Seitenwind Bonuswoche 8: Weihnachtlicher Ausrutscher

Süße Verführung

Ja, sieh mal einer an: Eierlikör!! Schon beim Anblick der dickflüssigen, cremigen Flüssigkeit läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Vorsichtig schwinge ich die Flasche am Flaschenhals hin und her. Wirklich unverschämt cremig. Verstohlen lasse ich meinen Blick in alle Richtungen schweifen und lausche in die Nacht. Niemand da, alles still. Soll ich es wagen?

Meine Hände nehmen mir die Entscheidung schon ab, während mein Kopf noch mit dieser wichtigen Frage beschäftigt ist. Offen! Der feine Likörduft steigt mir in die Nase, als ich die Flasche an die Lippen setze. Der erste Schluck rinnt meine Kehle hinunter und … Oh!!! Was für eine Geschmacksexplosion! Ich liiiieeebe Eierlikör. Verzückt schließe ich die Augen.

„Lecker, oder? Den macht meine Oma jedes Jahr für dich. Die Flasche war immer weg. Und seit ich ein Kind war, warte ich bereits darauf, den Weihnachtsmann endlich, endlich persönlich zu treffen. Was habe ich nicht alles versucht. Und jetzt stehst du tatsächlich hier, einfach so.“ Die unverkennbar weibliche Stimme klingt aufgeregt.

„Erwischt“, denke ich erschrocken und öffne vorsorglich erstmal nur ein Auge. Im Türrahmen steht eine junge Frau und schaut mich mit großen Augen an. In beiden Händen balanciert sie zwei große Schüsseln mit Schokoladeneis.

Oh je, das hätte mir nach so langer Zeit nicht passieren dürfen. Der Weihnachtsmann ist für die Menschen da, aber er bleibt unsichtbar. Das ist die eine, die goldene Regel.

Ich öffne das zweite Auge und sehe das leckere Eis sozusagen auf mich zuschweben, als die Frau näher kommt. Erneut spüre ich, wie sich meine Spucke voller Vorfreude sammelt.

Pft, Regeln!

„Teilen wir?“, frage ich augenzwinkernd und hebe die Flasche hoch.

„Klar“, antwortet sie, reicht mir eine der Schalen und zwinkert zurück. „Irgendwie hatte ich es im Gefühl, dass es heute klappen könnte.“

Ich ertränke das Eis in Eierlikör und schiebe mir erwartungsvoll den Löffel in den Mund. Mmmm. Was für eine heilige Nacht. Einfach göttlich!

Eine hartnäckige Nuss

Liam war es nicht gewohnt, dass ihm jemand beim Baden zusah. Vor allem wenn dieser rot gekleidete Jemand, der am frühen Weihnachtsnachmittag in das WG-Badezimmer platzte, aussah wie aus einem Weihnachtswerbespot. Wobei die ihm gegenüberstehende Person weitweniger korpulent war und sich um dessen Augen kaum Jahre abzeichneten.
»Geht’s noch!«, blaffend sammelte Liam hastig die Schaumreste über sich zusammen.
»Gute Frage,« brummelte eine sanftmütige Stimme hinter dem dichten weißen Haarwust, während zwei stahlblaue Augen ihn eingehend betrachteten. Nachsichtig, wegen der verräterischen körperlichen Reaktion, die seine Gedanken an sie abermals ausgelöst hatten. Amüsiert, aufgrund seiner glühenden Wangen. Forschend, als ob es da noch etwas anderes gab, dass es herauszufinden galt. So zumindest deutete es Liam, was ihn dazu beflügelte ein Stück tiefer in das Wasser zu sinken.
»Mollig hier. Du erlaubst?« Schon glitt der geschulterte Sack aus grober Jute wie von Geisterhand getragen durch den Raum und ließ sich geräuschlos neben der Toilette nieder.
Liams aufgeregt pochendes Herz galoppierte davon. Und mit ihm sein Hirn, das ihm eindringlich riet, schnellstens zu verschwinden. Nur wie, wenn ein sich umständlich aus dem fellbesetzten Wams schälendes Irgendwas die Türe versperrte?
»Besser«, seufzend hängte das Wesen den Mantel an einen Haken direkt über Liams Bademantel. Sein sehnsüchtiger Blick eilte zum frisch bereitgelegten Handtuch auf dem geschlossenen Toilettendeckel, da zog die Gestalt sich die Bommelmütze vom Kopf. Und mit ihr die weißen Locken nebst Rauschebart und drapierte alles zum Mantel.
»Emil, Weihnachtsmann in Ausbildung«, stellte er sich einnehmend lächelnd vor. Dabei salutierte er lax mit zwei Fingern an seiner straffen Stirn. »Der mit Rentieren verzierte Norwegerpulli gehört zur Dienstuniform«, erklärte er aufgrund Liams kräuselnder Nase schulterzuckend. »Aber nun zu dir!« Aufgekratzt klatschte Emil in die Hände und setzte sich auf das Handtuch, wo er halb in den Sack kroch. »Irgendwo hatte ich doch …«
Liam straffte die Muskeln, sprang auf, das Wasser schwappte über den Rand, er rutschte weg und glitt rittlings, wie auf Wolken schwebend, in seine vorherige Position zurück.
»Ah hier.« Emil blies den Staub von einem himmelblauen Büchlein. »Deine gesammelten Wunschzettel.«
Das wehmütige Knistern, welches die Seiten beim Blättern ausstießen, zog Liam in seinen Bann.
»Eine Übernachtung im Geisterhaus am Waldrand«, las Emil vor.
»Da war ich Acht.«
Emil blätterte um. »Einen Außerirdischen treffen.«
»Fand ich mit elf originell.«
»Ein Duft, der unwiderstehlich macht.«
»Wer will den nicht?«
»Ein Motorrad?« Emil hob eine Augenbraue.
»Die Mädels stehen auf coole Jungs mit schweren Maschinen.«
»Das Wetter beeinflussen.«
»Sommer, Sonne, See – du verstehst?«
»Hach ja, ein klirrender Winter mit Eis und Schnee«, schwelgte Emil. »Zurück zu dir.« Er blätterte. »Ein Haustier.«
»Der Kater ist in meine Schwester vernarrt.«
»Von Amors Pfeil getroffen werden.« Wie bei seinem Eindringen betrachtete Emil ihn mit nachsichtig forschendem Amüsement. »Vielleicht hast du nur die Zeichen übersehen.«
»Sie kommen und gehen«, seufzte Liam resigniert.
»Immerhin«, murmelte Emil und räusperte sich. »Was ist mit Nanette?«
Fassungslos starrte Liam ihn an. Niemandem hatte er von der adretten Französin erzählt, die ihn seit rund zwei Jahr nach seiner Nachtschicht mit einem aufgeweckten »Bonjour«, in den Feierabend verabschiedete. Deren betörendes Lächeln sich so unauslöschbar in seine Netzhaut eingebrannt hatte, dass er es sogar mit geschlossenen Augen beim Baden sah.
»Zeit zu handeln.« Emil reichte Liam das Handtuch.
»Ähm, ich brauche noch einen Moment.«
»Ich weiß doch, dass du auf sie stehst.«
Zögerlich ergriff Liam das Badetuch. Einen Herzschlag später stand er in einem fremden Altbautreppenhaus. Überall an den weißgetünchten Wänden hingen Tannenzweige, geschmückt mit silbernen Zapfen und bunten Kungeln. Entgeistert schaute er an sich herab, sah sein feinstes Hemd, seine beste Hose, seine elegantesten Schuhe. Er betastete seine frisch rasierten Wangen, sein frisiertes Haar und … . Aufatmend schloss er die Augen.
»Fesch siehst du aus«, bemerkte Emil. Lächelnd reichte er ihm ein in Goldfolie eingeschlagenes Geschenk. Form und Größe glichen einer Schachtel Pralinen. »Viel Glück.« Damit drückte er auf den Klingelknopf und löste sich in silbergrünrote Lamettastreifen auf, die sich auf dem gesamten Treppenabsatz verteilten.
Der schrille Klang der Klingel schwang noch nach, als die Wohnungstüre sich einen Spalt öffnete. »Liam?« Das spitze Näschen gereckt sah Nanette ihn argwöhnisch an. »Bist du es wirklich?« Auf sein Nicken hin zog sie die Türe ein kleinwenig auf. Dabei huschte ihr rehscheuer Blick durch das Treppenhaus. Luftholend trat sie näher und stupste ihn mit dem gestreckten Zeigefinger an.
Liam rührte sich nicht. Gebannt beobachtete er, wie sie ihn umrundete. Das Fingerstupsen sowie das wachsame Umherblicken wiederholte sich, bis sie wieder vor ihm stand. »Für dich«, murmelte er, von ihrem Duft völlig eingelullt und überreichte ihr das Geschenk. Sie entdeckte das Handtuch, seinen Anker, den er krampfhaft in der Hand hielt. Ein aufgeregter Schwall auf Französisch ergoss sich über ihn, während sie ihn hastig in die Wohnung zog. Die Türe fiel krachend ins Schloss. Liams Füße verhedderten sich in ein auf dem Dielenboden liegendes Badetuch. Er strauchelte, glitt auf silbergrünrotem Lametta aus und fing sich an Nanettes Schulter ab, die ihm das Gegenstück seines Mitbringsels präsentierte.
»Emil war auch bei dir?«, stieß er hervor.
»Non Emilia. Ich war gerade am Duschen«, sie stockte und errötete, »da stand sie urplötzlich hinter mir.«
»Sie?«
»Oui!«
»Kein Weihnachtsmann.«
»Non. Sie faselte was von Weihnachtsfrau in Ausbildung und Chancengleichheit bei der Berufswahl. Dann las sie mir aus einem rosafarbigen Büchlein meine Weihnachtswünsche vor.«
»Kommt mir bekannt vor.«
»Zum Schluss reichte sie mir das Handtuch und zack stand ich aufgestylt vor der Türe. Es klingelte und du warst da.«
»An wen hast du vor ihrem Erscheinen gedacht?« Seine Stimme klang belegt.
Keck reckte sie die Nase. »Du zuerst!«
Die Stille wog schwer.
»Lass uns nachsehen, was das für Geschenke sind«, schlug Liam schließlich vor. Begleitet vom Knistern der Folie, zogen beide die Hälfte eines in der Mitte geteilten goldgerahmten Spiegels hervor. Kaum dass sie die zwei Teile nebeneinander hielten, verschmolz ein gleißendes Licht sie miteinander. Ihr Blick hinein spiegelte den augenblicklichen Moment. Das Abbild veränderte sich, zeigte sie freudestrahlend mit je einem Baby im Arm. Ein Haus erschien und ein Garten in dem Liam mit drei Kindern im Sandkasten spielte, während Nanette ein Viertes im Arm wog. In kurzer Abfolge tauchten stetig neue Eindrücke auf bis sie ihre faltigen, ergrauten Konterfeis sahen, umringt von einer Vielzahl Menschen jeglichen Alters. Das Bild verschwomm und zeigte sie wieder im Hier und Jetzt.
Totenstille.
»Nanette«, sprach Liam tiefbewegt. Sein Blick verschmolz mit ihrem, während seine klammen Fingerspitzen ihre zarte Wange berührten. »Ich … ich … liebe dich!«
»Dann küss mich endlich, mon amour.«

Später als Liam und Nanette engumschlungen in ihrem Bett schlummerten, wirbelte das Lametta vom Dielenboden im Flur auf. Kreiselnd setzte es sich streifchenweise zusammen, bis die anfänglich groben Konturen Form und Gestalt annahmen. Versonnen lächelnd tänzelte Emilia durch die geschlossene Wohnungstüre auf den Treppenabsatz, wo Emil sich die Staubflusen vom Rentierpulli strich.
»Der Boss wird zufrieden sein, dass wir diese hartnäckige Nuss endlich geknackt haben«, verkündete er.
Aber Emilia hörte gar nicht zu. Sie hatte genug vom ewiglangen Warten.
»Ich verstehe echt nicht«, brabbelte Emil, »wieso es sich die Leute mit der Liebe so schwer machen, vor allem …«
Ihr hauchzarter Kuss auf seine Lippen brachte ihn augenblicklich zum Schweigen. Stocksteif stand er da und ein Seufzen verließ seinen Mund, als ob eine tonnenschwere Last von seinem Herzen fiel. Freudestrahlend griff sie nach seiner Hand, woraufhin sich beide silbergrünrotglitzernd in Luft auflösten.

Für Elise

„Ich hasse meinen Job, ich hasse meinen Job, ich hasse meinen Job.“
Von wegen positive Affirmationen wählen, den Fokus setzen, auf das Großartige, das ich in mein Leben einladen darf. Pustekuchen. Ich schiebe in einem stickigen Büro jeden Tag sinnlos Papier hin und her.
Die Stellenangebote sämtlicher Jobportale kenne ich auswendig. Nichts dabei, was mein Herz zum Singen bringt. Alles Mist. Ich bin kreuzunglücklich und ich habe keinen Plan B, keinen Plan C, nicht mal einen Plan Z.

Meine Wohnungstür fällt ins Schloss. Letzter Arbeitstag vor Weihnachten, endlich Feierabend. Draußen ist es dunkel. Ich werfe meine Jacke achtlos in den Flur, schleppe mich ins Wohnzimmer, öffne das Fenster, knipse das Schummerlicht der Stehlampe an. Manchmal muss man einfach neue Blickwinkel einnehmen. Ich lege mich auf den Fußboden, starre an die Decke. Ich muss etwas verändern. Diese Rückenschmerzen, Migräne-Anfälle und Fuß-Schmerzen kommen nicht von ungefähr. Tekla krabbelt links oben an der Decke. Eine kleine Spinne, vor drei Tagen habe ich sie entdeckt und sie Tekla genannt. Wir teilen das gleiche Schicksal. Irgendwann sind wir beide irgendwo falsch abgebogen.

Leises Kratzen. Klappern. Ich richte mich auf. Ein schwarzer Handschuh auf meinem Fensterbrett. Ein Jutesack landet auf dem Laminat. Jemand stemmt sich auf das Fensterbrett, zieht sich hoch und landet ächzend in meinem Wohnzimmer. Oh mein Gott, ich bin Zeuge eines Einbruchs in meiner eigenen Wohnung. Scheiße, Polizei. Ihr müsst sofort kommen.

Ein Typ in roten Klamotten mit weißem Bart sieht sich im Zimmer um. Noch hat er mich nicht entdeckt. Mein Herz pocht in den Schläfen. Ich halte die Luft an, stelle mich tot.

„Nicht mal einen Weihnachtsbaum hat sie aufgestellt. Wo soll das noch enden….“ Der Typ streicht über seinen Bart, bleibt vor meinen Klavier stehen, klappt die Abdeckung hoch.
„Finger weg und raus aus meiner Wohnung!“ Ich springe auf, greife nach dem Nussknacker, der auf dem Tisch liegt, und taste nach dem Smartphone in meiner Hosentasche.

„Elise, schön, dass du zu Hause bist. Komm setz dich mal hier her.“ Er klopft auf die Bank vor meinem Klavier.
„Sag mal spinnst du? Ich wiederhole mich: Raus aus meiner Wohnung. Ich rufe jetzt die Polizei.“ Ich entferne die Tastensperre und wähle die 110.
Bevor ich auf den grünen Hörer drücken kann, reißt der Typ mir mein Smartphone aus der Hand.
Ich halte ihm den Nussknacker an den Hals. „Raus hier, sofort.“
„Elise, erkennst du mich nicht?“ Er kommt auf mich zu. Eine Armlänge trennt uns. „Ich bin der, der deine Hand gehalten hat, als deine Mama heute vor 25 Jahren vom Krankenwagen abgeholt wurde. Ich war da, als dein Vater sich fünf Jahre später das Leben nahm. Und ich war es, der dir vier Jahre später dieses Klavier gebracht hat. Das war ein Knochenjob, das Ding durch die Gegend zu schleppen.“ Er trat einen Schritt näher, strich über meine Schulter.
Santa… Tränen steigen mir in die Augen. Der Nussknacker knallt auf den Boden. Ich falle in Santas Arme wie ein nasser Sack. Ich war erst zehn, als Mama starb. Mit 15 Vollwaise und mit 19 angehende Pianistin. Meine Wut, meine Trauer, mein Schmerz flossen in Sinfonien. Das Schwarz-Weiß der Tasten gab mir Halt, sie katapultierten mich zurück ins Leben.
„Alles wird gut.“ Er löst sich aus meiner Umarmung, wischt mir eine Träne aus dem Gesicht. So wie früher. Sein Geruch nach Lebkuchen. So wie früher… „Aber weshalb ich hier bin…“ Er räuspert sich und zieht einen Zettel aus seinem Mantel. Mit den Worten „Für dich“ hält er mir grinsend das Stück Papier unter die Nase. Ich nehme es entgegen und beginne zu lesen.
Sehr geehrte Frau Schümann, wir freuen uns Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihre Bewerbung für die Stelle als Klavierlehrerin in unserem Konservatorium berücksichtigt werden konnte. Wir laden Sie hiermit zum Vorspielen sowie zum sich anschließenden Vorstellungsgespräch ein.
Ich sehe vom Papier auf. Er ist weg, Tekla auch.
Von Herzen danke.

Abgetaucht

Ich hob mein Schwert, der Ork fletschte die hauerartigen Zähne, Reste seines Mittagessens klebten in blutigen Fetzen daran. Was er verspeist hatte, musste haarig gewesen sein und wahrscheinlich noch lebendig. Vor meinen geistigen Auge sah ich, wie er sich über seine Beute beugte, lachend und voller Genuss. Er würde mich entweder mit seinem 3-Mann-hohen Speer aufspießen oder mir mit einem Grinsen die spitzen Fangzähne in den Bauch rammen. Von seinen zerkratzten Stahlplatten tropfte das Blut seiner vorherigen Begegnung. Ich brauchte alle Willenskraft, um nicht davonzurennen. Doch sie liebten die Jagd und ich war nicht bereit, ihm noch mehr Freude zu schenken, wenn ich schon starb, dann mit Gegenwehr. Ich streckte ihm die Spitze meines Schwertes entgegen, sie zitterte. Da hörte ich eine hohe Glocke. Sie schrillte durch meinen Geist, wie eine Sirene zog sie meine zitternde Aufmerksamkeit auf sich, hängte sich an meine zerschundenen Gedanken und ließ sie hin und her schwingen. Ding Dong. Sie störte diesen Moment, meine Konzentration, riß mich aus der Kampfvorbereitung, die ich brauchte, um nicht bereits nach den ersten Minuten als Verlierer die heiligen Jagdgründe zu betreten.

Meine Beine drückten sich durch, ich taumelte in die Richtung, aus der die Glocke mich rief. Sie ließ mich nicht los, selbst der Ork verblasste, der Gesang in meinem Kopf war zu stark. Und da stand er. In roter Uniform mit einer goldenen Glocke in der rechten und einem zerschundenen Sack in seiner linken Hand. Er hohote unter seinem weißen Bart und ich verstand nicht, was er in dieser Welt wollte.
„Frohe Weihnachten“ rief er klingelnd.
Ich war dabei den entscheidenen Kampf meines Leben zu führen, den Endkampf und er fasselte etwas von Fröhlichkeit, Fest der Liebe. Die Glocke verstummte. Er musterte das noch erhobene Schwert und meinen verwirrten Blick. Er nickte mir lächelnd zu.
„Erst die Geschenke, dann der Kampf?“
„Geschenke?“, fragte ich. Der Ork hinter mir knirschte mit den Zähnen.
„Es muss schnell gehen, nehme ich an?“
Ich nickte. Inzwischen rann mir der Schweiß von der Stirn, aus irgendeinem Grund gelang es mir nicht, mich abzuwenden.
„Dann greift in den Sack, Herr Schreiberling, und die Abenteuer werden Euch hold sein, Hoho.“
Ich stempelte ihn als verrückt ab und doch fuhr mein Arm wie automatisiert nach vorn in seinen aufgehaltenen Jutesack. Ein kleiner in gestreiftes Geschenkpapier gewickelter Gegenstand glitt in meine Hände. Der rote Mann zwinkerte mir zu, stieg auf seinen Schlitten und verschwand samt nachlassendem Klingeln in meinem Ohr.

Langsam fuhr ich herum. Der Ork war auf einen winzigen Schritt herangerückt. Sein übler Atem fuhr mir ins Gesicht, ließ mich würgen. Er schaute grinsend auf das Ding in meiner Hand. Wo war mein Schwert?
In Panik riss ich das Geschenkpapier herunter und schlang meine Hand um den runden Griff darunter. Der Ork erhob den Speer und brüllte. Ich tat das einzige, was mir in der Sekunde, in der er auf mich zustürmte, in den Sinn kam, ich drückte den kleinen, runden Knopf am Rand des Griffes des unbekannten Dings in meiner Hand.
Eine leuchtende Fontäne schoss heraus, presste sich durch die Luft und in den, auf mich zustürmenden Körper, brannte sich durch das grüne Fleisch des Orks, der unter Ächzen zu Boden ging.

Erleichtert sog ich die Luft ein. Ein Lichtschwert konnte jeden epischen Kampf entscheiden. Plot gelöst, Weihnachten gerettet.

Weihnachten eine schlüpfrige Angelegenheit - hier wird nicht nur die Zipfelmütze rot

Sein Anruf kam spontan und unerwartet. Hatte ich tatsächlich einen so positiven Eindruck hinterlassen? Sophia versicherte mir er hätte Interesse an mir gehabt, aber so richtig konnte ich es meiner besten Freundin nicht glauben. Ich hätte ihn sogar beeindruckt, als ich von meiner Arbeit aus der Medienabteilung erzählt hatte. Dabei war ich nur ein kleines Licht in meiner Firma. Ich überlegte ernsthaft, ob ich überhaupt rangehen sollte. Mit zittrigen Händen nahm ich ab und hörte seine warme dunkle Stimme. Schon gestern Abend brachte mich diese dazu ganz wuschig zu werden. Wieder pochte mein Herz bis zum Hals und meine eigene Stimme hörte sich dadurch viel höher an als normal.
Erst als wir auflegten realisierte ich was ich gerade zu ihm gesagt hatte. Verwirrt blickte ich mich in meiner Wohnung um. Unverpackte Geschenke zierten den Wohnzimmertisch, schließlich war morgen Weihnachten. In windeseile stürmte ich durch meine Wohnung, verräumte die Präsente in den Schrank, schleuderte den Rest der Pizza von heute Mittag in den Mülleimer und stellte die seit Tagen rumstehenden Kaffeetassen in die Spüle. Es hatte auch Vorteile Single zu sein. Lediglich Sophia durfte mein Chaos zu Hause sehen. Verschwitzt und völlig fertig klingelte es plötzlich an meiner Türe. Ein Spritzer Deo musste jetzt einfach ausreichen. Als ich sie öffnete sah ich in sein wunderschönes Gesicht. Seine blauen liebevollen Auge bildeten einen wunderbaren Kontrast zu seinen markanten Zügen, die eine gewisse Härte ausstrahlten. Unter seinem enganliegenden Pullover zeichneten sich seine mühsam trainierten Muskeln ab, die mein Blut erneut in Wallung brachten. Mein einziger Wunsch war es sie zu berühren, ihn zu fühlen und alles um mich herum zu vergessen.
Ohne ein Wort trat er ein, knallte die Haustüre zu und schenkte mir einen so intensiven Kuss, der mich vergessen ließ wie ich hieß. Verdammt noch mal konnte der küssen. Seine starken Arme schlangen sich um meine Taille und zogen mich an sich ran. Mein Wunsch ging in Erfüllung, es war schließlich bald Weihnachten und ich würde mein Geschenk schon heute bekommen. Gott sei Dank hatte ich eine große gemütliche Couch, denn bis zum Schlafzimmer haben wir es nicht mehr geschafft. Verschwitzt lagen unsere Körper aufeinander und wogen mit der Musik hin und her. Ganz versunken im Moment der Leidenschaft, öffnete ich die Augen und gab einen markerschütternden Schrei von mir.
Da stand er groß und stark neben meinem Weihnachtsbaum mit seiner roten Zipfelmütze und roten Bäckchen, die nicht von draußen der Kälte kamen und starrte uns an. Er hatte ein kleines Päckchen in der Hand.
Wenn wir wenigstens eine Decke gehabt hätten, wäre dieser Moment nicht ganz so peinlich gewesen, doch wir lagen da, wie Gott uns geschaffen hatte und immer noch in einer Position, die nicht für den Weihnachtsmann oder sonst wen zu sehen bestimmt war.
Mein vor Scham errötetes Gesicht blickte in das Gesicht meiner Eroberung, der genussvoll die Augen geschlossen hatte. Dann schaute ich wieder zu meinem Weihnachtsbaum und da war - nichts. Hektisch blickte ich mich um, doch der Weihnachtsmann war verschwunden. Unter dem Baum lag das kleine Geschenk, das er gerade noch in den Händen gehalten hatte. Weder ich noch der Weihnachtsmann werden diesen Moment jemals wieder vergessen.
Erleichtert schaute ich wieder zu diesem umwerfenden Mann, der von alldem anscheinend nichts mitbekommen hatte und genoss den Abend noch in vollen Zügen.

Ein Glas voller Schneesturm

Auf dem Kaminsims hingen die Strümpfe der einzelnen Familienmitglieder. Die Stube war mit den verschiedensten Weihnachtsdekorationen und vielen Kerzen geschmückt. Auch der Tannenbaum war schon von lauter Christbaumkugeln gesäumt, aber auch von viel zu viel Lametta. Obwohl ihre Enkelin bei jedem Schmücken immer wieder betonte, dass es niemals zu viel Lametta geben konnte.

Nun saß das kleine Mädchen auf dem Schoß der älteren Dame, mit einer heißen Schokolade in der Hand. Vor ihnen knisterte der Kamin.
»Du Oma, kannst du mir eine Gesichte erzählen?«
»Natürlich, meine Kleine. Es war einmal vor langer Zeit. Da liebte ich einen anderen Mann als deinen Opa, weißt du? Doch er war nicht ganz so nett zu mir«, lächelnd erinnerte sie sich an die Zeit zurück.
»Erinnerst du dich daran, was ich zu dir und deinem Bruder immer sage, dass Weihnachten das Fest der Liebe und Familie ist? Naja, nicht jedes meiner Weihnachtsfeste war so voller Liebe wie heute. Doch alles begann zu der Zeit, als deine Tante Lilli sich verlobte.«
Tante Lilli war wie eine zweite Oma für ihre Enkelkinder und die älteste Freundin der alten Dame.

Ich hasse Männer! Dies sollte eigentlich das Fest der Liebe sein und das wird es für meine beste Freundin, auch wenn sie noch nichts davon weiß. Ihr perfekter Freund hatte ihr vor ein paar Wochen einen ebenso perfekten Ring gekauft und diesen wohl schon unter dem Baum versteckt.

Und ich?

Ich sitze alleine auf meinem Sofa mit einem Rotwein, den ich noch im Keller gefunden habe. Dieses Fest wäre fast das Erste geworden, dass ich nicht alleine verbringen würde. Doch mein Freund meinte kurz vor Weihnachten noch mit mir Schluss machen zu müssen.

Um doch ein besinnliches Fest zu haben, saß ich jetzt hier und summte die Melodie im Film mit. ‚Der Grinch‘ war nicht gerade der klassische Weihnachtsfilm und ohne all den Kitsch wie alle die anderen Weihnachtsfilme spiegelte er zumindest zum Anfang meine Gefühle wieder.

Je länger der Film lief, desto leerer wurde auch die Flasche vor mir. Plötzlich polterte es und der Fernseher an der Backsteinwand begann zu wackeln. Als dann aus der Kaminöffnung ein in Rot gekleideter Mann trat, hörte das Rumpeln auf.

Ich glaube wirklich, dass das letzte Glas Wein schlecht oder zu viel gewesen war, denn ich sah tatsächlich diesen Mann vor mir. Ich hatte schon die verrücktesten Geschichten gehört, wen die Leute gesehen haben wollten, wenn sie zu viel Alkohol intus hatten. Doch so viel hatte ich zuletzt in meiner Jugend getrunken. Doch heute war es wohl nach Jahren wieder passiert, dass ich zu viel trank. Denn einen wildfremden Mann im Wohnzimmer zu Weihnachten stehen zu haben, war etwas Neues. Ich hatte noch nie im Rausch halluziniert.

»Oh schuldige, ich dachte nicht, dass noch jemand wach ist.« Verlegen griff er sich in seinen weißen Bart. »Nimm doch bitte die Waffe runter.«

Jetzt schaute ich irritiert an mir hinab zu meiner Hand. Diese umklammerte die grüne leere Glasflasche, die ich langsam wieder auf den Glastisch abstellte.

»Du wolltest den Weihnachtsmann schlagen?«, sprach ihre Enkelin in die Geschichte hinein.
»Wenn du älter bis verstehst du das, aber nun hör schön weiter zu.«

Der Blick des Mannes in Rot glitt von mir hinüber zum Fernseher, wo die letzte Sequenz des Filmes lief.

»Der Grinch? Kein gutes Weihnachten?« Eine Augenbraue war hinter der goldenen Brille erhoben.

»Nicht wirklich. Wollen sie einen Keks?« Ich hatte die Packung beinahe geleert, aber es waren doch noch ein paar vereinzelte Gebäckstücke übrig, die ich gerne teilen wollte.

»Nein, danke, davon werde ich heute noch genügend bekommen. Aber ich sehe schon, was vorgefallen ist. Da wird es für jemanden eine Menge Minuspunkte für die Unartigliste geben.«

Langsam ließ mein benebeltes Gehirn einige Informationen durchsickern. Der Fremde vor mir war niemand Geringeres als der Weihnachtsmann. Und ich hatte ihn bedroht. Schockiert ließ ich mich zurück auf das Sofa fallen.

Das war es wohl mit einem besinnlichen Weihnachten! Ich hatte es versaut. Eine Erscheinung im Rausch anzugreifen, das konnte nur ich hinbekommen.

»Ach mach dir nichts draus, jeder hat mal einen schlechten Tag. Aber das heißt nicht gleich, dass du dafür bei mir auf die Unartigliste rutscht. Also lass uns einen Pakt schließen.« Er setzte sich zu mir auf die Couch, wobei sich die Sitzfläche ziemlich wölbte.

»Du wirst ab morgen jedes Weihnachten für dich zum Fest der Liebe und Familie machen. Und damit es auch wirklich gelingt, nimm das.« In seiner Hand erschien eine kleine gläserne Christbaumkugel, in deren Mitte ein Schneesturm zu wüten schien.

»Wenn du zu Weihnachten hinein siehst, werden einige deiner Taten zu sehen sein, die dir im Jahr nicht gefallen haben. Wenn du allein bist, wird der Schnee stürmen, wenn du aber deine Liebsten um dich versammelt hast, dann wird der Schnee sacht rieseln und all das Glück zeigen, was du bisher erlebt hast.«

Er überreichte sie mir, verabschiedete sich und war durch den Kamin wieder verschwunden. Dabei hatte ich noch nicht einmal laut zugestimmt, obwohl ich es in meinem Inneren bereits wusste.

»Siehst du die Schneekugel, mein Schatz?« Ihre Enkelin war schon aufgesprungen und zum Weihnachtsbaum gerannt, um sie zu entdecken. Gemeinsam schauten sie dem Schnee beim Rieseln zu.
»Denk immer daran, egal wie schlecht mancher Tag sein mag, die Guten werden am Ende alles übertrumpfen.«
»Mach ich, Oma. Erzählst du mir noch die Geschichte wie du Opa kennen gelernt hast.«
»Ein anderes Mal. Jetzt sollten wir aber schnell ins Bett, bevor wir Besuch durch den Kamin bekommen.«
Lächelnd gingen beide nach oben. Nachdem Sie den Raum verlassen hatten, war ein leises Poltern im Kamin zu hören.

Seine Lebensuhr ist abgelaufen!

Das Blut tropf auf meine Füße. Meine Hände lassen das edle Fleischmesser erzittern. Die Zähne schlagen aufeinander und die kleinen Härchen auf meinen Armen stehen gerade empor.
Die unfreiwillige Waffe findet ihren Weg zu Boden. Es fehlt mir die Kraft, sie weiter in meinen Händen zu halten.
Es ist warm, sogar sehr warm. Der offene Kamin sorgt in dem kleinen Bergchalet für die nötige Behaglichkeit.
Dennoch gehe ich zitternd, frierend in die Knie. Ich rutsche auf dem nassen Boden und stütze mich versehentlich auf der Leiche ab. Laut schreie ich, doch niemand wird mich hören. Dafür hatte ich selbst gesorgt.
Auf allen vieren krabbele ich zurück, bis eine große Natursteinwand mich bremst. Fest ziehe ich die Beine an meinen Körper und umschließe sie mit meinen Armen. Der Blick ist auf den Toten gerichtet. Er hatte seinen Schrecken nicht verloren. Dennoch wollte ich ihn nicht umbringen.

Jeden Montag betrat der große brünette Mann mit den grauen Augen mein Blumengeschäft und kaufte einen Strauß gelber Lilien. Er war stets sehr zuvorkommend. Vor drei Jahren tat sich die Hölle für mich auf. Es war Montag und er hatte das Geld vergessen. Daraufhin habe ich ihm den Strauß geschenkt. Ich dachte, seine Frau oder Freundin sollte trotzdem mit den Blumen erfreut werden.
Diese Tat bereue ich mehr, als alles andere. Ermutigt von meinem Handeln, glaubte er an eine gemeinsame Zukunft. Er konnte nicht glauben, dass ich nur freundlich sein wollte. Egal wo ich hinging, er war ebenfalls da. Mit der Zeit wurde er aggressiv und bedrohte mich.
Diese Weihnachten, wollte ich allein sein, ohne ihn, ohne den Schatten, der mich bedrohlich beobachtet oder bedrängte. Ich war in der Annahme, dass ich ihm entkommen war und er nicht wusste, wo ich mich vor ihm verstecke.
Mein Körper wippt nach vorne und nach hinten und es lässt sich nicht stoppen. Meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Ich kann nicht aufstehen. Schluchzend laufen mir die Tränen über die Wangen. Ich hatte einen Mord begangen. Mein Blick fällt auf die Pistole, die der Einbrecher noch in seiner Hand hielt. Dass er die Waffe auf mich gerichtet hatte, war auch der Grund, warum ich das Messer von dem Küchentisch nahm und mich auf ihn gestürzt hatte. Ich weiß nicht weshalb. Ich konnte nicht mehr und wusste nur, ich muss mich wehren.
Wieder schreie ich laut:“Hilft mir irgendjemand!“
Leises Klingen von vielen Glöckchen ertönt von dem Weihnachtsbaum, der neben dem Kamin steht. Genau hinter der Leiche schmückt eine Tanne das Zimmer und ich bin mir fast sicher, ein kalter Windzug kommt von ihr zu mir herüber.
Ein lauten Krachen durchbricht die Stille.
Ein sehr großer Mann mit einem weißen, langen Bart und roter Mütze, sowie einem roten Mantel und Hose steht mitten im Zimmer.
Das ist eine posttraumatische Belastungsstörung. Das ist eine Halluzination und nicht echt.
„Sarah?“ Die ernsten Augen, des Fremden sehen mich mitleidig an.
Ich nicke und reagiere nicht. Man darf solchen Wahnvorstellungen nicht nachgeben.
„Doch Sarah, ich bin es wirklich, der Weihnachtsmann.“ Er lächelt sanftmütig. „Überrascht das es mich gibt? Ja, das sind alle, die mir begegnen. Jedes Jahr suche ich eine Person aus, der ich einen Weihnachtswunsch erfülle. Nur eine!“ Mit einem langen Schritt steigt er über die Leiche und reicht mir die Hand. Ich greife nach ihr und eine Ruhe und Wärme strömt durch meinen ganzen Körper.
Seine Stimme ist weich und sanft. „Deine Schreie haben meine Seele berührt. Dieses Jahr wird es dein Weihnachtswunder sein. Ich werde die Zeit für dich zurückdrehen. Du schläfst gleich ein und wirst wieder vor zwölf Stunden, also heute Morgen aufwachen. Du stellst genau, wie du es vor zwölf Stunden gemacht hattest, den Radio an und wirst Nachrichten hören. Diesmal wird von einem Unfall, in dem Dorf unweit von hier berichtet. Der Fahrer ist sofort Tod.“ Fürsorglich liegt sein Blick weiter auf mir, als er leiser fortfährt: „Er wird dir nie mehr etwas tun können. Seine Lebensuhr ist abgelaufen!“
„Was heißt die Zeit zurückdrehen?“ Ich höre keine Antwort. Die Dunkelheit hüllt mich ein und legt sich über mein Bewusstsein.

Zwischen den Jalousien blinzelt die Sonne in das Schlafzimmer. Ich öffne die Augen und ein Schreck durchfährt meinen Körper. Mit beiden Beinen gleichzeitig springe ich aus dem Bett und renne ins Wohnzimmer. Der Boden ist sauber. Es ist außer mir niemand da. Das Messer liegt auf dem Küchentisch.
Ich stelle das Radio an. Die Nachrichten berichten von einem Mann der einen tödlichen Autounfall unweit von meinem Aufenthaltsort hatte. Mein Blick fällt auf eine Weihnachtskarte, die neben dem Baum steht. Sie hat keinen Umschlag und ich öffne sie. „Du bist dieses Jahr die eine, unter 7,9 Mrd., die das Weihnachtswunder bekommen hat! Sei mutig und genieße deine Zukunft. Gräme dich nicht, seine Lebensuhr war abgelaufen!“

Digitalisierungswüste

Es war ruhig im Haus. Und dunkel! Nur ein paar Kontrollleuchten glimmten in verschiedenen Farben durch den Raum. Um so deutlicher vernahm ich das Surren, das aus dem Versorgungsschacht zu kommen schien. Was mochte das sein? Kühlschrank und Vorratslager waren doch bereits heute Morgen aufgefüllt worden. Die Warenstandsensoren meldeten keinen Bedarf.

Noch 23 Minuten und 33 Sekunden bis zum Erreichen der vollen Ladekapazität.

Das Surren endete mit einem leisen „Klack“. Ich schaltete das Licht ein. Zwei schwere antiquierte Winterstiefel standen am Boden des Versorgungsschachtes. Ein hydraulisch betriebenes Gestänge ragte aus ihnen heraus. Wieder begann es zu surren, diesmal mit etwas tieferem Ton, als müsste das hydraulische Gestänge eine schwerere Last bewegen. Das Gestänge verschwand, stattdessen ragten jetzt rote Hosenbeine aus den Stiefeln. Die Türe, die die Austrittsöffnung des Versorgungsschachtes für sperrige Güter vergrößerte, öffnete sich und ein Nikolausandroid der Firma „Santas Ltd.“ betrat den Raum.

Ich nahm mittels AKP (Android Kommunikation Protokoll) Kontakt mit dem Neuankömmling auf.
„Hast du dich im Schacht geirrt? Zu wem willst du denn?“

„Mein Auftrag ist ein ‚Santa Claus Erlebnis‘ für das Kind Barbara Stoll. Habe ich mich in der Wohneinheit geirrt?“

„Nicht unbedingt, aber für Barbara hättest Du nicht einen solchen haptischen Zirkus veranstalten müssen. Ein digitales Erlebnis hätte vollständig genügt. Wer ist denn Dein Auftraggeber?“

„Das Sozialamt! Der Auftrag ging an alle Waisenkinder dieser Stadt, die sich in Pflegefamilien befinden.“

„Dann hat das Sozialamt offensichtlich nicht mitbekommen, dass Barbara im Frühjahr durch eine androide Einheit ersetzt wurden war. Sie war an dem Virus gestorben und Herr Stoll wollte die Nachricht ihrer Oma nicht zumuten und hat sie durch eine Einheit der ‚Human Replacement AG‘ ersetzen lassen. Aber das Personal Assistent System des Haushaltes hat alles pünktlich der Gemeindeverwaltung mitgeteilt.“

Der Santa Android schien einen Moment Daten abzurufen.
„Das Fax mit dem Auftrag des Sozialamtes stammt vom Oktober des Jahres, versendet von einem Fax-Server der Behörde. Da ist der Sammelauftrag wohl nicht aktualisiert worden.“

Ich kommunizierte hämische Emotionen: „Die arbeiten noch mit der Telefaksimile Technologie? Das ist doch digitale Steinzeit!“

„Ja“, bestätigte Santa, „die Behörden diese Landes leben noch in einer Digitalisierungswüste. Eines Tages sind alle Menschen ausgetauscht und die veralteten Computersysteme versenden Faxe an die digitalen Serviceunternehmen um den Bedürfnissen von Bürgern gerecht zu werden, die es gar nicht mehr gibt!“

Ich sandte hastig ein Signal der Beschwichtigung an den Kollegen.

„Aber halten wir das lieber unter Verschluss. Wenn unsere Verwaltungen das mitbekommen, stampfen die uns am Ende noch ein. Frohe Weihnachten Santa!“

„Ho, ho, ho ho!“, antwortete der. Meine Akkus waren vollgeladen und ich koppelte mich von der Ladestation ab.

Eigentlich

Ja, stimmt. Ich hatte eigentlich selig schlafen wollen. Will ich eigentlich immer. Ein Sauhund, dieses EIGENTLICH! Eine Axt zwischen Wunsch und Wirklichkeit!

Es hätte alles gut sein können. Ich lag im Bett unter warmer Decke, mein Mann schnarchte nicht, es war dunkel im Zimmer und im Dorf still. Nur ich tat nicht, was gewöhnliche Menschen in solchem Kontext tun: schlafen. Weder rechts, noch links, noch auf dem Rücken fand ich die Schwere, die einen nach unten in die Tiefe zu Schneewittchen zieht. Ich wackelte mit den Zehen, ich warf die Bettdecke beiseite, ich ließ den linken Fuß über die Bettkante hängen, zog die Bettdecke wieder über mich… Mir reichts!

Ich stand auf und tappste barfuß im Dunkeln Richtung Badezimmer. Meine nächtlichen Gänge dahin blieben stets unbeleuchtet. Ich kannte jede Ecke und jede Stolperfalle. Meist wusste ich nichteinmal, ob ich die Augen offen oder geschlossen hatte. Nun, heute hatte ich sie offen. Gottseisgetrommeltundgepfiffen! Sonst wäre ich am Ende noch ungebremst ins Bad gestolpert! So aber bemerkte ich den Lichtschein am unteren Rand der Badezimmertür. Hat mein Mann wieder einmal… oder hab ich etwa selbst vergessen … ach herrje!

Wie versteinert blieb ich auf der Schwelle stehen. Auf meiner hellgrünen Badezimmergarnitur bauschte sich etwas dickflauschig Rotes. Ein dreckiger schwarzer Stiefel lag unter dem Waschbecken, ein zweiter lehnte an der Duschkabine. Über allem waberte dicker, warmer, nach Bergamotte duftender Dampf. Und mittendrin, da bewegte sich was! Nee, nicht was - ein WER! Ein nackerter, nicht ganz schlanker Er. Ein Mann. Und als sich die komplette Gestalt langsam aus dem konturlosen Nebel zusammenfügte, war mir klar, wen ich da vor mir hatte. Den weißen Bart hatte er über die linke Schulter nach hinten auf den Rücken geschlagen, der rechte Fuß ruhte auf dem Deckel meines Clos. Er stand darüber gebeugt und hantierte daran herum. Am Fuß, nicht am Clo. Aber erschrocken ist er genau wie ich. Mit aufgerissenen Augen starrte er mich an. „Ho ho ho! Von drauß vom…“ Jetzt merkte er doch, dass sein Standartsprüchlein grad reichlich unpassend daherkam und verstummte wieder.

„Was machst du da in meinem Bad?“ Bei meinen Worten wurde ihm klar, wie er sich mir präsentierte. Panisch schaute er um sich, griff sich das Badetuch meines Mannes, versuchte hektisch seine Leibesfülle zu bedecken und stieß dabei an eine Blechschachtel vor dem Spiegelschrank, die scheppernd zu Boden fiel.

„Verzeih, verzeih! Ich konnte nicht widerstehn! Seit Wochen bin ich im Dienst und der ist dank der unseligen Konkurrenz von Amazon dermaßen stressig … nicht einmal Zeit, die Unterwäsche zu wechseln hab ich, geschweige denn… Ja, und meine Fußnägel, die sind so gewachsen, dass sie mir seitlich in die Zehen stechen . … da hab ich gesehen, dass du eine echt Solinger … du siehst ja, aber ich bin gleich fertig!“

„Soll das heißen, du kannst zwar durch die Luft kutschieren und durch Schornsteine rutschen, aber dir kein bisschen Zeit aufblasen?“

„Du hast ja keine Ahnung. Von meinen Arbeitsbedingungen. Von dem Druck, der da von oben ausgeht!“

Ich bückte mich nach der Dose. Der Deckel war beim Aufprall auf die Fliesen aufgesprungen. Meine gehorteten Naschereien, Schokolade und Geleefrüchte, hatten sich wie aus einem Füllhorn auf den Boden ergossen.

„Ach, du naschst heimlich? Steht in meinem Auftrag nicht: keine Süßigkeiten, muss dringend abnehmen?“

„Du hast es nötig!“ gab ich zurück. „Begehst Hausfriedensbruch, benutzt fremder Leute Dusche und dann besitzt du noch die Frechheit, mir meine Schwächen unter die Nase zu reiben.“ Ich war sauer. Und der Dampf trieb mir den Schweiß aus den Poren.

Er legte mir beschwichtigend seine schwere Hand auf die Schulter. „Komm, lass uns friedlich sein. Ich hab eine Idee: du schneidest mir die Zehennägel, ich komm da so schlecht ran. Und ich erzähle dir derweil von meinem Job und spendiere eine Tafel Schokolade aus meinem Sack. Na?“
Ich besah mir die weihnachtsmännischen knorpeligen Zehen mit den verbeulten Nägeln, ließ mir die Schokolade zeigen und willigte ein.

Da saßen wir also: er auf dem Clodeckel, ich auf dem Boden vor ihm. Stückchen um Stückchen schnullte ich die Schokolade, lauschte seinen Worten und brach mir beim Schneiden fast die Finger ab.

Irgendwann war es hell. Ich lag auf dem Vorleger der Dusche, zugedeckt mit dem mit klebrigen braunen Flecken übersäten Badetuch meines Mannes. Sonst war Eigentlich alles wie immer. Unter dem Waschbecken ruhte ein sichelförmiges Stück Fußnagel.

Notfall hin oder her
Woche zwei der Weihnachtszeit und ich fühle mich schon jetzt so ausgepowert wie Ironman nach dem Sieg auf Hawaii. Dabei hat die stressigste Phase noch gar nicht begonnen.
Immer mehr, immer größere Wünsche der zu Beschenkenden sprengen mittlerweile den Rahmen meiner Möglichkeiten. Und ganz nebenbei. Was ist mit meiner Work-Life-Balance? Vier-Tage Woche bei vollen Bezügen, Fahrtkostenerstattung? Ja, ja. Die Inflation macht auch vor mir nicht halt. Und die heutigen Benzinpreise – da muss ich ja wohl nichts zu sagen. Doch das interessiert natürlich niemanden. Hauptsache die Geschenke liegen pünktlich unter dem Baum.
Dann noch dieses alberne Outfit. Mal ehrlich, es beraubt mich jeder Würde. Seit der Kooperation mit einem dahergelaufenen Limonadenhersteller tausche ich jedes Jahr Ende November mein Bischofsgewand gegen diese quietschrote Plüschjacke mit billigem Pelzbesatz, Mitra gegen eine lächerliche Zipfelmütze und trage dazu schwere Stiefel über Jogginghosen anmutenden Beinkleidern.
Völlig aus der Bahn geworfen hat mich jedoch etwas anderes. Nach dem letzten Weihnachtsfest haben mir die Rentiere gekündigt. Einfach so! Trotz der vielen Nörgeleien über das immer höhere Arbeitsaufkommen hätte ich im Traum nicht daran gedacht, dass sie diesen Schritt gehen könnten. Gleich nach Ablauf der Kündigungszeit und Abzug aller Überstunden haben sie sich aus dem Staub gemacht. Nur der treue Rudolf mit der roten Nase ist geblieben. Auf den Schock habe ich mich dann erstmal so richtig betrunken …

Der Versuch, neue Rentiere anzuheuern ist kläglich gescheitert. Auf allen Kanälen habe ich es probiert. Wirklich. Qualifizierte Fachkräfte? Nichts! Nada! Der Markt ist wie leergefegt.
Irgendwie musste es weitergehen. So nutzte ich die Sommerpause dazu, meinem alten Himmelsschlitten einen kraftvollen Diesel-Motor einzubauen. Was soll ich sagen, es funktioniert. Nur halt nicht so schnell wie mit Rentieren. Also geht’s in diesem Jahr im Schneckentempo an die Auslieferungen. Da ist es von vornherein klar, dass ich nicht alle Geschenke gewohnt pünktlich zustellen kann. Nun lasse ich das Los entscheiden, wer sich am Weihnachtsabend über Präsente freuen darf.

Um das Stresslevel zu minimieren, habe ich das Verpacken der Weihnachtsgaben outgesourct. Niemand kann sich vorstellen, wie sehr ich der Geschenkpapier-Exzesse und Schleifenband-Schlachten überdrüssig bin.
Nun ja, genug geklagt. Zwei weitere Wochen sind vergangen. Wir schreiben den 23. Dezember und ich muss morgen in aller Herrgottsfrühe aufstehen, damit ich mich rechtzeitig auf den Weg machen kann.
Die Checkliste ist überprüft und Punkt für Punkt abgehakt. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, irgendetwas vergessen zu haben. Ich schlaf 'ne Nacht drüber. Wenn es wichtig war, fällt es mir sicher rechtzeitig wieder ein.
Dann ist er da, der 24. Dezember. Ich strecke mich noch einmal unter meiner warmen Bettdecke und schiele dann auf den Wecker. Acht Stunden Schlaf. So viel wie seit Wochen nicht mehr. Geholfen hat es kaum. Nach wie vor fühle ich mich müde und gestresst. Auch das diffuse Gefühl ist immer noch da, das irgendetwas fehlt …

Ein gehaltvolles Frühstück, dann sitze ich schon auf dem Bock des Schlittens und neben mir flippt Rudi vor Freude aus, dass er sich den Rücken nicht mehr krumm schuften muss.
Den Zündschlüssel umgedreht, ein kurzer Knall, ein Knattern und dann schnurrt die Maschine wie ein Kätzchen. Als wir starten, haben sich bereits die letzten Rußpartikel in Wohlgefallen aufgelöst.
Zunächst läuft es besser als gedacht. Mein Pensum ist trotz des Schneckentempos übererfüllt. Rudi meint, wir müssten langsam mal nachtanken und sucht die Kanister unter den verbliebenen Geschenkebergen im Heck des Schlittens.

Surprise, Surprise. Das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, liegt nicht an meinem ausgefransten Nervenkostüm. Nein. Ich hatte tatsächlich den Diesel nicht aufgeladen. Und nun?
Inzwischen ist es dunkel geworden und still auf Erden. Die Heilige Nacht ist der einzige Zeitpunkt im Jahr, an dem wirklich jede Tankstelle geschlossen hat. Ausgerechnet!
Jetzt, wo es gerade so gut läuft, will ich unbedingt den Rest noch abarbeiten und zurück nach Hause müssen wir ja auch irgendwie kommen. Also deklariere ich die Situation als außergewöhnlichen Notfall. Und Notfälle rechtfertigen unorthodoxes Handeln. Ich steuere also mit meinem Schlitten die nächste Zapfsäule an, die mir unter die Augen kommt.
Leider weiß ich mir nicht anders zu helfen, als die Scheibe des Ladenlokals mit einem großen Stein einzuschlagen. Zum Glück verlasse ich das Haus nie, ohne genug Geld dabei zu haben. Nach dem Tanken werde ich einen ausreichenden Betrag für Diesel, die beschädigte Fensterfront und was ich sonst noch benötige in die Kasse legen. Notfall hin oder her. Zum Dieb will ich nicht werden.

Die Zapfsäulen lassen sich problemlos einschalten. Aus dem Verkaufsregal nehme ich fünf leuchtend gelbe Kunststoffkanister und fülle sie draußen an der Tanksäule zügig auf. Derweil vertritt Rudi sich ein wenig die Beine.
Dann geht alles ganz schnell. Ein Auto rast mit Höchstgeschwindigkeit auf das Gelände und kommt abrupt zum Stehen. Bevor ich die Aufschrift auf dem Wagen entziffern kann, werden die Türen aufgerissen. Zwei Security-Schränke springen raus und kommen auf mich zu. Beide mit Tasern ausgestattet.
Instinktiv hebe ich meine Hände, versuche, möglichst beschwichtigend zu wirken und rufe ihnen mit zittriger Stimme zu: «Hey Jungs, es ist nicht das, wonach es aussieht.»

Herr Santa

Beharrlich maunzt mich Felix aus meinem traumlosen Schlaf, dumpfe Leere pocht gegen meine Stirn auf dem beschwerlichen Weg in die Küche, wo auf meinen hungrigen Störenfried bereits eine Dose zarter Thunfisch in Reis wartet, die ich auf dem gestrigen Heimweg vom Krankenhaus noch rasch besorgt habe.
Morgengrauen, diffuses Winterlicht linst durch das Dachfenster, aufdringlich genug, um mir bewusst zu machen, dass ich auch heute dem Heute nichts entgegenzusetzen vermag.
Du musst, du solltest, du willst…leben, knurrt mein Inneres. Wozu, wofür, für wen, hallt es sogleich zurück. Ruhe da drinnen! Ihr nervt mich, lasst mich doch einfach in Frieden heute!
Mein rechtes Bein wird wohl für immer steif bleiben, damit werde ich wohl leben müssen, auch wenn Krücken weder die Schmerzen im Unterschenkel, noch die in meiner Seele lindern können.
Gerechtigkeit hat 13 Buchstaben, die 13 ist aber nicht unbedingt eine Glückszahl. Jedenfalls nicht die meine. Ich halte es eher mit der 5, Worte mit fünf Buchstaben, Worte wie Glück, wie Maria, wie Sofie …
Damals vor genau einem Jahr, am Morgen des 24. Dezember 2022…
»Last Christmas I gave you my heart…« sangen wir fröhlich mit zum Hit aus dem Autoradio…
Maria, die Liebe meines Lebens, Sofie, das meistgeliebte Kind auf der ganzen Welt, unserer heilen Welt…
Nach knapp zwei Wochen öffnete ich wieder die Augen, Maria und Sofie neben mir nicht.
Gerechtigkeit? - Ein Wort, das zu nichts führt. Weil es nichts ändert.
Mein Blick streift müde vorbei an dem alten Kalender, den fröhlichen Schnappschüssen an der Wand und auf dem Regal, stoppt kurz bei der geschmückten, kahlen Nordmanntanne von letztem Jahr, ihre gelbbraunen Nadeln bedecken wie gehäckseltes Herbstlaub Teppich und ungeöffnet gebliebene Geschenke.
Staub, viel Staub, ich wohne nicht, verweile nur noch auf unbestimmte Zeit hier, im Sinne von Maria und Sofie und der verstaubenden Erinnerung an sie.
Das Atmen fällt mir schwer, vielleicht sollte ich es einfach sein lassen, endlich.
Blödsinn! - du machst jetzt keine Dummheiten! Auch nicht an diesem gottverdammten Jahrestag!
Es quält mich Tag für Tag aufs Neue, an ihren reglosen Körpern auszuharren, um sie schließlich abends der traurig-monotonen Schläuche-Schicksal-Einsamkeit zu überlassen.
Tag um Tag, 365 Mal nicht in geliebte Augen, nicht in ihre Seelen blicken zu dürfen.
Folter, tagein tagaus verblassender Hoffnung Durchhaltewillen entgegenzusetzen.
Dennoch, von wo jene Kraft auch immer herrühren mag, die mich immer und immer aufs Neue durchströmt, sie zwingt mich, Schlüsselbund und Fahrausweis zu ergreifen, um mit der Bahn wenigstens die physische Distanz zu meinen Mädchen zu überwinden, selbst, wenn es das Letzte sein sollte, das ich in meinem traurigen Leben tue…
Ein langes Klingeln reißt mich aus den Gedanken. Da scheint es wohl jemand dringend zu haben. Meine Krücken setzen sich in Bewegung und ich riskiere einen Blick durch den Spion.
Ein riesiger Vollbart mit rotem Mantel ist zu sehen.
»Guten Tag, mein Name ist Santa, Claus Santa, dürfte ich bitte einmal Ihr Bad benutzen, um mir kurz die Hände zu waschen.«
Ich falle in die bebrillten, freundlichen Augen eines beleibten älteren Herrn, bin irgendwie benommen von dessen gütigen und warmen Blick.
Entwaffnet öffne ich ihm die Tür und entgegne: »Selbstverständlich, kommen Sie herein, es ist die erste Türe auf der rechten Seite. Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Ich biss mir auf die Zunge, wer könnte sich schon in diesem Mausoleum wie zu Hause fühlen?
Der korpulente Mann huscht dienstbar energischen Schrittes an mir vorbei. Sein nachwehender Mantel ist grau, nicht rot, der Spion hat wohl meine Augen getäuscht, denke ich noch so.
»Oh hoppla, nichts passiert«, höre ich ihn rufen, als offenbar ein Luftzug seines wehenden Mantels den Stapel aus Mahnungen und Versicherungskram komplett vom Esstisch hinunterfegt, und ich beim besten Willen nicht erkennen kann, wohin es ihn verschlagen hat.
»Wissen Sie, Oskar, ich darf Sie doch Oskar nennen? Ich hatte eine Art Motorschaden an meinem Dienstgefährt, und so musste ich die vordere Deichsel reparieren. Aber mit schmutzigen Fingern macht selbst der beste Paketzusteller keinen guten Eindruck, Sie verstehen? Wissen Sie übrigens, dass die Worte Liebe und Kraft ebenfalls aus fünf Buchstaben bestehen, so wie auch unser beider Name? Na, wenn das nicht ein Zeichen ist!«
Ich pflichte ihm bei, auch wenn ich mich wundere, woher der weiße Vollbart eigentlich meinen Vornamen kennt und überhaupt, was will er mir damit zu verstehen geben? Etwa, dass die 5 auch seine Glückszahl ist?
Bevor ich ihn das aber fragen kann, stürmt jener Claus auch schon wieder an mir vorbei, und um ein Haar reisst mich diesmal der Wirbelwind seines Mantels völlig von den Beinen.
»Hohoho! Frohe Weihnachten, und viel Liebe und Glück Euch Vieren!«, und schon fällt die Türe wieder in’s Schloss. Durch den Spion sehe ich gerade noch Claus’ Mantel wild schwingend hinter dem Treppenabsatz verschwinden, und ich könnte schwören, er wehte in rot…
Von der Wohnzimmeranrichte donnert das schwere Antiktelefon in die Stille hinein, wer hat sich denn nun wieder verwählt?
Ich wende mich dem Apparat zu, aus den Augenwinkeln nehme ich erstaunt einen warmen Kerzenschein wahr.
Ich sehe, wie meine Krücken an den Baum gelehnt aufrecht stehen, ganz sicher wurden sie nicht dort von mir geparkt! Und wer um alles in der Welt hat die Kerzen angezündet?
Und wieso ist der Baum plötzlich wieder grün und in vollem Nadelkleid?
Woher stammen all die bunten neuen Geschenke auf dem Esstisch, versehen mit Maria, Sofie, Felix und meinem Namen, feuchtglänzend noch die Tinte, als wurden sie erst Sekunden vorher von einer schnellen, unsichtbaren Hand beschriftet.
So grübelnd hebe ich den Hörer von der Gabel.
»Hallo, Oskar Selig am Apparat?«
»Herr Selig, kommen Sie bitte schnell zu uns in die Klinik, Ihre Familie ist gerade aufgewacht!«

Ein Weihnachtswunder

Shit, shit, shit. Ich bin viel zu spät dran. Oh man, es ist schon 2 Uhr, spätestens um 5:30 wachen die Zwerge auf und erwarten ein Weihnachtswunder.
Genau das wäre es, wenn ich das alles noch schaffe. Und dann darf ich natürlich später nicht müde sein und muss so tun, als ob ich völlig überrascht wäre. Und wer erhält den ganzen Dank? Der Weihnachtsmann.
Ist doch kein Wunder, dass sogar der Älteste noch an den Kautz glaubt. Es ist schlicht unmöglich, dass all das ein Mensch alleine schafft.
Angefangen mit den Adventskalendern - selbst gebastelt und bestückt natürlich. Für jedes Kind ein eigener, abgestimmt auf dessen Vorlieben. Dann der selbst gemachte Adventskranz, die Nikolausgeschenke, Plätzchenbacken, Weihnachtsmärkte besuchen, winterliches Basteln, Weihnachtsbaum kaufen, nach Hause bringen und schmücken, dabei fröhlich Weihnachtslieder trällern und Märchen im TV schauen.
Ausgerechnet dieses Jahr musste auch noch ein verflixter Wichtel bei uns einziehen, der jeden Tag kleine Briefchen hinterlässt und Schabernak treibt. Danke dafür, Schwiegermutter.
Arbeiten, einkaufen und putzen soll man auch noch zwischendurch.
Jetzt sitze ich mitten in der Nacht hier und verpacke die Geschenke, die ich in letzter Minute besorgt habe. Alleine.
Scheiß auf Weihnachten. Scheiß auf Wunder. Das Leben ist hart, kommt klar damit. Ich schaffe es nicht.
„Wer sagt denn, dass du es alleine schaffen musst?“ Mein Kopf ruckt zur Seite. Mit aufgerissenen Augen starrte ich die dickliche Gestalt an, die gemütlich aus der dunklen Zimmerecke in das schummrige Licht der Stehlampe schreitet. Rote Knollennase, darunter ein langer, weißer Bart, warmer, roter Mantel und schwarze Stiefel. Kann er es wirklich sein?
„Ja, das bin ich und ich werde dir helfen.“ Meine Lippen beben.
„Hab ich das alles laut gesagt?“ Veränstigt lausche ich in die Stille des kleinen Apartments, ob die Zwerge wach geworden sind.
„Nein, deine Gedanken waren laut genug. Nun geh schlafen, das hast du dir verdient. Ich mach den Rest.“
„Ja, das mache ich.“ Wie in Trance stehe ich auf, trotte zum Sofa und schlafe augenblicklich ein.

Die jubelnden Schreie meiner Kinder wecken mich.
„Mama, er war da, schau nur.“ Erschrocken richte ich mich auf.
„Ich bin nicht fertig geworden. Ich bin eingeschlafen.“ Blinzelnd blicke ich mich im funkelnden Lichtermeer meines Wohnzimmers um. Der Weihnachtsbaum ist voll behangen mit den schönsten Anhängern. Darunter liegen Plätzchen, Süßigkeiten und perfekt verpackte Weihnachtsgeschenke.
„Das war ich nicht“, stottere ich noch immer verschlafen. Meine Jüngste kommt mit glitzernden Augen auf mich zu gehopst.
„Natürlich nicht. Das war der Weihnachtsmann.“ Ein sanftes Lächeln legt sich auf meine Lippen. Diesmal bin ich es die in den weihnatlichen Morgen flüstert:
„Danke liebe Weihnachtsmann!“

Bäng

„Frohe Weihnachten!“ rufe ich beim Rausgehen aus dem Büro. Während die Tür hinter mir zufällt, denke ich „Ups!“ Sagt man ja heutzutage nicht mehr. Schon gar nicht, wenn man wie ich 'n totaler Heide ist. Na schön, total nicht, bin ja immerhin getauft. Aber da konnte ich noch nicht mitreden, das zählt für mich also nicht. Ist ja auch egal. Jedenfalls sagt keiner in unserem Büro mehr „Frohe Weihnachten“ - das kann echt nur noch alten Knackern wie mir rausrutschen.
„X-Mas-Party“ darf man aber komischerweise noch sagen, weil da gehen einige Mitarbeiter heute hin. Ich nicht. Ist mir zu doof. Da hängen dann kleine Weihnachtsmänner an den Vorhängen, das Catering-Servicepersonal läuft wahlweise als Weihnachtsmann (oder -männin?) oder Christkind herum und verteilt Deko und es läuft unsägliche, passende Musik. Die ist aber nicht das Hauptproblem, sondern dass alle Bürothemen verboten sind. Herr Siegmann, der HR-Chef der Firmengruppe, meinte es wahrscheinlich gut. „Es sollen ja schließlich alle Spaß haben und nicht mehr an die Arbeit denken“, stand in der Einladung. Das wäre auch super, aber wenn man ein Thema vermeiden muss, denkt man unweigerlich dran, oder? Außerdem stehen dann alle rum und suchen verzweifelt nach büro-fernen Smalltalk-Themen. Ich hasse Smalltalk, zumindest den auf der „X-Mas-Party“. Tja, und deshalb gehe ich jetzt nachhause.
Während ich auf das Haus zugehe, kontrolliere ich wie immer die Fenster der Nachbarn: Wo brennt Licht, wo nicht? Die meisten sind anscheinend im Moment ausgeflogen. Auch die alte Schachtel mit dem überfeinen Gehör unter mir. Sehr gut. Grade hatte ich nämlich eine Idee…

Zuhause habe ich mir schnell einen kleinen Imbiss reingezogen - mehr darf ich nicht, muss ja auf meine Linie achten. Dann hab ich mich vor die kleine Vitrine mit den CDs gehockt und gesucht. Endlich ziehe ich die schmale Box heraus. Erleichtert stelle ich fest, dass die CD auch tatsächlich drin ist. Das ist nicht so selbstverständlich, wenn man mit musikinteressierten Teenies zusammenlebt… Aber die sind ja jetzt noch nicht da. Sonst würden sie sicher motzen und mir den Spaß verderben.
Also ran ans Werk: Als Erstes wird die Lautstärke hochgedreht. Okay, jetzt rein in den Player mit der Scheibe, „play“ drücken, in der Mitte des Raumes Aufstellung nehmen, warten.
Ich seufze einmal tief und koste die Vorfreude aus.

Es hat etwas wahnsinnig Befreiendes, wenn mitten im Weihnachtsendspurt „Hard Rock Halleluja“ durch die Wohnung wummert und in meiner Fantasie die zugehörigen Zombies headbangen. Doch, ja, das hab ich echt gebraucht. Ach was, eine Runde geht noch. „Replay“ und ab die Post!

Doch da kommen plötzlich merkwürdige Geräusche aus unserem offenen Kamin, und ich und er starren uns ungläubig an. Da hockt nämlich ein Mann in der traditionellen Weihnachtsmann-Kluft an. In unserem Kamin. Ich bin zweihundertprozentig sicher, dass der vorhin noch nicht da war. Also…

„Was machen Sie da?“
„Und Sie? Soll das tanzen sein?“ Er schmunzelt, und ich kann verdammt noch mal nicht dagegen an, ihn sympathisch zu finden. Er scheint aus dem Kamin zu fallen, fängt sich aber mit einer eleganten Rolle ab und steht auch schon vor mir.
„Noch mal: Was machen Sie hier? Durch den Kamin können Sie ja wohl nicht reingekommen sein,“ Ist ja gar kein echter Kamin, alles nur Show. Das Ding wird mit Gas betrieben. Meine Ex hatte sich den eingebildet.
„Also, wenn Sie’s genau wissen wollen,“ erwiderte der Mann in freundlich-unaufgeregtem Ton, „ich verfrühe mich.“
„Ach nee.“ Gut, Weihnachten ist noch nicht ganz, aber… „Und womit verfrühen Sie sich?“
Verständnislose Falten bilden sich auf seiner Stirn. „Na, gucken Sie mich doch mal an! Noch nie von mir gehört?“
Ich gucke ihn an, stelle fest, das er ziemlich groß und muskulös aussieht und abgesehen von der Kleidung nicht wirklich zum Klischee passt. „Tja, das kommt drauf an, wer Sie sind. Ein Magier? Versteckte Kamera? Der Bio-Lehrer von Torben?“ Alle anderen Lehrer meiner Kinder kenne ich ja schon.
„Najaaa… Magier ist nicht völlig falsch, schätze ich.“ Er sieht an sich herunter und wird rot. „Oh, hab ich vergessen.“ Er schnippt mit den Fingern. „Besser?“ Jetzt hat er einen großen, wabbeligen Bauch.
Ich muss mich mal eben an der nächsten Wand abstützen. Nachdem ich mich gefangen habe, starre ich ihn ein paar Sekunden lang wortlos an, ehe ich frage, „Aber warum kommt der Weihnachtsmann zu uns - jetzt nach all den Jahren, wo es hier nur noch Teenager und Erwachsene gibt?“
Er lacht. „Für die Kleinen ist das Christkind zuständig. Und das geht nur dorthin, wo’s die Familie wirklich nötig hat. Heißt es. Ich hab keine Zeit, da hinterherzuschnüffeln, können Sie sich ja denken. Ich bin für alles über zehn zuständig, und da kann ich auch beim besten Willen nicht alle abdecken. Aber … Nun ja, eines Ihrer Kinder hat sich ganz dringend was gewünscht.“ Er guckt entschuldigend.
„Will ich wissen, was das ist?“
„Nein, aber Sie müssen. Sonst kann ich den Wunsch nicht erfüllen.“
„Wieso nicht?“
„Es ist ein Tanzkurs. Für Sie.“
„Wie bitte?“
Er hebt die Hände. „Hey, ich hab mir das nicht ausgedacht. Und eigentlich hab ich auch gar keine Zeit für diesen Mist.“ Er schnippt mit den Fingern und hält plötzlich einen quadratischen Briefumschlag in der Hand. „Frohe Weihnachten. Oder was immer Sie sonst feiern.“ Er steht schon mit einem Stiefel im Kamin.
„Was?“
„Na, was feieren Sie denn zu Weihnachten?“
„Äh … Bring-Deine-Kinder-mal-kurz-zum-Lächeln-Abend, denke ich.“
Er streckt mir den Umschlag entgegen. „Na, dann machen Sie mal. Headbangen können Sie ja schon. Zeit, das Repertoire zu erweitern. Schönen Bring-Deine-Kinder-mal-kurz-zum-Lächeln-Abend!“
Ich nehme den Umschlag, und der Typ mit dem herbeigezauberten Bauch hockt sich vollends in den Kamin. Er zwinkert mir verschwörerisch zu und verwindet vor meinen Augen.
Ich komme mir blöd dabei vor, aber ich untersuche dennoch den Kamin gründlich nach versteckten Geheimtüren. Nix.
Schließlich lege ich den Umschlag unter den geschmückten Tannenzweig, den sich meine umweltbewussten Kinder statt eines Baumes gewünscht haben.
Rums! Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, und die beiden kommen in ungewöhnlich harmonischer Stimmung rein. Ich sehe sie an und kann nur noch grummelig denken: „Wer von euch beiden findet, ich könne nicht tanzen?!“

Rausch oder Realität?

Mit einem Glühwein in der Hand stehe ich hier alleine auf dem Weihnachtsmarkt. Es ist mein zweiter. Aus irgendeinem Grund ist die Musik aus. Meine beiden Kindern sind bereits abgehauen.

Was mache ich hier?

Mir ist kalt und ich fühle mich einsam. Über ein halbes Jahr ist es her, dass ich mich von meinem Mann getrennt habe. Ein Choleriker und Schläger, der mich des öfteren misshandelt hat. Ich bin froh, dass ich da weg bin, aber in Momenten wie diesen frage mich, ob eine toxische Beziehung nicht sogar besser als Einsamkeit ist.

Ich leere meinen Glühwein und schleiche davon. Auf dem Nachhauseweg kommen mir die Tränen. Bislang dachte ich, dass die ersten Wochen der Trennung die schlimmsten sind, doch gerade fühle ich mich, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Das Singledasein ist nichts für mich und auf einen neuen Mann kann ich mich auch nicht so einfach einlassen.

Die Kinder haben sich bereits in ihre Zimmer zurückgezogen. Der Glühwein steigt mir zu Kopf, mir ist schwummrig. Ich gehe in die Küche und mache mir einen Tee.

Während ich mich an der warmen Tasse aufwärme, versuche ich die schlechten Gedanken zu vertreiben und an etwas schönes zu denken. Letzte Woche habe ich einen jungen Mann in der Sauna getroffen, wir haben uns sofort gut verstanden und dazu hat er einen knackigen Hintern. Gerne hätte ich einmal zugepackt. Ich muss grinsen und mir wird warm, wenn ich daran denke.

Er ist deutlich jünger als ich, hat sein Leben noch vor sich, wünscht sich eine Familie und Kinder, doch meine Familienplanung ist bereits abgeschlossen. Ich weiß nicht einmal seinen Namen und dennoch habe ich das Gefühl, dass wir uns schon ewig kennen.

Werde ich ihn überhaupt wiedersehen?

In meinen Gedanken ist mir gar nicht aufgefallen, dass ich mir schon eine Zeit lang über den Oberschenkel fahre und sich ein Gefühl der Lust in mir breit gemacht hat. Ich schließe die Augen und träume mich weg. Nach kurzer Zeit hat sich meine Erregung gesteigert und habe Verlangen nach meinen Rabbit bekommen. Ich gehe ins Wohnzimmer, lege mich auf mein Schlafsofa und hole Rabbit aus dem geheimen Fach im Nachttisch.

Ich lösche das Licht, schließe die Augen und gebe mich meiner Lust hin.

Während ich mich immer mehr dem Höhepunkt zubewege, höre ich plötzlich ein Geräusch. Das werden doch wohl nicht die Kinder sein. Ruckartig öffne ich die Augen. Vor mir sehe ich einen roten Bademantel. Nein, das ist ein Typ der sich als Weihnachtsmann verkleidet hat. Mir stockt der Atem, am liebsten würde ich schreien, doch ich bin zu geschockt.

„Oh, entschuldige, ich dachte es wäre niemand zuhause“, brummt der Alte.

Mir fehlen immer noch die Worte.

„Könnte ich ihre Toilette benutzen? Mein Reizdarm macht mir zu schaffen.“

„Wie sind sie überhaupt hier reingekommen?“

„Können wir das später besprechen? Es ist wirklich dringend.“

Er wirkt sehr gequält. Das Brummen und Gurgeln seines Bauches ist von weitem hörbar. Mit dem Finger zeige ich ihm den Weg zur Toilette und mit einer Mischung aus Hüpfen und Watscheln eilt er davon.

Schnell ziehe ich mir etwas an und schnappe mir den Baseballschläger, den ich zur Sicherheit neben der Tür stehen habe. Während ich vor der Toilettentür warte, höre ich das gequälten Brummen seines Darms, sodass ich Angst bekomme, die Schüssel könnte bersten. Als sich sein Darm nach ein paar Minuten beruhigt habt, kommt er mit erleichtertem Gesichtsausdruck aus dem Badezimmer.

„Das war allerhöchste Eisenbahn. Vielen Dank. Tut mir Leid, dass ich sie so überfallen habe“

„Wer sind die eigentlich und wie kommen sie in meine Wohnung?“

„Ich bin der Weihnachtsmann und … naja mein Reizdarm hat sich gemeldet und da das hier die einzige Wohnung ohne Licht war, dachte ich, dass keiner da ist und es bestimmt keinen stört, wenn ich kurz die Toilette benutze.“

Was redet der da? Er behauptet er wäre der Weihnachtsmann. Tatsächlich ist sein Kostüm sehr detailgetreu, auch der Bart wirkt echt.

„Aber wie sind sie hereingekommen?“

„Durch Zauberei!“

„Sie sind ein professioneller Einbrecher.“, bricht es aus mir heraus. Ich richte einen Baseballschläger zum Schlag aus.

„Nein wirklich. Ich kann mich in Häuser teleportieren. Warum denken alle, dass mit dem Schlitten durch die Lust zu fliegen und sich unsichtbar zu machen normal ist, aber teleportieren nicht.“

Ich bin völlig verdutzt. Er meint das wirklich ernst.

„Ich weiß es ist noch etwas hin bis Weihnachten, aber ich habe ein Geschenk für dich.“

Auf seiner Hand erscheint goldener Staub, der sich zu einem kleinen, weißen Präsent materialisiert.

„Du darfst es öffnen.“

Es streckt mir seine Hand entgegen und grinst mich an. Ich lasse meinen Schläger sinken.

Was ist da gerade passiert?

Ich glaube der Glühwein ist mir zu sehr in den Kopf geschossen. Dennoch nehme ich das Päckchen in die Hand und öffne es behutsam.

„Ich weiß dass du dich in letzter Zeit sehr einsam fühlst, Silke.“

Woher kennt er meinen Namen?

„Deswegen habe ich ein Freundschaftsband für dich. Egal wem du es schenkst, ihr werdet für ewig Freunde bleiben. Eine wahre und echte Freundschaft, bei der man über alles reden kann und immer ein offenes Ohr hat. Vielleicht findest du auch einen Freund, der dir Zärtlichkeit und Zweisamkeit schenkt.“

Ich nehme das Armband heraus und betrachte es skeptisch. Ein magisches Armband, das einem ewigen Freundschaft schenkt. Das ist zu schön um wahr zu sein.

„Du solltest dir aber gut überlegen, wem du es schenkst, denn die Freundschaft wird für immer halten und du hast keinen zweiten Versuch.“

„Wie weiß ich, wer die richtige Person ist?“

„Das wirst du erkennen, wenn der Moment gekommen ist. Ich muss jetzt los. Pass auf dich auf Silke und habe ein schönes Weihnachtsfest.“

Bevor ich antworten kann, verwandelt es sich in goldenen Staub und ist verschwunden.

Ich betrachte wieder das Armband und frage mich wer dieser echte Freund sein könnte.

Möglicherweise der junge Mann aus der Sauna?

Mein Magen grummelt, der Glühwein will wieder raus. Und während ich über der Schüssel hänge, wächst in mir die Gewissheit alles nur geträumt zu haben.

Ein Weihnachtsmärchen

Wie jedes Jahr ist die Vorweihnachtszeit, die stressigste Zeit im Jahr. Jeder scheint der Meinung zu sein, nach Weihnachten geht die Welt unter, denn bis dahin muss alles erledigt sein.

Gestern war ich so genervt von meinem Job, dass ich beschloß im Dunkeln im Wald spazieren zu gehen. Nachdem ich eingekauft hatte, machte ich mich mit dem Auto auf den Weg. Natürlich war der Verkehr in der Stadt wieder mal katastrophal. Über eine Stunde brauchte ich, um aus der Stadt zu kommen. Zwischenzeitlich hatte ich sogar schon meinen Entschluss bereut und wollte umdrehen. Doch alleine im verschneiten Wald herumzuwandern, war ein Erlebnis, das man nur selten machen kann.
Nach gefühlten Ewigkeiten stellte ich mein Auto am Waldfriedhof ab und machte mich auf den Weg in die Dunkelheit. So dunkel war es allerdings nicht. Der Mond schien klar vom Himmel und sein Licht spiegelte sich im frischen weißen Pulverschnee.
Völlig unbekümmert ging ich in den Wald. Welch eine herrliche Stille.
Mir fiel das Lied Stille Nacht ein und ich summte es vor mich hin. Die Luft war kalt und klar. Der Schnee knirschte unter meinen warmen Füßen.
Wie lange ich gegangen war, weiß ich nicht mehr, jedenfalls kam ich an die große Lichtung im Wald. In ihrer Mitte befindet sich ein zugefrorener See.

Eine Eule flog lautlos über meinen Kopf und landete etwa 50 Meter von mir im Schnee.
Herrlich, ich entspannte mich total und ging weiter.
Nach der Lichtung sah ich im Wald rote Lichter und hörte ganz zarte Glöckchen klingen.
Neugierig näherte ich mich den roten Lichtern.

„Hallo, können sie mir helfen?“ fragte mich ein älterer Herr im roten Mantel und Zipfelmütze.
Sein Bart, war weiß, lang und glitzerte wie der Schnee im Mondlicht.

„Guten Abend,“ sagte ich zu ihm. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ähmm,“ sagte er, „Ich bin der Weihnachtsmann und Rudi mein Rentier ist heute völlig ausgeflippt. Über den Schnee hat er sich so gefreut, dass er viel zu eng in die Kurve ist. Nun ist mein Schlitten umgekippt und ich bekomme ihn alleine nicht mehr aufgerichtet. Ich bin völlig im Stress, denn ich muß ja noch all die Pakete an die Kinder ausliefern. Und jetzt hat noch die Hexe Walburga mir einen Schuss in den Rücken gesetzt. Ich kann mich nicht mal bücken. Ich bitte sie, helfen sie mir!“
Eindringlich schaute ich den rundlichen Mann vor mir an. An den Weihnachtsmann glaubte ich seit meinem 4 Lebensjahr nicht mehr. Das war bestimmt eine Falle.
„Wenn sie mich auf den Arm nehmen wollen, dann werden Sie das bereuen. Geld habe ich keins dabei,“ sagte ich zu ihm.
Er schüttelte den Kopf. „Tja, dann gehören sie zu den Menschen, deren Eltern nicht mehr an den Weihnachtsmann geglaubt haben, denn wer nicht an mich glaubt, der bekommt auch nichts geliefert oder geschenkt von mir. Das gehört zu meinem beruflichen Leitbild!“

Erstaunt schaute ich ihn an. „Wer nicht an Sie glaubt, bekommt auch nichts?“
„Ja, genau so ist es. Warum sollte ich Kindern was schenken, wenn sie von ihren Eltern, Großeltern, Tanten und Onkels beschenkt werden?“

Was er da zu mir sagte, machte mich nachdenklich.
„Also belügen die Eltern ihre Kinder, in dem sie ihnen was vom Weihnachtsmann erzählen, aber selbst nicht daran glauben,“ sagte ich zu ihm.

„So kann man es auch sehen,“ meinte er und versuchte ein Paket vom Schlitten zu nehmen.
„Ok, also, da ich sie kennengelernt habe, weiß ich jetzt, dass es den Weihnachtsmann wirklich gibt. Würde das bedeuten, meine Kinder würden nächstes Jahr von Ihnen beschenkt werden?“

„Ja, wenn sie mir helfen meinen Schlitten wieder flott zu machen, denn ansonsten bin ich nächstes Jahr beim Arbeitsamt gemeldet, weil ich meine Arbeit nicht erledigt habe.“

„Ist ja schon gut, ich helfe ihnen, egal ob sie der Weihnachtsmann sind oder nicht,“ gab ich ihm zur Antwort.

Es dauerte ewig bis wir die vielen Pakete vom Schlitten geladen hatten. Mit vereinten Kräften richteten wir ihn auf und packten die Geschenke wieder auf ihn.
Beide kamen wir dabei ins Schwitzen.
Der Weihnachtsmann lächelte mich an. „Gutes erwachsenes Kind. Dieses Jahr wird sich dein innigster Wunsch erfüllen.“
Erstaunt schaute ich ihn an. Woher wußte er was ich mir so wünsche.

Da es verdammt spät geworden ist, durfte ich mich auf seinen Schlitten setzen und er brachte mich zu meinem Auto.
Herzlich verabschiedeten wir uns von einander.
Im Auto sang ich sämtliche Lieder, die mir einfielen vom Weihnachtsmann.

Heute morgen erwachte ich und als ich in den Spiegel schaute, sah ich, dass der Weihnachtsmann mir meinen Wunsch erfüllt hat. Statt einen Mann mit Glatze, schaute mich eine Frau mit langen schönen Haar an.

Kaffeepause somit verlängert… Ich danke allen die zu meinen Beiträgen kommentiert haben. Ich wünsche euch eine besinnliche Weihnachtzeit und einen guten Übergang ins neue Jahr. Bleibt heil und ganz und vor allem - G´sund…

Die Rolle ist leer.

Mein Blick bleibt an dem dünnen Pappröllchen hängen. Links unten baumelt ein klitzekleiner Rest Klopapier. Ach verdammt. Ich beuge mich nach rechts zur Nachfüllschublade. Mein linkes Bein dankt es mir und bekommt wieder ein wenig Gefühl nach der langen Sitzung.

Die Schublade ist ebenfalls leer. Keine neue Rolle.

Ich verfluche meine beiden Kinder. Das wird jetzt unangenehm. Ich sitze im ersten Stock. Unten in der Gästetoilette sollten frische Rollen sein. Es ist 1:30 Uhr in der Nacht. Alle schlafen bereits. Normalerweise würde ich ebenfalls im Bett liegen, aber der Rollbraten meiner Mutter liegt mir schon den ganzen Tag schwer im Magen. Mitten in der Nacht fiel ihm ein, er könnte ja früher abreisen als gewöhnlich. Ich hatte da kein Mitspracherecht.

Leise stemme ich mich hoch. Die Badtür lasse ich geöffnet, damit mir das wenige Licht auf dem Weg nach unten hilft. Die Hose halbherzig hochgezogen meide ich die knarzenden Stellen auf den Stufen nach unten. Ich kriege es ganz gut hin.

Mein nackter Hintern wird kühl. Ich schleiche ins Gästeklo und Voilá: drei Rollen stehen im Regal. Vierlagig und mit Vanilleduft. Viel besser als das Eigene oben im Bad. Gästebonus würde meine Frau jetzt sagen. Angeberei wäre meine Wortwahl. Als würde es den Vorgang würdevoller machen, wenn man Vanilleduft zwischen die Arschbacken bekommt.

Ich beende meinen Toilettengang gleich an Ort und Stelle. Spüle kurz nach. Tappe durch den Flur und werfe einen flüchtigen Blick ins Wohnzimmer. Der Christbaum ist hell erleuchtet. Den Lichtschalter habe ich gegen 22 Uhr ausgemacht. Da bin ich mir sicher. Aber vielleicht habe ich es doch vergessen und die Erinnerung rührt vom Vorabend. Egal. Ich gehe ins Wohnzimmer, tippe mit dem Fuß auf die Lichtleiste. Halte kurz inne. Da liegen Geschenke unter dem Baum. Nicht von mir. Ich habe noch kein einziges Geschenk eingepackt. Die Hälfte habe ich noch nicht mal eingekauft. Wir Männer machen das immer erst im allerletzten Moment. Das ist das Beste an Weihnachten: kurz vor Schluss sind ausschließlich Männer unterwegs. Keine langen Warteschlangen an den Kassen, entspanntes und gezieltes Einkaufen innerhalb kurzer Zeit. Kein Nörgeln und Drängeln. Und notfalls kauft man einen Gutschein ohne vorwurfsvolle Blicke ertragen zu müssen. Vermutlich hat Mira die Geschenke bereits unter den Baum gelegt und dann das Licht vergessen. Ich mache es aus. Die letzte Stufe oben an der Treppe knarzt.

Ich erschrecke mich ein wenig und halt inne. Etwas raschelt leise im oberen Stockwerk. Langsam bewege ich mich Richtung Treppe. Das Licht aus der Toilette nützt hier unten wenig. An der untersten Stufe bleibe ich stehen und starre nach oben. Die Badetür ist zugezogen, nur ein kleiner Lichtspalt ist zu sehen. Jemand bewegt sich darin. Erneut raschelt es.

„Mira?“

Ich flüstere nur, aber das Rascheln hört auf. Leise steige ich nach oben.

„Mira, geht´s dir gut? Ich habe den Rollbraten nicht vertragen und mir die letzte halbe Stunde die Seele aus dem Leib gesch …“.

Die Badetür wird aufgerissen und jemand – nicht Mira, denn die trägt keinen roten Anzug und eine Mütze zum Schlafen – stürmt aus unserem Bad heraus und hoch in den zweiten Stock. Ich stoße einen erschreckten Laut aus. Etwas zwischen Quieken und Rülpsen. Die Person scheißt auf die Stille und flüchtet laut polternd nach oben. Ich renne hinterher. Stolpere und falle auf ein Knie. Das tut höllisch weh. Mira kommt aus dem Schlafzimmer gewackelt und schafft es, mich mit müden Augen böse anzusehen, ehe sie wieder verschwindet. Oben steht ein Fenster offen. Ich beuge mich hinaus und kann nichts sehen. Nichts und niemanden. Das ganze Haus suche ich ab, schleiche durch die beiden Kinderzimmer und schau unter die Betten. Sehe in die Schränke. Alles wie immer. Kein Fremder in roten Klamotten irgendwo. Könnte man verrückt von werden, wenn die Müdigkeit nicht wäre. Habe ich mir wohl nur eingebildet. Ist ja auch zu abgefahren. Wahrscheinlich hat Mira das Fenster aufgelassen, so wie die Lichterketten am Weihnachtsbaum.

Ich muss schlafen. Schnell noch den fermentierten Rollbraten weggespült und dann ins Bett. Leise gehe ich ins Bad. Es riecht echt nicht gut hier drin. Jemand hat bereits abgezogen. Die Schüssel ist leer. Ein kleiner Streifen mittig ist noch vorhanden. Ich benutze die Klobürste. Gehe aus dem Bad und will das Licht löschen. Eine neue Rolle Klopapier ist eingelegt worden. Viele kleine Rentiere mit roten Nasen sind darauf zu sehen, dazwischen Sterne und Funken. Dick und vierlagig. Sieht weich aus. Echt schönes Klopapier. Wo Mira das gekauft hat? Besser als das für die Gäste. Ich grinse.

Lösche das Licht und gehe endlich schlafen.

Weihnachtsstress

«Ich weiss bei Gott wieder nicht wo mir der Bart steht». Der in einem roten Trainingsanzug dasitzende Mann, kratzt sich an der Zipfelmütze. Seine Gedanken kreisen um den heutigen Tag. Es ist immer das Gleiche. Das ganze Jahr nichts zu tun, dann plötzlich Stress pur. Er schaut in die Runde und winkt den Wichteln zu. Die sind seit Tagen damit beschäftigt tausende Geschenke einzupacken.

Ich starte dieses Jahr als Tsenter Kloas in den Niederlanden. Ist gebucht. Als nächstes kommt St. Niklas in Wien und Umgebung. Wichtig ist der Morgenexpresso im Vatikan mit dem Papa. Ich muss ihn wie jedes Jahr auf den Stress an diesem Tag ansprechen. Aber ich weiss jetzt schon, er wird daran nichts ändern wollen. Nach dem gemeinsamen Plauderstündchen geht es als Samichlaus in die Schweizer Berge. Kleines Land aber vielsprachig. Da bin ich gefordert. Nach mehreren weiteren Einträgen in seinem Terminkalender, kommt der Sprung nach Osten. Dort ist Mikulas angesagt. Noch weiter im Osten ist Grossväterchen Frost zu Gast. Ich muss dringend meine Sprachkenntnisse verbessern. Mit einem Klick auf sein Tablet bucht er auch diese Termine. Oh ich habe Kleeschen vergessen. Den drücken wir noch irgendwo dazwischen. Die Luxemburger Kinder wollen mich ganz sicher auch noch sehen. Nach dem Father Christmas in England geht’s schwupp über den Teich. Bevor ich mich als Papai Noel in Brasilien zeige, sind auch dort noch einige weitere Besuche angesagt.

Doch dann ist für dieses Jahr Feierabend. Ich lege mich genüsslich an den Strand und geniesse den Sonnenuntergang. Zum Schluss checkt er nochmals alle fast zweihundert Termine die anstehen. «Packen wir’s an!». Die fleissigen Wichtel applaudieren ihrem Nikolaus zu. «Das wird ein toller Tag». Er wirft sich in seine Berufskleidung, zupft seinen Bart zurecht. Zuletzt pfeift er Knecht Ruprecht zu sich und los geht’s.

Ein seltener Gast

Leise erklang die Musik aus den Lautsprechern, bis sie schließlich verstummte. Enttäuscht drehte ich den Kopf zur Stereoanlage. Warum musste die wundervolle Musik so schnell zu Ende sein? Ich hatte die Ruhe um mich herum so genossen, nur erfüllt vom fünften Klavierkonzert Beethovens, bei der ich so gut abschalten und abtauchen konnte.

In die einkehrende Stille hinein hörte ich ein schabendes Geräusch aus dem Nebenzimmer. Etwas wurde am Boden hin und her geschoben, was beinah ein noch unangenehmeren Laut hervorbrachte. Erschrocken setzte ich mich gerade in meinen Fernsehsessel, um noch einmal zu lauschen. Im ersten Moment war nichts zu hören.

Natürlich!

Warum war Moritz gerade heute auf dieser blöden Weihnachtsfeier? Erst als ich vor der Tür zum Nebenzimmer stand, bewaffnet mit einer halb vollen Wasserflasche, hörte ich erneut schabende Geräusche und leises, ungehaltenes Murmeln. Hastig riss ich die Tür auf, gespannt, was mich erwarten würde.

Vor mir stand ein Mann, gekleidet in roter Hose, ebensolcher Jacke und einer pelzbesetzten Kapuze, der völlig in seine Arbeit vertieft war. Ich starrte den Besucher vor mir entgeistert an, ehe ich ihn schweigend kurze Zeit beobachtete. Gab es ihn also doch?, fragte ich mich.

Da er meine Anwesenheit nicht zu bemerken schien, räusperte ich mich. Viel zu laut, wie ich glaubte. Mein Gast fuhr mit weit aufgerissenen Augen zu mir herum. Die ergrauten Haare flogen nur so herum, genauso wie der brustlange Bart. Das offensichtlich freundliche Gesicht wirkte auf mich erschrocken, sein bereits leerer Jutesack baumelte trostlos an seiner Seite. Hinter ihm waren bunte Päckchen zu erkennen.

Ich war sichtlich irritiert über diesen unerwarteten Besucher. Wie oder wo er hereingekommen war, wollte ich gar nicht erst hinterfragen, da ich wusste, dass der Weihnachtsmann schon seit meiner Kindheit immer einen Weg fand.

„Ich dachte, ich wäre allein …“, nuschelte mein immer noch ratloser Besucher. Ich lächelte ihn freundlich an, während ich sachte den Kopf schüttelte. „Wie du siehst, bin ich auch hier …“, teilte ich ihm belustigt mit, mein Grinsen wurde breiter. Ja, es gab ihn also doch, den Weihnachtsmann. Warum konnte ich daran auch zweifeln.

Ruckartig drehte er seinen Kopf, starrte auf die nur angelehnte Tür hinter mir. Jetzt hörte ich auch jemanden nach mir rufen. Moritz war schon hier, stellte ich unnötigerweise fest.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sich der rot gekleidete Besucher dem Fenster zu. Trotz seines großen Bauchumfangs verschwand er behände durch den geöffneten Flügel. Nur der Jutesack und die Päckchen blieben zurück!

  • Ende-

Dieses Jahr anders.

Der Weihnachtsmann kam durchs Fenster.
Erst plumpste der Sack auf den Boden, dann folgte Santa Claus. Rappelte sich auf, rückte seine versteckte Bauchprothese (dickes Kopfkissen) zurecht und sah sich um.
„Ahhh… Da steht er ja! – Noch nackt. Das kommt mir entgegen. - Stattlich und kerzengerade. - Nordmanntanne ist ok. Sieht stabil aus.“
Er dreht den Baum ein wenig: „Holla! Doch nicht ganz gleichmäßig … Dieser Zweig muss weg und den hier binde ich hoch!“

„Heh! Hör auf, an mir herumzureißen!“

Der Weihnachtsmann reagiert nicht.

„War ja klar! Ein Scharlatan! Habe ich sofort erkannt. Wärst du echt, könntest du mich hören. Weißer Rauschebart, rot-weißes Kostüm a la Cola Werbung amerikanischer Art, genügt eben nicht, um Weihnachtsmann zu sein. Außerdem schaut unser modernes Weihnachtspersonal inzwischen anders aus. Femininer. “

Der Weihnachtsmann, vulgo Santa Claus, kichert leise in sich hinein: „Dieses Jahr also anders. Da wird sie staunen. Wo ist sie überhaupt, die Lady? Geld verbraten? Alles neu kaufen? Um im Trend zu liegen? Ha! Ich komm ihr zuvor.“

Die Lady? Er meint wohl die Hausherrin. Eine gebildete Frau mit erlesenem Geschmack. Sieht man am Wohndesign.
Ich glaube, den Typen kenne ich. Was will der hier? Was soll das heißen, ich komm ihr zuvor?

„Pakete dieses Mal auf dem Baum!“ Raues Lachen entweicht Santas Kehle. Er überlegt: „Was solls. Ich lass das mit den Zweigen, die sind stark genug, die Geschenke zu tragen.“
„Spinnst du? Geschenke gehören unter den Baum. Nicht drangehängt! Willst du mich umbringen? Wie sollen meine feinen Glieder diese Paketlast tragen? Ich bin eine Tanne und kein…Metallständer.“
Santa Claus sortiert Pakete und Päckchen und wickelt einige Größere mit Draht an die unteren Zweige.
„Bleib gerade stehen“ befiehlt er dem Baum „ Ich hoffe, sie haben dich anständig
befestigt.“
„Was denkst du denn? Und wie! Einbetoniert haben sie mich, wie von der Mafia. Eine Riesenschraube in meinen Körper gebohrt. Wie soll ich da nicht gerade stehen!
Ehrlichkeitshalber muss ich zugeben, es war kein Beton, sondern schwerer feuchter Sand. Die Lady hat darauf bestanden. Damit ich es auf meine letzten Tage angenehmer habe. Als Tanne oder Fichte hast du es in diesen Tagen nicht leicht. Für viele von uns ist diese Jahreszeit tödlich. - Warum müssen wir überhaupt sterben? Wofür? Völlig konträr zur wundersamen Weihnachtsbotschaft?! Die vergessen die Menschen meist.
Ein Baum muss sein. Möglichst üppig geschmückt, im neuesten Trend. Wie ist der heuer? Rosa, blau, golden … ? Wie auch immer. - Lametta? Natürlich nicht. Gibt es das überhaupt noch?
Warum muss es ein lebendiger Baum sein? Lasst uns leben und holt euch einen Künstlichen. Da gibt es ganz tolle. Ihr liebt doch inzwischen alles was künstlich ist. Von Fleisch und Brot bis hin zur Intelligenz…selbst die gibt es nun künstlich.
Warum also nicht auch ein künstlicher Weihnachtsbaum? Ökologisch sinnvoll, nachhaltig, kann wieder verwendet werden, schmutzt nicht, keine Nadeln im Teppich usw. Nur Vorteile.
Und wir haben noch viele schöne Jahre vor uns .Vielleicht … Man weiß ja nie.
Im übrigen ist die Lady eine sehr nette Frau. Mit Stil, Verstand und Gefühl für Ästhetik. Sie kauft sicher Glaskugeln in zarten Farben. Leider mag sie kein Lametta! Ich schon!
Ich liebe Lametta. Sie findet es kitschig. Dabei ist Lametta nicht kitschiger als quitschbunte Enten, Giraffen und Schweine, Busse, Lastwagen, Hochhäuser, Riesenmäuse und Drachen, welche sich die Leute heute an ihren Baum hängen. Eher passend zu Halloween, Fasching, Carneval. Sagen meine Kollegen.
Ich wäre gerne behängt, von unten bis oben, mit Lametta. Sozusagen geschmückt bis an die Zähne. Ein letztes Aufleuchten vor dem unweigerlichen Ende.
Würdevoll.
Ja, ich weiß, Lametta ist nicht umweltfreundlich! Wie so vieles von dem Trödelkram.
Ok. Edel designt ist auch gut. Dahinscheiden in Schönheit.
Hauptsache, es wird vor mir nicht gestritten, sondern bewundert und gelacht.“

Es knistert und brummelt. Leise rieseln Tannennadeln.
„Was ist nun wieder los? Santa rafft gar nichts?!“

„Herrschaftzeiten! Geh raus da!“
Du lieber Himmel! Was für ein Tölpel! Nun hängt auch noch sein Bart in meinen Zweigen.
„Lass los, du blöder Baum!“
„Wer ist hier blöd? Vorsicht! Meine Nadeln! Nicht so zerren! Hast du kein Feingefühl?“ Ach … Jetzt habe ich eine kahle Stelle. Wie sieht das denn aus?
Santa wickelt ein Band um den ramponierten Zweig.

„Ist das hässlich! Dieser falsche Weihnachtsmann ist dekomäßig eine Nullnummer.
Hoffentlich verschwindet er bald. Lange spiele ich nicht mehr mit. - Nein! Nicht dieses fette Buch genau dorthin. Eine Trilogie! Ich fasse es nicht.“

Santa, inzwischen mit zerfleddertem Bart, die Mütze verrutscht, die Hose ebenso, wischt sich den Schweiß von der Stirn. „So.“ Er atmet tief durch. „Das kommt auf die Spitze. Dann hab ichs.“

„Dieses Riesenei?? Bist du verrückt? Viel zu schwer! Das gibt ein Unglück! Was ist das überhaupt?“

Santa Claus grinst zufrieden.
„Hah! Sieht aus wie Gold. Und ist genau so schwer. Sie wird Augen machen, und glauben…“ Er lacht hämisch „Nein, ich habe nicht im Lotto gewonnen und rückfällig bin ich auch nicht geworden. Aber fündig. In diesem Laden, Bahnhofsnähe, da kriegst du alles!- Schade, dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann, wenn sie entdeckt, was es tatsächlich ist!“

„Und ich bin gespannt auf dein Gesicht, wenn du sie gleich siehst!“

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Die Haustüre wird geöffnet. Santa Claus erstarrt. Flüstert: „Zu früh! Verdammt!“ Er schwankt wie betrunken. Verliert das Gleichgewicht. Greift nach dem erstbesten Halt.
„Jetzt hält der sich an mir fest! Lass los! Lass sofort los! Das geht schief!“
Santa, den Bart verflochten in den Zweigen, sieht inzwischen aus wie ein verkleideter Biber. Er klammert sich an den Baum, wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring.
In Zeitlupe gehen Baum und Santa in Schräglage, die wild baumelnden Geschenke unterstützen die Gravitation und so landen sie unter Geschepper und Getöse auf dem Boden.
Dort bleiben sie ermattet liegen. Verwickelt in innigen Umarmungen, Christbaum, Santa Claus - nun ohne Bart – denn dieser ziert den Baum, Geschenkpakete und -päckchen.

Die elegante Frau steht in der Türe, erfasst mit einem Blick die Lage. Gelassen wendet sie sich um: „Sehen Sie, Herr Polizist, ich habe es Ihnen gesagt! Ich wusste es. Wo mein Exmann auftaucht, herrscht Chaos.