Die Wahrheit über den Weihnachtsmann
Es gibt keinen Weihnachtsmann, der die Geschenke bringt. Beziehungsweise, es gibt ihn nicht so, wie wir unseren Kindern erzählen. Woher ich das weiß? Nun, man sollte meinen, jede erwachsene Person weiß das. Bei mir verhält sich die Sache jedoch etwas anders. Ich habe den Weihnachtsmann getroffen. Und doch ist es wichtig, dass wir unseren Kindern das Märchen von ihm weiterhin erzählen. Warum? Ich werde es euch erzählen …
Es war der 23. Dezember vor vier Jahren. Meine beiden Kinder lagen bereits im Bett und mein Mann war bei seinen Eltern, die Hilfe mit ihrer schlecht funktionierenden Heizung brauchten. Bevor ich selbst schlafen ging, begann ich damit, die Geschenke für die Kinder unter den bereits geschmückten Weihnachtsbaum zu legen. Damals glaubten meine Beiden noch, dass der Weihnachtsmann die Geschenke bringt.
Zufrieden betrachtete ich das Bild, das sich mir bot: Der Weihnachtsbaum war behangen mit roten und goldenen Kugeln, in der Luft hing der Geruch nach Tanne und meinen selbstgebackenen Plätzchen und das bunte Papier verbarg die Überraschungen für die Kinder. Ich hatte sie unter großem Stress online bestellt und in der Stadt ergattert und ein kleines Vermögen dafür ausgegeben. Doch da mein Mann und ich allgemein gut verdienten und wir dieses Jahr beide mehr Weihnachtsgeld bekommen hatten, konnten wir es uns leisten. Auch die Großeltern, Tanten und Onkel waren spendabel gewesen und hatten mir Geld gegeben, um den Kindern ihre langen Wunschzettel zu erfüllen. Ja, ich gebe zu, ich hatte mit dem Geschenkeberg übertrieben. Aber für mich gibt es nichts Schöneres, als den Kindern an Weihnachten Freude zu bereiten und ihre leuchtenden Augen zu sehen. Aufs Geld geschaut habe ich kein einziges Mal. Das sollte sich bald als glücklicher Zufall herausstellen.
Nachdem ich also mein Werk getan hatte, legte ich mich ins Bett. Ich wusste, dass die Nacht kurz werden würde, denn die Kinder würden wegen der Vorfreude auf den Weihnachtsabend nicht lange in den Betten bleiben. Während ich in den Halbschlaf abdriftete, fiel mir ein, dass ich ein Geschenk für meinen Sohn vergessen hatte. Weil es so groß war, hatte ich es im Keller zwischen alten Umzugskartons versteckt. Ein weiteres Mal verließ ich den Raum und schlich an den Kinderzimmern vorbei nach unten. Noch ehe ich Richtung Kellertreppe abbiegen konnte, hörte ich ein Rumpeln und Scharren aus dem Wohnzimmer. Alarmiert griff ich zum Besen und betrat das Wohnzimmer. In meinen Gedanken kam ich gar nicht auf die Idee, dass ein Einbrecher diese Geräusche verursachen könnte. Ich rechnete mit der Nachbarskatze, die die Kinder manchmal heimlich zu uns hineinließen. Umso überraschter war ich, als ich einen Mann mit rotem Mantel über meinen Geschenkeberg gebeugt vorfand, der gerade ein Paket, das für meinen Sohn bestimmt war, in seinen Jutesack lud. Und wenn ich sage, dass er einen roten Mantel anhatte, meine ich nicht diese künstlichen Filzweihnachtsmannkostüme. Er trug ein sehr edles Gewand aus feinster Seide, das aufwendige goldene Stickmuster an den Säumen aufwies. Eigentlich war es eher eine Robe denn ein Mantel. Mir entfuhr ein Schrei, ich packte meinen Besen, schleuderte ihn auf den Eindringling zu und rannte zur Tür zurück. Auf magische Art und Weise manifestierte sich der Mann mit dem grauen Bart vor mir und versperrte mir den einzigen Weg hinaus. Ein kühler Duft zog in meine Nase, der mich an frisch gefallenden Schnee erinnerte. Mein Herz blieb beinahe stehen, als ich mich in der Falle sah. Kein Ton entrann meiner Kehle. Der Mann legte den Finger auf seine Lippen und bedeutete mir, still zu sein. Selbst wenn ich gewollt hätte, meine Kehle war wie zugeschnürt und ich wusste damals bereits, dass der Eindringling dafür verantwortlich war. Durch Zauberei drückte mich eine unsichtbare Hand aufs Sofa.
»Das tut mir leid, du hättest mich nicht sehen sollen«, sagte der Mann ruhig mit angenehm tiefer Stimme und mit einem Mal war ich völlig entkrampft, als wäre er ein alter Freund, den ich zum Tee erwartet hätte.
»Dir wird nichts geschehen, aber ich muss dich ruhigstellen. Ich will nicht auch noch von deinen Kindern entdeckt werden. Sie wären nicht erfreut darüber, dass ich ihre Geschenke nehme«, erklärte er, während er damit weitermachte, ein paar Päckchen in seinen Sack zu packen.
»Wieso stehlen Sie die Geschenke für meine Kinder?«, verlangte ich flüsternd zu wissen. Lauter konnte ich nicht sprechen und auch sonst war ich bewegungslos.
»Weil … Nun ich bin der Weihnachtsmann. Der echte.«
»Wäre das so, würden Sie Geschenke bringen und nicht nehmen.«
Er deutete auf den Berg. »Noch mehr Geschenke? Ist das dein Ernst?« Der Mann blickte mich an und schien etwas abzuwägen. »Weißt du, früher … Also vor vielen, vielen Jahren, da habe ich Kinder mit Äpfeln und Nüssen überrascht. Und mit kleinen Holzschnitzereien, getrockneten Blumen und allem, was der Wald sonst noch hergab. Kannst du dir vorstellen, dass es eine Zeit gab, in der sich die Kinder und Eltern wahnsinnig über solche Geschenke gefreut haben?« Er lächelte wehmütig und fuhr fort: »Irgendwann war den Eltern das nicht mehr genug, sie begannen eigene Geschenke dazuzulegen. Spielsachen aus Plastik wie Puppen und andere teuer hergestellte Dinge. Und das, was ich zu geben hatte, wurde immer weniger beachtet. Mit der Zeit haben die Eltern und Verwandten meine Aufgabe komplett übernommen und ich wurde nicht mehr gebraucht. Meine Existenz wurde zu einem Mythos. Selbst mein Name, Nikolaus, ist vielen gar kein Begriff mehr. Zumindest nicht außerhalb meines Gedenktages am 6. Dezember. Welch eine Ironie, dass Erwachsene dafür gesorgt haben, dass ich nicht mehr kam, aber in meinem Namen ihre Kinder mit teuren Überraschungen bedenken …«
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, den ich mühsam versuchte hinunterzuschlucken. Ich teilte die Traurigkeit und Enttäuschung über diese Wendung, als würden sich Nikolaus‘ Gefühle auf mich übertragen. Über sein Gesicht huschte nur kurz ein dunkler Schatten, dann loderte Kampfgeist auf. Akribisch verschnürte er den Sack und setzte sich dann in den Sessel vor mich. »Nach vielen Jahren der totalen Abwesenheit, in der ich die Welt beobachtet habe und die viele Ungerechtigkeit gesehen habe, habe ich entschlossen, dass sich etwas verändern muss. Ich habe mir eine neue Aufgabe gesucht. Mir war bewusst, dass ich niemanden mehr mit den Gaben des Waldes erfreuen konnte. Nicht einmal die Augen der ärmsten Kinder beginnen bei meinen Geschenken zu leuchten, wenn um sie herum so viele Spielsachen unter den Weihnachtsbäumen liegen. Da habe ich entschieden, dafür zu sorgen, dass die Geschenke der Kinder ein wenig gerechter verteilt werden. Ich nehme von denen, denen es gut geht so wie euch und bringe es den ärmeren Kindern, deren Eltern kein oder wenig Geld für Geschenke haben. So mache ich das schon seit vielen Jahren. Ist dir je aufgefallen, dass Geschenke fehlten?«
Ich schüttele den Kopf.
»Dann habe ich gute Arbeit geleistet. Denn irgendwo haben Kinder Geschenke gefunden, von denen die Eltern nicht wussten, wer sie dort hingelegt hat.«
Der Gedanke, dass ich nicht nur meine eigenen Kinder an Weihnachten beschenkte, sondern dank Nikolaus unabsichtlich auch andere, sorgte für ein warmes Gefühl in meinem Inneren. Dieser Mann belebte den eigentlichen Sinn von Weihnachten für mich neu. Als wusste er, was ich dachte, verzog er großmütig das faltige Gesicht und erhob sich aus seinem Sessel. »Ich könnte dich jetzt alles vergessen lassen. Aber das werde ich nicht tun. Heute nehme ich nicht nur von euch, ich schenke dir das Wissen um mich und meine Existenz. Du weißt nun, dass es mich gibt, aber du weißt auch, dass du nächstes Jahr wieder Geschenke für deine Kinder kaufen musst.«
Ich nickte rasch und versuchte ihm mit Blicken meine Dankbarkeit zu zeigen. »Im Keller ist noch ein großes Geschenk, das eigentlich mein Sohn bekommen sollte. Vielleicht …«
Nikolaus schüttelte den Kopf. »Nein, dieses Geschenk musst du ihm schenken. Er wird sich sehr darüber freuen und viele schöne Erinnerungen entwickeln, an die er als Erwachsener gerne denken wird. Ich nehme nur die Geschenke, die bald ohnehin keine Beachtung mehr finden.«
»Das weißt du?«, entfährt es mir fasziniert.
Er grinst. »Natürlich. Ich bin der Weihnachtsmann. Frohe Festtage, Liebe und Gesundheit wünsche ich dir und deiner Familie.«
Er schnippte mit den Fingern und löste sich im selben Moment vor meinen Augen auf. Hufgetrappel und das Schellen kleiner Glöckchen erklangen dumpf in meinen Ohren, dann löste sich meine Starre und ich blieb mit einem Gefühl zurück, als würde ich vor einem lodernden Kamin sitzen.
Seitdem stelle ich wieder Kekse und Milch ins Wohnzimmer. Neben die Geschenke, die ich jedes Jahr für meine Kinder staple und hoffe, dass Nikolaus genug für die Armen findet. Und seitdem macht es mich traurig und glücklich zugleich, wenn mir andere Menschen sagen, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Traurig, weil es eine Lüge ist. Und glücklich, weil er so auch in Zukunft viele Geschenke für die Kinder haben wird, denen es schlecht geht.