Die Kunst des Hörens
Es war eine ruhige Nacht in der ländlichen Gegend weit weg von der Hektik der Stadt. Ein sanfter Schneefall tauchte die Landschaft in ein glitzerndes Weiß, während der Mond am Himmel stand und sein silbernes Licht über die freistehenden Häuser warf. Die Dunkelheit wurde von den schimmernden Schneekristallen und dem geheimnisvollen Glanz des Mondes durchbrochen.
Am Rand des Dorfes, in einem abgelegenen Haus inmitten dieser winterlichen Idylle schloss Holger leise die Tür des Kinderzimmers. Bedacht darauf seine beiden kleinen Kinder nicht wieder zu wecken, bewegte er sich langsam und zog in Zeitlupe sanft die Tür zu. Seine einjährige Tochter und sein zweieinhalbjähriger Sohn waren eingekuschelt in ihren Schlafsäcken, nach einem aufregenden Tag und einer kurzen Gute-Nacht-Geschichte, vor Erschöpfung schnell eingeschlafen und schlummerten nun friedlich vor sich hin.
Ruhig ging er an den Zimmern seiner beiden Teenager vorbei, um auch ihnen eine Gute Nacht zu wünschen. Die beiden raunten ihm nur ein genervtes „Gute Nacht Papa“ zu und signalisiertem ihm, dass sie gerade mit anderen Dingen beschäftigt waren, bei denen er sie nur störte. Holger schmunzelte innerlich über seine beiden Pubertiere und erinnerte sich zurück an die Zeit, als es sein 15-jähriger Sohn und seine 13-jährige Tochter genauso schön wie seine beiden Kleinen fanden, wenn er sie abends ins Bett gebracht hatte.
Müde stieg er die Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinab und ließ sich in seinen bequemen roten Ledersessel fallen, der in seinem Wintergarten stand. Es knisterte ein behagliches Kaminfeuer im Wohnzimmer, während der Duft von Tannennadeln die Luft erfüllte. Holger blickte durch das große Panoramafenster hinaus in das Schneetreiben. Der Mond warf sein mildes Licht auf die schneebedeckten Hügel und Felder, die sich bis zum Horizont erstreckten.
Mittlerweile sah man dem 45-jährigen die emotionalen Strapazen der letzten Monate an. Sein Körper war ausgemergelt und sein eingefallenes Gesicht von zwei tiefen Furchen geprägt. Traurig blickte er auf den leeren Sessel neben sich, während er sich von dem kleinen Beistelltisch zwischen den beiden Sesseln, eine Zigarette aus der darauf liegenden Schachtel nahm und sie sich anzündete. Es war kurz vor Weihnachten und Holger verstand die Ereignisse dieses Jahres immer noch nicht. Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch langsam aus, als er aus dem Wohnzimmer einen dumpfen Schlag wahrnahm und aus seinem Sessel hochschreckte.
Forschend lief Holger ins Wohnzimmer, um nachzusehen, was wohl die Ursache für das Geräusch gewesen sein könnte. Er fragte sich, ob sich etwa eines der Pubertiere zu ihm nach unten verirrt hatte, was mehr als ungewöhnlich wäre. Er entdeckte jedoch nur den festlich geschmückten Tannenbaum mit glänzenden Kugeln und funkelnden Lichtern, der den Raum weihnachtlich erhellte.
Weit und breit war niemand zu sehen und alles sah genauso aus wie immer. Holger konnte sich nicht erklären, was das Geräusch verursacht haben konnte.
„So langsam drehst du durch“, begann er kopfschüttelnd ein Selbstgespräch mit sich zu führen. Er drehte seinen Kopf zu dem kleinen Spiegel, der an der Wand hing und blickte in seine traurigen blauen Augen. „Was ist bloß aus dir geworden!? Jetzt hast du schon akustische Halluzination! Fehlt nur noch, dass du Stimmen hörst.“
„Was ist so schlimm daran, Stimmen zu hören und ihnen vielleicht sogar zuzuhören?“ Holger riss seine Augen weit auf und traute seinen Ohren nicht. Hatte er das gerade wirklich gehört? Er drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der er glaubte, die Frage gehört zu haben. Langsam trat hinter dem Weihnachtsbaum eine Person in seine Richtung hervor. Sie hob langsam die Hände, deutete ihm, dass er leise sein soll, und ging sachte auf ihn zu. Holger rieb sich die Augen. Er konnte nicht glauben, was er vor sich sah. Vor ihm stand ein Mann in seinem Alter mit blauen Haaren, die zu einem Irokesenschnitt gestylte waren, und einem roten Dreitagebart. Gekleidet war die Person in einen hellblauen Anzug mit pinkfarbenem Pelzbesatz. Die Farbe seiner Stiefel und seines Gürtels waren farblich an den Pelzbesatz angepasst.
„Wer bist Du?“, stammelte Holger irritiert und konnte immer noch nicht glauben, was er da mitten in seinem Wohnzimmer vor sich sah.
„Wir haben kurz vor Weihnachten! Wer könnte ich wohl sein?“, beantwortete sein Gegenüber freundlich lachend seine Frage.
„Never ever bist du der Weihnachtsmann“, blaffte Holger ihn an.
„Wieso? Weil ich nicht im Coca-Cola-Style rum schleiche?“, nahm der Weihnachtsmann ihn auf die Schippe. „Zurück zu meiner eigentlichen Frage. Was ist daran so schlimm Stimmen zu hören und ihnen zuzuhören?“ Holger hielt einen kurzen Moment inne, um die Informationen zu verarbeiten. Er nahm die Wärme und das Knistern aus dem Kamin wahr und plötzlich durchströmte ihn eine unerwartete innere Ruhe. Draußen verstärkte der Schnee die Stille und die Welt schien in diesem Moment eingefroren zu sein.
Der fremde Mann durchbrach die Stille: „Die meisten Menschen haben verlernt zuzuhören. Sie hören weder der eigenen Stimme noch der von anderen Menschen richtig zu. Ich bin heute hier, um dir zuzuhören, Holger. Du siehst traurig und müde aus.“
„Das bin ich auch“, erwiderte dieser ihm und erzählte weiter. „Meine Frau und ich haben uns Anfang dieses Jahres getrennt und es fühlt sich nicht gut an. Ich vermisse sie jeden Tag und jetzt an Weihnachten ist es noch schlimmer. Mir ist es wichtig, dass unsere Kinder ein schönes Weihnachtsfest haben. Ich danke dir für die Unterstützung mit den Weihnachtsgeschenken. Ich nehme an, deswegen bist du eigentlich hier.“
Der Weihnachtsmann schüttelte nur den Kopf und antworte ihm mit fester Stimme: „Wieder hast du nicht richtig zugehört. Was helfen die ganzen materiellen Dinge? Sie lösen nicht den Schmerz, den du in dir verspürst. Sie verändern auch nichts an deiner Situation oder der eurer gemeinsamen Kinder. Das wahre Glück im Leben entfaltet sich durch die Macht der Liebe. Sie ist das stärkste Band, welches Menschen miteinander verbindet“.
Holger dachte darüber nach, was ihm der rotbärtige Mann mit dem Irokesenschnitt damit vermitteln wollte.
„Ich verstehe, was du meinst. Trotzdem hat das Band nicht gehalten. Also gibt es die Macht der Liebe nicht wirklich, wenn das Band so einfach reißen kann und daraus so viel Schmerz entsteht“, widersprach er überzeugt, um die Aussage seines Gesprächspartners zu widerlegen.
Sanft und mit gütigem Blick lächelte der Weihnachtsmann ihn an und entgegnete ihm: „Holger, du hast es immer noch nicht verstanden. Wenn sich das wahre Glück durch die Macht der Liebe entfaltet, dann muss man die Liebe pflegen. Nur so bleibt ihre volle Macht erhalten, wird stärker und zerreißt nicht.“
Verärgert und mit hochrotem Kopf schrie Holger den Weihnachtsmann an: „Du erzählst nur Schwachsinn. Es war alles in Ordnung. Wir hatten eine glückliche und harmonische Beziehung. Es gab keinen Grund, dass das Band gerissen ist und wir uns verloren haben.“ Die freundliche Miene des fremden Mannes veränderte sich und er blickte Holger nun mit ernstem Blick tief in die Augen. Dem vierfachen Vater wurde schlagartig mulmig. Hatte er sich gerade so gehen lassen, dass die Gefahr bestand, seine Kinder geweckt zu haben? Er, der alles für seine Kinder tat und nur das Beste für sie wollte?
„Du kannst froh sein, dass ich für deine Kinder die Welt um dich eingefroren habe und sie von deiner Vorstellung hier nichts mitbekommen. Ich möchte dich fragen, was glaubst du, ist der Schlüssel zur Macht der Liebe und damit zum wahren Glück im Leben? Überrasch mich positiv, ob du bereits was gelernt hast,“ forderte ihn der Weihnachtsmann auf, seine Frage zu beantworten.
Holger runzelte die Stirn und verdrehte genervt seine Augen. Seine Gedanken wirbelten wild umher. während er versuchte, die Bedeutung der Frage zu erfassen. Vielleicht war es die Jahreszeit oder einfach der magische Augenblick, dass er den Impuls des Weihnachtsmannes so besonders wahrnahm.
Mit einem freundlichen Lächeln durchbrach der Weihnachtsmann die Stille: „Holger, das Zuhören ist eine Kunst, die oft überhört wird. Es geht nicht nur um das Hören von Worten, sondern um das Verstehen von Emotionen und das Entschlüsseln der Botschaften dahinter. Deine innere Stimme führt dich auf den Weg des Verstehens.“
Holger, noch immer unsicher, nickte nachdenklich. "Aber was genau soll ich verstehen?“
Der Weihnachtsmann lief in den Wintergarten und setzte sich auf einen der beiden roten Sessel und lud Holger ein, sich ihm anzuschließen. Er deutete mit seiner Hand auf Holgers Lieblingsplatz, der sich daraufhin zu ihm setzte. „Die Magie von Weihnachten liegt nicht nur in Geschenken und Lichtern, sondern auch im Verständnis füreinander. Deine innere Stimme erinnert dich daran, dass das Herz eines jeden Menschen eine Geschichte erzählt, die gehört werden möchte.“
Langsam atmete Holger tief ein und aus. Er spürte, wie seine Lungen mit frischem Sauerstoff geflutete wurden und sein Geist und Körper ruhiger wurde. Langsam schloss er seine Augenlider und blendete alles um sich herum aus, um sich zu fokussieren. Jetzt war er ganz bei sich und spürte sein Herz, dass kräftig und regelmäßig schlug. Plötzlich nahm er seine innere Stimme wahr und hörte zu. Vorsichtig öffnete er wieder seine Augen und fühlte sich im ersten Moment so gut wie lange nicht mehr.
„Ich habe den Schlüssel gefunden“, verkündete er stolz, um gleich darauf mit traurig-brüchiger Stimme fortzufahren: „Doch es ist zu spät; ich hätte ihn früher gebraucht,“ Eine Träne bahnte sich über seine Wange. „Ich habe bereits den wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren.“
„Holger, es ist nie zu spät, das Richtige zu tun. Glaubst du denn nicht an Weihnachtswunder? Schau mal auf die Uhr. Wir haben 7 Uhr morgens und heute ist Heiligabend. Denk immer daran, die wahre Freude liegt im Teilen von Liebe und Verständnis. Ich wünsche deiner Familie und dir ein schönes Fest der Liebe. Frohe Weihnachten,“ gab ihm der Weihnachtsmann augenzwinkernd einen letzten Ratschlag und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Guten Morgen Papa“, rief es aus dem Flur. Holger drehte sich um und sein dreijähriger Sohn sprang im entgegen. Er nahm ihn hoch, drückte ihn an sich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Als die beiden sich umdrehten war das Wohnzimmer leer.
„Papi, heute ist Weihnachten. Ich kann es kaum abwarten. Heute Abend gibt es Geschenke. Was machen wir bis dahin?“ fing der kleine Mann an aufgeregt zu erzählen und zu fragen. Holger antwortete ihm nur: „Das größte Geschenk ist doch, dass wir uns haben. Komm, wir wecken deine Geschwister und machen einen Ausflug.“
Schmunzelnd ließ Holger die Beschwerden seiner Pubertiere über sich ergehen, wie er sie, denn an Weihnachten so früh für einen Ausflug wecken könne. Ihn konnte das nicht aus der Ruhe bringen oder seine gute Laune vermiesen, die er hatte.
10 Minuten später erreichten sie bereits ihr Ausflugsziel. Der frisch gefallene Schnee glitzerte im Mondlicht und das Haus schien von einer zauberhaften Atmosphäre umgeben zu sein.
„Was wollen wir denn bei Mama? Bist du jetzt durchgedreht?“ maulten die Großen ihn an, während ihr kleiner Bruder bereits zur Haustür rannte und Holger ihm mit der Babyschale, in der ihre kleine Schwester lag, hinterherging. Der kleine Mann klingelte Sturm an der Haustür, die Jennifer, seine Mutter, verdutzt öffnete und irritiert fragte: „Was wollt ihr denn hier?“
„Keine Ahnung, frag Papa,“ blaffte die ältere Tochter und rollte die Augen.
Holger schaute ihr mit einem warmen Blick tief in die Augen.
„Jennifer, ich habe den Schlüssel zur Macht der Liebe, zu unserer Liebe. Wenn du möchtest, können wir unser Band wieder reparieren und immer stärker machen,“ erzählte er ihr euphorisch. Seine Frau blickte sehr skeptisch.
„Holger, wir hatten das schon. Wie soll das funktionieren? Es ist so viel vorgefallen,“ wollte sie von ihm wissen. Langsam ging er auf sie zu und flüsterte ihr ins Ohr: „Der Schlüssel zur Macht der Liebe und einem festen Band liegt darin, dass wir unsere eigene Stimme nicht unterdrücken und uns gegenseitig zuhören. Es ist unsere Verbindung und die Möglichkeit unsere Freuden und Sorgen zu teilen.“
Jennifer blickte ihn ungläubig an. „Wir haben immer miteinander gesprochen und haben es trotzdem nicht geschafft. Was soll sich denn geändert haben und diesmal anderes sein?“, frage sie ihn. Sie versuchte ihn, mit ihren Worten, abzuwehren und keine Nähe mehr zwischen den Beiden entstehen zu lassen, wodurch eine unangenehme Stille entstand.
Das erlebte ihrer gemeinsamen Vergangenheit, als sie vor 2 Jahren begannen, nicht mehr aufeinander achtzugeben, schmerzte sie zu sehr. Die Beiden haben nur noch gearbeitet und für ihre Kinder gelebt und sich dabei völlig aus den Augen verloren.
"Zuhören bedeutet nicht nur, Worte zu hören, sondern die Seele des anderen zu verstehen und Verständnis zu teilen. Unsere innere Stimme erinnert uns daran, dass wir richtig zuhören müssen, um die Gefühle des anderen zu verstehen und für ihn da sein zu können.“, durchbrach Holger die Stille mit sanfter Stimme.
Sie sahen sich gegenseitig tief in die Augen. Jennifer schluchzte leicht und beide hatten Tränen in den Augen. Jennifer verstand, was Holger ihr damit sagen wollte, und nickte stumm. Holger nahm sie fest in seine Arme und flüsterte: „ich werde immer auf dich Acht geben.“ Seine Frau schloss ihre Augen und küsste ihren Mann sanft auf seine Lippen.
Gemeinsam ging die Familie ins Haus. Irritiert blickte Holger zum Weihnachtsbaum, unter dem einige Geschenke für die Kinder lagen. Er blickte zu Jennifer und sah, dass sie genauso irritiert über die Geschenke unter dem Baum war wie er. Schmunzelnd dachte er sich, es war eine Nacht, in der sich die Magie von Weihnachten in jedem Schneekristall und den Herzen widerspiegelte. Der Zauber von Weihnachten hatte eine neue Bedeutung für ihn bekommen – das Geschenk des Zuhörens und des Verstehens. Und so verweilten sie als Familie umgeben von Liebe und Licht, während draußen der Schnee erneut leise vom Himmel fiel.