Bäng
„Frohe Weihnachten!“ rufe ich beim Rausgehen aus dem Büro. Während die Tür hinter mir zufällt, denke ich „Ups!“ Sagt man ja heutzutage nicht mehr. Schon gar nicht, wenn man wie ich 'n totaler Heide ist. Na schön, total nicht, bin ja immerhin getauft. Aber da konnte ich noch nicht mitreden, das zählt für mich also nicht. Ist ja auch egal. Jedenfalls sagt keiner in unserem Büro mehr „Frohe Weihnachten“ - das kann echt nur noch alten Knackern wie mir rausrutschen.
„X-Mas-Party“ darf man aber komischerweise noch sagen, weil da gehen einige Mitarbeiter heute hin. Ich nicht. Ist mir zu doof. Da hängen dann kleine Weihnachtsmänner an den Vorhängen, das Catering-Servicepersonal läuft wahlweise als Weihnachtsmann (oder -männin?) oder Christkind herum und verteilt Deko und es läuft unsägliche, passende Musik. Die ist aber nicht das Hauptproblem, sondern dass alle Bürothemen verboten sind. Herr Siegmann, der HR-Chef der Firmengruppe, meinte es wahrscheinlich gut. „Es sollen ja schließlich alle Spaß haben und nicht mehr an die Arbeit denken“, stand in der Einladung. Das wäre auch super, aber wenn man ein Thema vermeiden muss, denkt man unweigerlich dran, oder? Außerdem stehen dann alle rum und suchen verzweifelt nach büro-fernen Smalltalk-Themen. Ich hasse Smalltalk, zumindest den auf der „X-Mas-Party“. Tja, und deshalb gehe ich jetzt nachhause.
Während ich auf das Haus zugehe, kontrolliere ich wie immer die Fenster der Nachbarn: Wo brennt Licht, wo nicht? Die meisten sind anscheinend im Moment ausgeflogen. Auch die alte Schachtel mit dem überfeinen Gehör unter mir. Sehr gut. Grade hatte ich nämlich eine Idee…
Zuhause habe ich mir schnell einen kleinen Imbiss reingezogen - mehr darf ich nicht, muss ja auf meine Linie achten. Dann hab ich mich vor die kleine Vitrine mit den CDs gehockt und gesucht. Endlich ziehe ich die schmale Box heraus. Erleichtert stelle ich fest, dass die CD auch tatsächlich drin ist. Das ist nicht so selbstverständlich, wenn man mit musikinteressierten Teenies zusammenlebt… Aber die sind ja jetzt noch nicht da. Sonst würden sie sicher motzen und mir den Spaß verderben.
Also ran ans Werk: Als Erstes wird die Lautstärke hochgedreht. Okay, jetzt rein in den Player mit der Scheibe, „play“ drücken, in der Mitte des Raumes Aufstellung nehmen, warten.
Ich seufze einmal tief und koste die Vorfreude aus.
Es hat etwas wahnsinnig Befreiendes, wenn mitten im Weihnachtsendspurt „Hard Rock Halleluja“ durch die Wohnung wummert und in meiner Fantasie die zugehörigen Zombies headbangen. Doch, ja, das hab ich echt gebraucht. Ach was, eine Runde geht noch. „Replay“ und ab die Post!
Doch da kommen plötzlich merkwürdige Geräusche aus unserem offenen Kamin, und ich und er starren uns ungläubig an. Da hockt nämlich ein Mann in der traditionellen Weihnachtsmann-Kluft an. In unserem Kamin. Ich bin zweihundertprozentig sicher, dass der vorhin noch nicht da war. Also…
„Was machen Sie da?“
„Und Sie? Soll das tanzen sein?“ Er schmunzelt, und ich kann verdammt noch mal nicht dagegen an, ihn sympathisch zu finden. Er scheint aus dem Kamin zu fallen, fängt sich aber mit einer eleganten Rolle ab und steht auch schon vor mir.
„Noch mal: Was machen Sie hier? Durch den Kamin können Sie ja wohl nicht reingekommen sein,“ Ist ja gar kein echter Kamin, alles nur Show. Das Ding wird mit Gas betrieben. Meine Ex hatte sich den eingebildet.
„Also, wenn Sie’s genau wissen wollen,“ erwiderte der Mann in freundlich-unaufgeregtem Ton, „ich verfrühe mich.“
„Ach nee.“ Gut, Weihnachten ist noch nicht ganz, aber… „Und womit verfrühen Sie sich?“
Verständnislose Falten bilden sich auf seiner Stirn. „Na, gucken Sie mich doch mal an! Noch nie von mir gehört?“
Ich gucke ihn an, stelle fest, das er ziemlich groß und muskulös aussieht und abgesehen von der Kleidung nicht wirklich zum Klischee passt. „Tja, das kommt drauf an, wer Sie sind. Ein Magier? Versteckte Kamera? Der Bio-Lehrer von Torben?“ Alle anderen Lehrer meiner Kinder kenne ich ja schon.
„Najaaa… Magier ist nicht völlig falsch, schätze ich.“ Er sieht an sich herunter und wird rot. „Oh, hab ich vergessen.“ Er schnippt mit den Fingern. „Besser?“ Jetzt hat er einen großen, wabbeligen Bauch.
Ich muss mich mal eben an der nächsten Wand abstützen. Nachdem ich mich gefangen habe, starre ich ihn ein paar Sekunden lang wortlos an, ehe ich frage, „Aber warum kommt der Weihnachtsmann zu uns - jetzt nach all den Jahren, wo es hier nur noch Teenager und Erwachsene gibt?“
Er lacht. „Für die Kleinen ist das Christkind zuständig. Und das geht nur dorthin, wo’s die Familie wirklich nötig hat. Heißt es. Ich hab keine Zeit, da hinterherzuschnüffeln, können Sie sich ja denken. Ich bin für alles über zehn zuständig, und da kann ich auch beim besten Willen nicht alle abdecken. Aber … Nun ja, eines Ihrer Kinder hat sich ganz dringend was gewünscht.“ Er guckt entschuldigend.
„Will ich wissen, was das ist?“
„Nein, aber Sie müssen. Sonst kann ich den Wunsch nicht erfüllen.“
„Wieso nicht?“
„Es ist ein Tanzkurs. Für Sie.“
„Wie bitte?“
Er hebt die Hände. „Hey, ich hab mir das nicht ausgedacht. Und eigentlich hab ich auch gar keine Zeit für diesen Mist.“ Er schnippt mit den Fingern und hält plötzlich einen quadratischen Briefumschlag in der Hand. „Frohe Weihnachten. Oder was immer Sie sonst feiern.“ Er steht schon mit einem Stiefel im Kamin.
„Was?“
„Na, was feieren Sie denn zu Weihnachten?“
„Äh … Bring-Deine-Kinder-mal-kurz-zum-Lächeln-Abend, denke ich.“
Er streckt mir den Umschlag entgegen. „Na, dann machen Sie mal. Headbangen können Sie ja schon. Zeit, das Repertoire zu erweitern. Schönen Bring-Deine-Kinder-mal-kurz-zum-Lächeln-Abend!“
Ich nehme den Umschlag, und der Typ mit dem herbeigezauberten Bauch hockt sich vollends in den Kamin. Er zwinkert mir verschwörerisch zu und verwindet vor meinen Augen.
Ich komme mir blöd dabei vor, aber ich untersuche dennoch den Kamin gründlich nach versteckten Geheimtüren. Nix.
Schließlich lege ich den Umschlag unter den geschmückten Tannenzweig, den sich meine umweltbewussten Kinder statt eines Baumes gewünscht haben.
Rums! Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, und die beiden kommen in ungewöhnlich harmonischer Stimmung rein. Ich sehe sie an und kann nur noch grummelig denken: „Wer von euch beiden findet, ich könne nicht tanzen?!“