlenschleppen genötigt wurde, schien es unwahrscheinlich, dass jemand dort fündig geworden wäre.

Ich hatte eine wirklich niedrige Toleranzschwelle, was Alkohol betraf. Es bedurfte nicht viel davon, um mich dicht zu machen. Deshalb war ich damals schon vorsichtig damit.
Diverse Bierdosen-Parties mit Freunden, gefolgt von sehr peinlichen Momenten, ließen mich ziemlich umsichtig werden, was den Genuss von Booze betraf.

Okay, zurück zum 25. Dezember
Nach einem unendlich langen Heiligabend, daddelte ich zufrieden ein Game auf meinem brandneuen Sega-CD. Meine Weihnachtsbeute beschäftigte mich bereits seit einer Weile. Geschenke, Briefumschläge mit Geld darin, Schlickerkram.
Man konnte sich über meine Familie ärgern, oder peinlich berührt sein, aber Großzügigkeit, Herzlichkeit und Toleranz standen immer im Mittelpunkt. Teuere Geschenke waren nicht ungewöhnlich.
So saß ich also am Schreibtisch und erfreute mich an den Früchten eines anstrengenden Tages, während es still in unserem großen Haus wurde.
Zudem hatte ich mein erstes Glas des heimlichen Glückes intus, was mich etwas sanftmütiger hat werden lassen.
Dennoch aufgekratzt war an Schlaf nicht zu denken.
Ich entschloss mich, mir ein zweites Glas Glühwein aus dem Keller zu holen und wankte benebelt aus meinem Zimmer. Unten auf der Treppe sah ich die Kellertür zum Garten offenstehen - nicht wirklich überraschend, mit Kindern im Haus.
Plötzlich war da dieses Geräusch.
Ein Kratzen, das sich wiederholte.
Es kam aus dem Raum mit den Kohlen. Dessen Tür stand ebenfalls offen.
Musste ich mir Sorgen um meinen Glühwein machen? Hat den jemand entdeckt? Junge, was hätte ich ich für Ärger deswegen bekommen.
Vorsichtig schlich ich mich heran, sah um die Ecke und konnte es kaum fassen.
Ein fremder, sehr beleibter Mann, im schmutzigen Weihnachtsmannkostüm, stand dort an der Reinigungsklappe des Schornsteines, kratze mit einem großen Holzlöffel Ruß heraus und befüllte einen Sack damit. Er nahm eine Prise davon, streute sich das Pulver auf seine linke Handoberseite und hielt sich diese an die Nase.
Angetrunken wie ich war, dachte ich nicht groß nach und rief:
»Ey, du Penner! Was soll das denn jetzt hier?«
Der Mann drehte sich erschrocken um. Ertappt sah er mich mit glasigen Augen an. Seine Nase, und der Bart darunter waren schwarz.
Hatte der sich jetzt tatsächlich Ruß wie Koks reingezogen?
Wie irre war das denn?
Mit einem Mal dann stürmte er mir entgegen, schob mich beiseite und rannte in den Garten. Ich taumelte hinterher, vermied es aber laut dabei zu werden.
Draußen erschrak ich und konnte es einmal mehr nicht fassen.
Dort stand ein großer Schlitten, mit Säcken darauf – doch das war noch nicht alles.
Rentiere, echt? So wurde ja immer behauptet. Nee, für’n Arsch.
Sechs eselgroße Ratten mit langen Beinen und dicken Nasen standen dort angespannt vor dem Gefährt und starrten mich rattig an.
Der Mann indes sprang agil in den Schlitten, schaltete Lichter an, schüttelte eine Leine und rief mit rollender Stimme: »Hoho! Auf, Ratzenpack!«
Das Gespann setzte sich in Bewegung, erhob sich in die Lüfte und flog eiligst davon.
Unfassbar!
Wie gelähmt stand ich da und sah hinterher.
Dann jedoch, ganz überraschend, flog der Schlitten zurück und stoppte genau über mir. Der seltsame Weihnachtsmann sah grinsend zu mir herunter, öffnete einen Sack und schüttelte eine Ladung Ruß über mir aus.
»Frohe Weihnachten, Pickelfresse!«, sagte er höhnisch und flog endgültig in die Nacht.
Wie betäubt stand ich da und sah auf meine Kleidung.
Toll. Ruß.
Danach ging ich still zurück ins Haus, hinein in den Kohlenkeller, nahm die Glühweinflasche mit in die Waschküche, zog mich aus und warf meine Kleidung in die Maschine – inklusive der Turnschuhe.
Waschpulver rein, 60 Grad, ratschratsch, an.
Anschließend schlurfte ich teilnahmslos zurück nach oben und unter die Dusche. Hinterher setzte ich mich, als ob nichts gewesen wäre, nackt an meinen Tisch, nahm einen Schluck Glühwein und spielte einfach weiter.

Als ich morgens aufwachte, war die Flasche leer und meine Wäsche wieder sauber.
Oh my crap! Ich nahm mir vor, im nächsten Jahr auf Alkohol zum Fest zu verzichten.