Er erwartete, dass die Tür jeden Augenblick unter dem Furor des jungen Kameramannes erzittern würde. Noch einmal rief er nach seiner Frau: «Doro, ruf sofort die Polizei.»
Dann ließ er sich in die Knie sinken, die Hände und das Gesicht flach gegen den Boden gedrückt, um sich vor einem möglichen Schuss zu schützen.
Richard Berger hatte keine Ahnung von Waffen. Weder von ihrem Gewicht noch von ihrer Durchschlagskraft. Vier Zentimeter amerikanischen Ahorns – reichte das aus, um ein Geschoss abzufangen? Das Geschoss, das der ältere Mann eben gegen sich selbst eingesetzt hatte?
Es war alles so schnell gegangen. Noch vor fünf Minuten hatte er sich gefragt, warum seine Frau ihn mit kleinen Sticheleien wie dieser hässlichen Krawatte aufziehen musste.
Und jetzt war er Zeuge eines Selbstmordes geworden. Oder war es gar Mord? Warum hatte der jüngere Mann nichts getan? Er hatte einfach dagestanden, gefilmt und Richard am Ende sogar angeschrien, als ob er an allem schuld sei.
Die Fragen brachten ihn fast um den Verstand, doch plötzlich fiel ihm die Stille auf.
Draußen war kein Geräusch zu hören. Und auch im Haus hörte er nichts. Es war still. Zu still.
Richard stützte sich mit den Händen vom Boden ab und kauerte einen Moment vor der Tür, bevor er seinen Mut zusammennahm und einen kurzen Blick durch den Türspion wagte.
Der Kameramann war verschwunden. Und zu seiner Überraschung lag auch kein Toter vor seiner Haustür.
Er öffnete die Tür einen Spalt und sah … nichts.
Jedenfalls nichts, was darauf hindeuten konnte, was er in den letzten Minuten erlebt hatte. Kein bedrohlicher Kameramann, aber auch keine Leiche. Er zweifelte an seinem Verstand? Es musste doch einen Hinweis darauf geben, was eben passiert war.
Mit klopfendem Herzen rannte Berger durch den Vorgarten, bis er die schmiedeeiserne Gartentür erreichte. Dort blieb er kurz stehen, den Blick suchend auf die Straße gerichtet.
Ihm wurde schwindelig vor Angst. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre wieder zu Boden gesunken, doch dann hörte er ein vertrautes Geräusch. Das mächtige Schnaufen seines Nachbarn Hermann Richter, der mit seinem Dackel Rudi die allmorgendliche Runde drehte.
«Moin, Richard!» Hermann Richter grüßte ihn mit der Gelassenheit eines Mannes, der nichts zu befürchten hatte. «Sehen wir uns gleich in der Kirche? Rudi musste nochmal schnell für kleine Rüden. Der pinkelt uns sonst die ganze Bude voll, wenn wir ihn allein lassen.
Richter lachte schallend, tätschelte den kleinen Hund und sah ihn dabei gespielt vorwurfsvoll an. Alles an ihm war so erschreckend normal, dass es Richard fast den Boden unter den Füßen wegzog.
Ehe er seine Gedanken sortieren konnte, war sein Nachbar mit einem letzten Gruß verschwunden, den Dackel fröhlich hinter sich herziehend.
Was ging hier vor? Hätte Hermann Richter den fliehenden Kameramann nicht sehen müssen? Vor allem mit einer blutigen Leiche auf dem Rücken?
Richard dreht sich um und lief zurück ins Haus. Erst auf halbem Weg fiel ihm auf, dass etwas Entscheidendes fehlte: Blut. Keine Spur von Blutflecken – weder im Türbereich, wo der ältere Mann sich umgebracht hatte, noch auf dem Gehweg bis zur Straße. Nicht ein Tropfen.
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, rief er ein weiteres Mal nach seiner Frau.
«Doro, hast du die Polizei angerufen?»
Wieder keine Antwort. Richard unterdrückte einen Fluch. Warum tat sie immer so, als hörte sie ihn nicht?
Er griff selbst zum Telefon, um die 110 zu wählen. Die Kirche musste heute ohne ihn auskommen – die Fragen, die sich Richard jetzt stellte, konnte der Herr nicht beantworten.
Doch als er den Hörer abhob, war da wieder nur diese unerträgliche Stille. Kein Wählton, kein Summen.
Richard bückte sich, um den Stecker zu überprüfen, und bemerkte im selben Moment, dass auch der Router tot war. Stromausfall?
Er drückte den Lichtschalter. Es blieb dunkel.
Ein Gedanke blitzte auf: Dorothea hatte vorhin noch ihre Haare trocknen wollen. Konnte ihr neuer Föhn den Stromausfall verursacht haben?
Mit einem unguten Gefühl lief er in den Keller, um die Sicherung zu überprüfen. Die Tür des Stromkastens stand offen. Im Innern lag ein Handy. Ein Handy, das er sofort erkannte, auch wenn es weder ihm, noch seiner Frau gehörte.
Vor nicht einmal zwanzig Minuten hatte ihm jemand dieses Handy mit rot blinkendem Lämpchen ins Gesicht gehalten.
Seine Knie wurden weich, doch er zwang sich zur Ruhe. Mit einem geübten Handgriff stellte er den Strom wieder an, dann nahm er das Handy in die linke Hand.
Es fühlte sich kalt und fremd an.
Er rannte die Kellertreppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, und rief lauter, als er es erwartet hatte: «Doro, antworte mir gefälligst! Hast du die Polizei alarmiert?»
Die Wände schienen seine Frage zu schlucken. Sie blieb unbeantwortet.
Im Erdgeschoss angekommen, hastete er von Raum zu Raum.
Das Schlafzimmer: leer.
Die Küche: keine Doro.
Sein Büro, das Bücherzimmer, das Gäste-WC: alles Verlassen.
Selbst das Badezimmer, wo Dorothea Bergers Föhn in diesem Moment hätte röhren müssen, war still. Der Föhn lag unangetastet im Schrank.
Richards Herz hämmerte in seiner Brust. Er zwang sich, zweimal tief einzuatmen. Dann zog er sich mit einem Ruck das Treppengeländer hoch, wieder zwei Stufen auf einmal nehmend, während seine linke Hand das fremde Handy umklammert hielt.
«DOROOOO!!!» Seine Stimme überschlug sich, als er den Flur des ersten Stocks erreichte. Allein sein Echo antwortete ihm.
Außer Atem und mit schmerzenden Seitenstichen stieß er die erste Tür auf: Jonas‘ altes Jugendzimmer. An der Tür klebte noch immer das selbstgebastelte Schild, das sein Sohn vor so vielen Jahren geschrieben hatte: «Bitte respektiert meine Privatsphäre.»
Alles war noch genauso, wie es Jonas hinterlassen hatte – die eingerahmten Poster von Caspar David Friedrich an der Wand, das Regal voller Studienbücher, der Schreibtisch, auf dem noch ein alter Taschenrechner lag.
Dorothea hatte darauf bestanden, das Zimmer nicht anzutasten, selbst nachdem Jonas nach Hamburg gezogen war, um in einer Wirtschaftsprüferkanzlei zu arbeiten.
Richards Blick wanderte durch den Raum, und für einen Augenblick schien die Vergangenheit greifbar nah. Er schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit, um in Erinnerungen zu schwelgen.
Richard drehte sich um und lief den Flur entlang, bis er vor der zweiten geschlossenen Tür stand: das ehemalige kleine Reich seiner Tochter.
Annika kam schon seit Jahren nicht mehr so oft zu Besuch, wie man es sich als Elternteil wünschte.
Im Gegensatz zu Jonas‘ unverändertem Studentenzimmer hatte Dorothea aus Annikas Zimmer in verblüffender Geschwindigkeit einen Hobbyraum gemacht.
Noch bevor er die Tür öffnete, sah er es vor seinem inneren Auge: die Nähmaschine auf dem Sideboard, den Stepper in der Ecke, Doros Laptop auf Annikas altem Schreibtisch.
Dies war der letzte Raum. Die letzte Möglichkeit.
Richards Hand lag auf der Türklinke. Mit einer Mischung aus panischer Angst und verzweifelter Hoffnung drückte er sie langsam herunter. Genau in diesem Moment vibrierte das Handy in seiner anderen Hand, und ein vertrauter Sound ertönte.
«Love me Tender» von Elvis Presley.
Ihr erster Tanz. Ihr Lied. Ihr gemeinsames Leben in einer Melodie. Doch es war nicht sein Handy, das jetzt vibrierte. Und es war nicht Doro, die ihn anrief.
Das Display zeigte nur ein Wort: Unbekannt.
Er zögerte. Sein Blick wanderte durch den Spalt der Tür ins Hobbyzimmer seiner Frau, wo alles still und unberührt war. Er ließ die Schultern hängen und lehnte sich an den Türrahmen. Das summende Handy lag wie Blei in seiner Hand.
Die Melodie füllte die Leere des Hauses, und legte sich wie eine Decke über Richard Berger. Er bekam keine Luft mehr. Seine Augen flimmerten, während die Sekunden verstrichen und er auf das Display starrte. Wie in Trance hob er schließlich doch einen Finger und drückte auf das grüne Symbol.
Als er das Telefon ans Ohr gehoben hatte, hörte er eine unbarmherzige Stimme.
«Guten Tag, Herr Berger. Was würden Sie dafür tun, um Ihre Frau wiederzusehen?»