Es ist wirklich ärgerlich, dass es immer weniger Kamine gibt. Und wenn, dann haben sie nur noch Fake-Schornsteine mit dünnen Rohren drin oder eklige Sperren, irgendwelche Filter für die Umwelt und Tierschutzgitter. Die moderne Welt macht es mir wirklich nicht einfach! Aber mein Q – jaaaa, das hat James Bond von mir geklaut! – hat mir neue Zaubertricks gezeigt, mit denen ich durch alle Fenster und Türen komme. So leicht werdet ihr mich nicht los! Dafür liebe ich meinen Job viel zu sehr.
Nun stehe ich wieder vor einer Haustür von einem Haus ohne Kamin und zücke Trick Nummer 1. Q hat es Scheckkarte genannt und sie extra für mich rot lackiert mit einem Sternmotiv. Ich habe lange geübt und nun verschaffe ich mir Einlass und schleiche ins Haus. Sofort werde ich umhüllt von herrlichen Düften und ich schnuppere genüsslich. Vanille, Zimt, Apfel, Orange … schon stehe ich in der Küche und stibitze vergnügt grinsend einen Zimtstern aus einer Blechdose. Im Kühlschrank entdecke ich jede Menge vorbereiteter Dinge für ein feines Weihnachtsessen. Bratapfeljoghurt? Ich kann nicht widerstehen, finde einen Löffel und verputze ihn genüsslich. Nun zieht es mich in das große Wohnzimmer und dort bleibe ich wie angewurzelt stehen. Potzblitz! Da ist ein Kamin! Allerdings ist er künstlich, das erkenne ich erst auf den zweiten Blick. Direkt daneben steht ein riesiger Weihnachtsbaum, bunt geschmückt und ich entdecke gerührt kleine, von den Kinderhänden der kleinen Zwillinge gebastelte Sterne.
Ich stelle meinen Sack ab und will gerade mit meiner Arbeit beginnen, als mich Schritte zusammenfahren lassen. Die Wohnzimmertür öffnet sich wieder und der Teeniesohn des Hauses schlurft herein. Schnell drücke ich mich in eine Lücke zwischen Weihnachtstanne und Kamin und erstarre. Es ist doch viel zu spät! Selbst er sollte im Bett liegen! Aber nein, er sieht sich um und entdeckt mich sofort. Verflixt, was hat der Bursche im Dunkel für gute Augen! Ich halte den Atem an und starre einfach geradeaus. Ich bin nicht da! Staunend kommt der Junge langsam auf mich zu und bleibt so dicht vor mir stehen, dass ich nur die Lippen schürzen müsste, um seine Nase zu küssen. Aber ich halte durch, starre gerade aus und ertrage es, wie er mich betrachtet, an meinem Bart zupft, meinen Augenbrauen… AUA! Bursche, das ist alles echt! Lass das! Nun stochert er mit dem Zeigefinger in meinem Bauch herum. Mein starrer Blick wird etwas runder. Ja, ich habe ein kleines bisschen zugenommen, na und? Das ist Bodyforming und in meinem Beruf wichtig. Nimm deine Flossen von meinem Bauch und verschwinde, mir geht die Luft aus!
„Abgefahren.“, murmelt er schließlich und schüttelt den Kopf. Er hält mich für eine lebensgroße Puppe. Uff! Ganz vorsichtig atme ich die angehaltene Luft aus und nur meine Augen folgen ihm, als er durch das Zimmer zu einem Schrank geht. Er öffnet ihn und holt eine Flasche guten alten Whisky heraus. Meine Augen weiten sich entgeistert, als er sie öffnet und direkt aus der Flasche trinkt. Er ist erst 15! Das kann ich nicht zulassen! Was mach ich nur? Er schüttelt sich am ganzen Körper nach dem ersten kleinen Schluck, was mich grinsen lässt. Haha! Geschieht dir recht, mein Junge. Doch dann kommt der nächste Schock. Er hockt sich vor den alten Schreibtisch seines Vaters und zückt eine Scheckkarte! Was zum… Q! Er hat dich beklaut? Er kennt den Trick? Und spielt an der verbotenen Tür mit den nicht jugendfreien Inhalten! Das geht eindeutig zu weit.
„Das solltest du nicht tun!“, platzt es aus mir heraus. Der Junge springt hoch, die Flasche noch in seiner Hand und nun ist er derjenige, der starrt. Kann ich auch! Wir starren beide.
„Heilige Scheiße!“, keucht er schließlich, sodass ich zusammenzucke.
„Fluchen solltest du auch nicht. Das gehört sich nicht, zum Donnerwetter!“
„Du fluchst doch selber!“
„Ich habe die Flüche erfunden! Das sind alles meine! Also lass es einfach!“, fauche ich zurück. Er zieht die Augen schmal zusammen und kommt in einem bedrohlichen Schleichgang auf mich zu.
„Du verkleidest dich als Weihnachtsmann und brichst bei uns ein, du Sackgesicht?!“ knurrt er nun. Zugegeben, ich bin beeindruckt. Einmal weil er Mut hat und einmal weil er wirklich gut fluchen kann.
„Verkleiden? Bist du noch ganz dicht? Ich BIN der Weihnachtsmann!“ Verärgert reiße ich ihm den Whisky aus der Hand und setze die Flasche an. Er sieht mir mit offenem Mund zu, während ich die halbe Flasche leere. Dann zerrt er sie mir wieder aus der Hand.
„Alki was? Hast du ne Ahnung, wie teuer der ist?“ Ich breite die Arme aus.
„Wenn du deinen Vater schon beklaust, dann machs halt richtig und nicht mit so einem Minischluck. Wegnehmen ist wohl cooler als schenken, was?“ Wir funkeln uns an. Ich weiß, ich bin gerade nicht ganz fair.
„Was für ein Problem hast du?“, frage ich rundheraus. Der Junge sieht mich groß an und ich spüre, dass er schwankt zwischen dem kindlichen Wunsch, mich als der anzuerkennen, der ich wirklich bin oder dem erwachsenen Wunsch, Hilfe zu rufen und mich als Einbrecher anzuzeigen. Aber seine Fassade bricht zusammen.
„Ich habe kein Geschenk für meine Mutter.“, seufzt er. Mir bricht fast das Herz, denn ich höre seinen Schmerz. Die Flasche landet in meiner Hand und ich setze sie wieder an. Ich weiß ,dass er ein Künstler ist. Ein Sprayer. Und auch verantwortlich für viele besprühte Hauswände. Nun sind ihm seine Farben ausgegangen für das große Kunstwerk, das er seiner Mutter schenken wollte. Die Geschäfte haben geschlossen. Mit einem energischen Ruck stelle ich die Flasche beiseite, greife in meinen Geschenkesack und drücke ihm ein dickes Paket in die Arme. Das Klickern der Metallkugeln in den Spraydosen ist deutlich zu hören. Er starrt mich mit offenem Mund an und merkt nicht, dass ich ihm gekonnt die Scheckkarte aus seiner Gesäßtasche klaue.
„Verschwinde einfach und mach deine Arbeit zu Ende. Sie ist wichtig!“, knurre ich und mache eine Kopfbewegung Richtung Tür.
„Echt jetzt?“ Seine Stimme krächzt. Ich ziehe meine buschigen Brauen zusammen und starre bereits wieder finster.
„Du bist wirklich der liebe, gute Weihnachtsmann!“ Blitzmerker!
„Ich bin nicht lieb! Lieb ist die große Schwester von nett! Hau schon ab!“ Ich kann richtig gut knurren und offenbar habe ich ihn damit beeindruckt. Er rennt aus dem Zimmer und stolpert nicht gerade leise die Treppe hoch.
Die Geschenke sind schnell verteilt. Unter anderem Leinwände und weitere Farben für den jungen Burschen. Den Whisky nehme ich mit, der ist wirklich gut. Die Karte auch… ich muss mit Q ein ernstes Wörtchen reden.