Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

Teil 2

»Was ist passiert«, fragte Dorothea. »Das hörte sich an wie ein Schuss.«
»Nichts, was uns irgendwas angeht«, sagte Richard. »Aber es wäre gut, wenn du die Polizei rufst. Sicher ist sicher.«
»Und was soll ich sagen?«
Richard fühlte das Brennen seiner Magensäure im Hals, das übliche Aufstoßen, wenn er stress hatte. Und den hatte er. »Sag einfach, sie sollen vorbeikommen. Es wäre dringend.« Er schob seine Frau sanft Richtung Wohnzimmer, wo das Telefon stand. »Kannst du das erledigen?«, krächzte er. »Mein Magen, das ewige Sodbrennen.«
Es dauerte ewig, bis die Polizei kam. Richard Berger schätzte, fast eine halbe Stunde. In der Zwischenzeit hatte er seine Frau mit beruhigenden Worten von der Haustür ferngehalten, was nicht einfach gewesen war. Vor allem, weil die Konaks, seine Lieblingsnachbarn von schräg gegenüber, die sich wie immer für alles interessierten, was sie nichts anging, auf ihr Haus zu gerannt waren und nicht nur Sturm geschellt, sondern rhythmisch an die Haustür gewummert hatten. »Nichts, was uns irgendwas angeht«, hatte er immer wieder gemurmelt und gehofft, dass die Polizei kam und endlich für Ordnung sorgte.

Natürlich schellte die Polizei auch bei ihnen, zwei junge Männer, vielleicht Mitte Zwanzig, die vor allem überfordert wirkten. »Und sie sind sich sicher, dass Sie den Mann nicht kannten«, fragte der Blonde mit dem Dreitagebart. »Und den anderen Mann auch nicht.« Er wirkte nicht überzeugt.
Richard zuckte nur hilflos mit den Achseln.
Wenigsten organisierten die Polizisten einen Reinigungstrupp, der die Sauerei vor ihrer Haustür beseitigte, mehr schlecht als recht, wie Richard sich eingestand, aber wenigstens so, dass sich ihm nicht gleich der Magen umdrehte.

Die böse Überraschung folgte am Montag. Richard hatte noch nicht seinen Platz im Großraumbüro der Versicherung eingenommen, für die er im Hauptberuf als Schadensregulierer arbeitete, als ihn die Blicke seiner Kollegen und Kolleginnen aufschreckten. Beunruhigt sah er sich um. Alle starrten ihn an.

Dorothea stand in der Tür, die von der Diele in die Küche führt. Sie war kreideweiß und unfähig, sich zu bewegen. „Was… was war das“ fragte sie mit bebender Stimme. Ihr war natürlich vollkommen klar, dass etwas Schreckliches passiert ist. Sie hatte ja mitgehört, nur hatte sie wegen der versperrten Tür nichts sehen können. Zum Glück. „Komm, setz Dich“ sagte Berger und führte sie am Arm in die Küche. Dorothea setzte sich zitternd an den soliden Küchentisch aus Massivholz, während Berger das Mobilteil des Telefons holte, das wie immer ordentlich in der Ladestation in der Diele stand. „Was war das, Richard?“ fragte sie noch einmal. Er zögerte. „Gleich. Ich schaue nach, ob er weg ist. Und Du rufst jetzt die Polizei. Ich bin gleich wieder da.“ „Sei vorsichtig“ flüsterte sie, während sie den Notruf wählte.

Berger ging zögernd zur Tür. Er drückte sich eng an der Wand entlang, wie man es in Krimis im Fernsehen sieht. Falls der zweite Mann durch die Tür schießen sollte, hatte es so eine bessere Chance, sagte er sich. Er lauschte nach draußen. Kein Geräusch war zu hören. Aus der Küche hörte er Dorothea, wie sie mit der Polizei sprach. Sie war völlig aufgelöst. „Ja, ich bleibe dran“ hörte er sie sagen. Er fasste sich ein Herz und spähte durch den Spion. Am Rande seine Blickfeldes konnte er den Toten liegen sehen. Der andere Mann war nicht zu sehen. Er öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt. Nichts. Aus einiger Entfernung hörte er Polizeisirenen. Das war einer der Vorteile des Lebens in der Großstadt, sagte er sich. Hilfe war immer nur wenige Minuten entfernt.

Berger schloss die Tür und ging zurück zu Dorothea. Er setze sich ihr gegenüber an den Küchentisch. „Erinnerst Du Dich an meine Auslandsprojekte in Rumänien, damals nachdem Ceaușescu gestürzt war? Ich hatte damals ziemlich Stress mit ein paar der ehemaligen Parteifunktionäre, die wir aus allen Betrieben entfernt haben. Klar, wir haben denen erstmal ihre Welt auf den Kopf gestellt. Die haben uns beschimpft und uns gedroht. Aber wir haben das nicht weiter ernst genommen. Die meisten waren ja froh, dass der Spuk endlich vorüber war. Da draußen waren zwei Männer. Du hast den einen ja gehört. Der andere hat sich erschossen. Ich kannte ihn aus einem Verpackungsmittel-Betrieb in Cluj. Eigentlich wollten wir ihn loswerden, aber wir brauchten ihn als Übersetzer. Nachdem der Betrieb abgewickelt war, habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Bis heute, als er sich vor unserer Haustür umgebracht hat.“
Kurz darauf flackerten Blaulichter durch die Straße vor dem Haus. Berger öffnete die Haustür und setzte sich auf dem Stuhl in der Diele. Eigentlich mochte er es gar nicht, wenn etwas in der Diele herumstand. Aber Dorothea und er hatten beide bereits die sechzig überschritten. Sie erfreuten sich zwar bester Gesundheit, aber hin und wieder war es doch keine schlechte Sache, sich beim Schuhebinden setzen zu können.

Vier Polizisten in Uniform und mit schusssicheren Westen stürmten mit gezogener Waffe auf das Haus zu. Es war deutlich weniger spektakulär, als man es aus Krimis kennt. Keine schwarzen SUV, die mit quietschenden Reifen vor dem Haus stoppen und eine Menge martialisch aussehender, vermummter Krieger ausspucken. Einfach nur Polizisten, die aber einen durchaus entschlossenen Eindruck machten. Einer zielte mit der Pistole auf Berger. Der hob beschwichtigend die Hände. „Er ist weg“ teilte er dem ersten der Polizisten mit. „Ist noch jemand im Haus“ wollte der Polizist wissen. „Ja, meine Frau. In der Küche. Sie hat bei Ihnen angerufen“ . Der Polizist entspannte sich sichtlich und winkte zwei Rettungssanitäter zu sich. Seine Kollegen gingen immer noch mit der Waffe im Anschlag um das Haus herum. Auf der Straße wurden Absperrbänder gezogen, allzu neugierige Autofahrer und Passanten weggeschickt und danach die Straße abgesperrt.

Eine Frau und ein Mann kamen schnellen Schrittes vom Tor auf ihn zu gelaufen. Sie erfüllten jedes Klischee von Tatort-Kommissaren, dachte Berger und musste unwillkürlich grinsen „Kriminalhauptkommissarin Nagelsmann, das ist mein Kollege Kriminalkommissar Dombrowski“ stellte die Beamtin sich vor. Eva Nagelsmann war eine sportliche Mittvierzigerin, brünett mit wachen grau-grünen Augen. Sie trug eng anliegende dunkelblaue Jeans, schwarze Stiefeletten und über einer cremefarbenen Bluse eine offene cognacfarbene Lederjacke. Harald Dombrowski war mindestens zehn Jahre jünger, von normaler Statur. Ein klassischer Durchschnittstyp in einem dunklen Anzug der eher günstigen Preisklasse mit antrhazitfarbenem Hemd und klassischen Schuhen. Seine Waffe zeichnete sich deutlich unter dem Sakko ab.

Ein Rettungssanitäter trat auf die Beamten zu und schüttelte den Kopf. Er ist sichtlich gestresst. „Nichts zu machen, er war sofort tot. Hat sich den Hinterkopf weggeschossen. Offiziell muss natürlich der Notarzt noch den Tod feststellen.“ „OK, danke“ antwortete Dombrowski. „Wir informieren dann mal die Staatsanwaltschaft.“

„Herr Berger, können wir ins Haus gehen?“ fragte Nagelsmann. Ich würde auch gern sehen, wie es ihrer Frau geht. Sollen wir Ihnen sicherheitshalber einen Arzt holen?“ „Nein, es geht schon“ antwortete Berger. „Ich muss Ihnen etwas sagen.“ fuhr er etwas leiser fort. Nagelsmann schaute ihn verwundert an. „Was ist los? Geht es Ihnen wirklich gut?“ „Ich kenne den Mann, also ich kannte ihn, meine ich“ flüsterte Berger. Eva Nagelsmann erstarrte. „Wo ist Ihre Frau“ erkundigte sie sich. „In der Küche, da hinten gleich rechts“ antwortete Berger. „Harald“ wandte sich Nagelsmann an ihren Kollegen. „Du sprichst in der Küche mit Frau Berger und ich gehe mit Herrn Berger ins Wohnzimmer.“

Am Wohnzimmertisch angekommen erläuterte die Beamtin Berger das weitere Vorgehen. Sie bat ihn, zunächst den Vorfall genau zu schildern. Berger versuchte, kein Detail auszulassen. „Und dann hat er sein Handy auf mich gerichtet und gebrüllt, ich hätte den anderen umgebracht. Er hat mich als Ausbeuter und Kapitalist beschimpft.“ In diesem Moment summt Nagelsmanns Telefon. „Einen Moment, ich muss da kurz rangehen“ unterbricht sie das Gespräch. Sie hört aufmerksam zu, greift sich an die Stirn. „Scheisse, das fehlt mir gerade noch! Danke für die Info. Können Sie rausfinden, wer das hcohgeladen hat? Wenigstens eine IP-Adresse oder sowas? … Alles klar“. Sie legt auf. „Sie gehen gerade viral, Herr Berger.“ wandte sie sich wieder ihrem Gesprächspartner zu. „Er hat das Video online gestellt. Meine Kollegen versuchen gerade, das irgendwie einzudämmen. Wird aber eine Weile dauern und so lange verbreitet es sich weiter. Aber zurück zu Ihnen. Sie sagten, sie kennen den Toten?“ „Ja, Sein Name ist Eugen Marinescu. Ich habe ihn 1990 in Cluj-Napoca getroffen, in Rumänien. Ich war damals Unternehmensberater und wir haben nach dem Sturz Ceaușescus alte Betriebe abgewickelt. Er war ein alter Parteifunktionär. Eigentlich hätten wir ihn sofort rausgeworfen. Aber wir brauchten ihn als Übersetzer. Nach Abschluss des Projektes habe ich nie wieder von ihm gehört, bis er heute vor unserer Tür stand.“

Richard Berger rief selbst bei der Polizei an. Seine Frau Dorothea wollte ihm nicht glauben. Kein Wunder, wer würde solch ein Irrwitzige Sache auch glauben. Herr Berger verstand ja selbst nicht was er da erlebt hatte. Doch nachzusehen traute sich seine Frau auch nicht, zumindest soviel Verstand hatte Sie in der Situation noch behalten. Der Anblick…Herr Berger konnte seinen Gedanken nicht zu Ende fassen. Das schrille Geräusch der alten Klinge lies Ihn Inne halten. Er hatte schon ein Muster in den Teppich gelaufen, so energisch ist er im Kreis gelaufen. Die Polizei würde doch bestimmt mit einem Großaufgebot auftauchen. Ein Mord vor der eigenen Haustüre. Ein Albtraum wird wahr und sie waren mittendrin. Wieso hatte er nur die Sirenen nicht gehört? Diese Situation verstörte Ihn wohl mehr als er es sich selbst eingestehen wollte. Abermals klingelte es. „Richard, nun geht doch endlich an die Tür“ ermahnte ihn Dorothea. Selbst traute sie sich nicht vor die Tür. Sie blieb stur in ihrem Lederimitatsessel sitzen und strich zum hundertsten mal über das Blumenmuster des Sesselschoners. Mit schweissnassen Händen öffnete Herr Berger die Tür. Ihm graute vor dem Anblick…

Zwei Polizisten, eine brünette Dame mit strengem Pferdeschwanz und ein eher schlaksiger junger Typ standen vor seiner Türe. „Sind sie Herr Berger?“ fragte die Polizistin streng. Zögerlich nickte er. „Uns wurde mitgeteilt, dass sich hier ein Schuss ereignet haben soll?“ wieder nickte er, denn er brachte kein Wort mehr heraus. „Sie haben bei ihrem Anruf berichtet, jemand sei erschossen worden?“ abermals ein Nicken. „Nun erzählen Sie uns endlich was vorgefallen ist, schliesslich haben Sie uns her gerufen Herr Berger.“ Die Polizistin stemmt die Hände in die Hüften und der hochgewachsene Mann zog die Augenbrauen skeptisch in die Höhe. Doch Richard Berger brachte kein Wort heraus. Er war blass wie ein Stück Papier – und ich rede hier nicht von diesem braunstichigem Recyclingpapier, sondern dem Hellweißen.

Unterhalb der Treppen lag keine Leiche mehr!

Fortsetzung, Teil 1.
(Zweites Ereignis, an einem anderen Ort, am selben Tag. Eine Art Iteration)

Alvara Pech lebte noch vor zwei Jahren in Winnemucca und kam dann nach Deutschland. Wann immer sie gefragt wurde, wo denn bitte dieses Winnewas – also Winnemucca – liegt, antwortete sie: »In Nevada.«
Weitere Fragen dazu blieben in der Regel aus. Stattdessen folgten mitfühlende Blicke, als Einleitung zur unvermeidlichen Kette von Ratschlägen. Überhaupt schienen die meisten Deutschen sehr hilfsbereit zu sein, auch wenn es manchmal etwas irritierend herüberkam.
Nicht wenige aus ihrem neuen Bekanntenkreis standen Alvara zu Beginn etwas unterkühlt gegenüber, wurden aber freundlich und zugänglicher, nachdem das zwischenmenschliche Eis denn endlich geschmolzen war.
Zudem gab es da noch ihren Nachnamen.
Pech.
Ein verbreiteter Name unter Hispanic Americans – und immer wieder ein Aufhänger vonseiten ihrer Gesprächspartner – jedoch nur selten angenehm für sie selbst. Pech war eben auch ein bitterlustiges Wort der deutschen Ironie. Pechsache war hierbei ein Klassiker, gerade wenn es um Alvaras gesamte Situation ging, Pech gehabt ein wiederkehrendes Phänomen in Sachen Politik und das berühmte Zusammenhalten wie Pech und Schwefel kam ihr ebenfalls in so mancher Form entgegen – in solchen Fällen als Solidaritätsbekundung. Für genau diese war Alvara sehr dankbar, wenn man bedachte, dass sie so gerade eben aus den Good Ol´USA flüchten konnte, nachdem sie bereits in eines der berüchtigten texanischen Deportation Camps gesteckt worden war – Eject Hubs, wie manche diese zynisch nannten. Extrem traumatisch. Über Details hielt sie sich vorzugsweise bedeckt, was mehr aussagte, als verschwieg. Vom Tag ihrer Flucht an galt sie offiziell als staatenlos.

Ihre Eltern flohen nach Portugal. Alvara jedoch zog es jedoch nach Deutschland.
Vielleicht war ihr Nachname ein Grund gewesen, warum sie sich bereits während ihrer Jugendzeit dazu entschlossen hatte Deutsch zu lernen, doch daran konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Dank europäischer Sonderregelungen, für gut gebildete Flüchtlinge und Migranten aus den USA, war es ihr schnell vergönnt, einen attraktiven Job zu finden. Ihre Sprachkenntnisse erwiesen sich als ein Riesenplus.
Ein Privileg des Schicksals eben.
Fate und Karma.

Sie saß gedankenverloren auf einer Parkbank und starrt den Screen ihres Pads an. Das tägliche Doomscrolling am Vormittag. Eigentlich überflog sie nur die Headlines. Zu viele schlechte Nachrichten – in detaillierter Form ein Overkill, den sie nicht brauchte. Deutsche News-Portale wurden hierbei von ihr bevorzugt; für Alvara eine Art kulturelle Abgrenzung von der alten Heimat, auch wenn es inhaltlich nur allzu oft um eben diese ging.
Wieder einmal tauchte diese eine Überschrift auf. Vielleicht ein typisches Beispiel für den deutschen Erklärungszwang. Vermisster Sohn des Technikgenies Matas Kudirka wohl tot – Leiche stark verwest. Wie kompostiert muss jemand sein, bis er in Deutschland als wirklich verstorben gilt?
»Ist das normal?«, fragte sie und drehte sich zur Seite – in der Erwartung ihren Arbeitskollegen Jörg Ahlhorn neben sich zu sehen, mit dem sie an diesem Sonntag im Alsterpark saß. Dieser war wortlos aufgestanden und lief schnellen Schrittes auf jemanden zu – sein Smartphone hielt er hoch, als würde er filmen. Er schien sehr aufgebracht zu sein. Nur kurz zuvor hatte er einen sehr entspannten Eindruck gemacht und über banale Dinge des Alltags gesprochen.

Erschrocken beobachtete sie, wie Jörg nach der Tasche eines bärtigen Mannes zu greifen versuchte und einen Schlag ins Gesicht dafür kassierte. Dieser rieb sich anschließend seine geballte Faust und sah zu einem anderen Mann herüber. Beide trugen Jeans und Jacken aus Lederimitat, blickten sehr ernst drein und schienen nicht überrascht zu sein. Sie wirkten eher unauffällig – wie Vater und Sohn in niveauarmer Kleidung.

»Ich will nur zehntausend Euro, mehr nicht! Das sind doch Peanuts!«, schrie Jörg wie irre, zog nach kurzem Zögern einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und stach dem älteren Mann durch das rechte Auge in den Kopf. Dieser sackte sofort zusammen.
Danach rannte Jörg mit wutverzerrt schäumendem Mund davon. Sein Smartphone hielt er filmend vor sich her, als ob er jemandem damit folgte.

Der jüngere Mann kniete sich zu dem Toten nieder, sprach leise vor sich hin und schien völlig gelassen zu sein – als ob ihn das Ganze kaum berührte.

Alvara war zutiefst erschüttert. Sie blieb auf der Bank sitzen und blickte in die Abgründe eines Déjà-vu.
Fate und Karma.

Dann rief sie die Polizei.

Er ging zu dem kleinen Teewagen, der neben der schweren Ledercouch stand und füllte einen wuchtigen, aufwendig geschliffenen Becher zweifingerbreit mit Whisky. Er ließ sich auf die Couch fallen und nahm einen tiefen Schluck. Seine Frau kam, mit dem Telefon in der Hand wieder ins Zimmer und sah ihn fragend an. „Hast du die Polizei gerufen?“, fragte Berger seine Frau. Der Vorfall vor der Haustüre und der Whisky schnürten ihm die Kehle zu und seine Stimme klang krächzend und rau. „Was ist den passiert und warum die Polizei?“ Dorothea schaute ihren Mann verständnislos an. „Vor unserer Haustüre hat sich Einer erschossen, das ist passiert!“ Richard Berger schrie die Antwort förmlich heraus. Seine Frau stieß einen spitzen Schrei aus und ließ das Telefon fallen. Berger stand auf hob den Apparat auf und wählte die 110. Er erklärte dem Beamten am anderen Ende kurz den Grund seines Anrufs, dann setzte er sich wieder und trank das Glas leer, während seine Frau immer noch wie erstarrt dastand und ihn ungläubig anstarrte. Erst nach endlos scheinenden Minuten hatte sich Dorothea wieder gefangen. Sie setzte sich zu Richard und klammerte sich an seinen Arm. Auf die Frage von ihr ob sie vielleicht nachsehen sollten, weil alles nur eine Einbildung sein könnte reagierte ihr Mann nicht. Er schenkte sich noch einen Whisky ein, aber Dorothea nahm ihm ebenso wortlos das Glas aus der Hand und trank es in einem Zug leer. Die Türklingel schreckte sie auf. „Na endlich,“ seufzte Richard und ging zur Türe. Er sah durch den Spion zwei Polizeibeamte und öffnete erleichtert. Die beiden Beamten grüßten förmlich.
„Polizeihauptmeister Huber,“ stellte sich einer der Beiden vor. Bevor er weiterreden konnte fiel ihm Berger ins Wort. „Gut dass sie da sind! Wir wollten gerade zur Kirche, da klingelte es und ein Mann hat sich vor meinen Augen erschossen. „So, so, vor ihren Augen,“ wiederholte Huber und sah dabei seinen Kollegen vielsagend an. „Wo soll das den gewesen sein?“ wollte dieser wissen und er sah dabei seinen Kollegen lächelnd an. Da wurde es Berger zu dumm und er forderte die beiden Polizisten auf zur Seite zu gehen, dann würden sie den Toten liegen sehen. Die Beamten gingen demonstrativ weit auseinander und gaben Treppe und Weg frei, aber es war nichts zu sehen. Der Weg vom Gartentor zum Haus war wie immer nichts deutete darauf hin, dass hier ein Verbrechen geschah.

Es dauerte eine gute Dreiviertelstunde, bis es erneut an der Haustür klingelte.

Berger sass im Wohnzimmer auf der ledernen Couch und hatte einen leeren Cognac-Schwenker vor sich auf dem Couchtisch stehen. Seine Hände zitterten leicht.

„Gehst Du bitte an die Tür und schaust nach, wer das ist?“ bat er seine Frau. „Es wird hoffentlich die Polizei sein.“ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Aber sei vorsichtig!“

Dorothea Berger ging mit leisen Schritten zur Haustür und sah durch den Türspion. Zwei uniformierte Polizeibeamte standen vor der Tür, eine junge, dunkelhaarige Beamtin mit einem schmalen Gesicht, und ein älterer, etwas fülliger Beamte. Beide drängten sich unter das schmale Vordach, weil es draussen in Strömen goss. Im Hintergrund sah sie am Strassenrand einen Streifenwagen parken.

Frau Berger öffnete die Tür. „Guten Morgen“, begrüsste sie die Besucher mit leicht schwankender Stimme. „Es ist gut, dass Sie da sind. Es ist etwas Schreckliches passiert.“

„Sie haben bei uns angerufen?“ fragte der Beamte. „Sie sind Frau Berger?“, setzte er nach, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Ja“, fuhr Dorothea Berger fort, „mein Mann war an der Haustür und hatte einen Streit mit zwei unbekannten Männern. Einer von ihnen hat sich vor seinen Augen erschossen….in den Kopf geschossen.“

„Haben Sie den Vorgang beobachtet?, fragte die junge Beamtin.

„Nein. Ich stand im Flur vor dem Garderobenspiegel. Wir hatten uns gerade für die Kirche fertig gemacht.“

„Wo ist Ihr Mann jetzt?“ Der ältere Beamte nahm aus einer Umhängetasche ein Notizbuch. „Könnten wir ihn sprechen?“

„Ja, natürlich“, antwortete Frau Berger. „Er sitzt im Wohnzimmer und erholt sich von dem Schock.“

Sie ging vor zum Wohnzimmer, die Beamten folgten ihr.

„Richard, die Polizei ist da“, sagte sie kurz. „Die Beamten möchten mit dir sprechen.“

Berger, der eingesunken auf der Couch gesessen hatte, erhob sich kurz zur Begrüssung und bekannte dann: „Ich bin noch ganz durcheinander.“

Der ältere Beamte begann: „Erzählen Sie uns, was heute Morgen vor Ihrer Haustür passiert ist.“

„Ich habe so etwas noch nie erlebt.“ Berger schüttelte ein wenig den Kopf. Dann schilderte er die Ereignisse, die mit dem Klingeln begannen und mit der Bluttat endeten.

Der ältere Beamte machte sich Notizen.

Berger beendete nach einer Viertelstunde seinen Bericht. Er wirkte erschöpft.

„Und Sie haben unmittelbar nach dem Schuss die Tür geschlossen und sich ins Wohnzimmer zurückgezogen?“, hakte die junge Beamtin nach.

„Ich stand unter Schock. Ich glaube, ich habe mich instinktiv in Sicherheit gebracht.“

„Und ihre Frau?“

„Sie hat die Polizei angerufen und ist zu mir ins Wohnzimmer gekommen.“ Berger fügte hinzu: „Wir haben uns beide vor da draussen gefürchtet.“

Der ältere Beamte schaute von seinen Notizen auf und wandte sich an Dorothea Berger: „Was haben Sie von den Vorkommnissen an der Haustür mitbekommen?“

„Ich habe zwei fremde Männerstimmen gehört, die einen heftiger werdenden Wortwechsel mit meinem Mann hatten….und dann fiel dieser eine Schuss.“

„Gesehen haben Sie nichts?“

„Nein. Ich stand im Flur. Die Haustür war nur einen Spalt offen. Und mein Mann stand davor.“

„Das ist erst einmal alles“, sagte der ältere Beamte und klappte sein Notizbuch zu. „Wir werden den Vorfall zu Protokoll nehmen. Ich gehe davon aus, dass sich demnächst ein Kommissar bei Ihnen melden wird, um weitere Untersuchungen einzuleiten.“

Er verabschiedete sich und wandte sich mit seiner Kollegin zum Gehen. „Noch etwas“, sagte er im Hinausgehen, „sagen Sie uns bitte Bescheid, wenn sich diese Typen bei Ihnen wieder melden.“

Als sie wieder allein waren, schaute Dorothea Berger ihren Mann an: „Du, Richard, ist Dir nichts aufgefallen?“

„Ich weiss nicht.“ Berger schaute auf sein Glas.

„Die Polizei ist doch durch die Gartentür zu unserer Haustür gegangen.“

„Ja?“

„Sie hätten doch etwas sehen müssen.“

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Dorothea Berger nahm ab und meldete sich.

„Für Dich“, sagte sie und gab ihrem Mann den Hörer. Berger sagte kurz seinen Namen. Die Stimme am anderen Ende war die eines Mannes. Er erkannte sie sofort. Es war der jüngere Mann von der Haustür.

Sonntagsroutine

Die Polizei musste nicht lange überzeugt werden, Streifenwagen zu schicken. Zeitgleich mit seinem Anruf hatte wohl die ganze Nachbarschaft an diesem ehemals sonnigen Vormittag den Schuss gehört. Seine Frau war nicht in der Lage den Anruf zu tätigen. Sie saß mit zittrigen Händen auf dem blumengemusterten Sofa und atmete aufgeregt.
Noch während er das Telefonat mit der Einsatzzentrale führte, hörte er die Martinshörner, die aus sämtlichen Richtungen immer lauter werden.
Mit dem mit dem schnurlosen Telefon lief er ans Fenster. Der Kameramann war nach dem Schuss und seinem Gezeter verschwunden. Hätte er sich den Fluchtweg und ein Fluchtfahrzeug merken sollen? In der Aufregung war daran nicht zu denken. Er wollte nur die Tür zwischen sich, seiner Frau und dieser albtraumhaften Szenerie bringen.
Nachbarn schauten ebenfalls vorsichtig zu seiner Einfahrt und der dortliegenden Leiche des alten Mannes. Keiner wagte es jedoch, hinaus zu gehen.
»Es werden gleich Kollegen bei Ihnen sein, Herr Berger. Bitte bleiben Sie bis dahin weiter am Telefon.«
So hatte er sich seinen Morgen nicht vorgestellt. Die allsonntagliche Routine wurde durch den Vorfall jäh unterbrochen. Nach der Kirche war bereits ein Tisch für zwei bei seinem Lieblingsitaliener reserviert. Danach sollte der Besuch bei den Schneiders folgen, mit Spaziergang und anschließendem Kaffee. Abends hätte der Krimi auf ihn gewartet. Nun hatte er den Krimi bei sich im Vorgarten.
Ein erster Streifenwagen fuhr in die Straße und stellte sich direkt vor der Einfahrt.
»Herr Berger, ich habe soeben mitgeteilt bekommen, dass die erste Streife angekommen ist. Bitte öffnen Sie ihnen die Tür, aber nähern Sie sich nicht dem Tatort. Die Kollegen werden dann alles Weitere mit Ihnen klären.«
Ein knappes »Danke« brachte Richard Berger heraus, bevor er auf den roten Hörer auf seinem Telefon drückte und die Tür einen Spalt öffnete.
Die beiden jungen Beamten stiegen aus dem Fahrzeug. Während der eine im Kofferraum ein weiß-rotes Warnband herausholte, machte sich der andere daran näher an die Leiche heranzutreten.
Ein ziviler Einsatzwagen brauste heran und noch bevor der Wagen hielt, sprang eine stämmige kleine Frau in den Fünfzigern heraus. »Stopp!« Mit schnellen Schritten kam sie auf den Beamten zu. »Verunreinigen Sie nicht meinen Tatort!«
Ein Tatort. Das war es. Der metallene Geschmack auf der Zunge, ausgelöst durch den Geruch des Blutes, führte bei Richard Berger zu Magenkrämpfen. Er wehrte sich gegen die Übelkeit und blickte weg dem am Boden liegenden Mann.
»Sperren Sie hier ab und lassen Sie niemanden durch!«
»Ich wollte nur sehen, ob er noch…«
»Das sieht man doch! Das Blut läuft hier ja schon in den Gullideckel und die Hirnmasse ist auf dem Rasen verteilt. Wenn die Sanis kommen, sollen sie sich um die Anwohner kümmern. Dem da ist nicht mehr zu helfen!« Sie wandte sich dem Haus zu. »Herr Berger, hat Ihr Haus einen zweiten Eingang?«

Es dauerte nicht lange und Kriminalhauptkommissarin Bäumler stand in seinem Wohnzimmer. Er hatte sie an der Garage vorbei über die Terrasse gelotst. Vorher hatte sie noch die ankommende Spurensicherung beauftragt, den Tatort weiträumig zu untersuchen und weitere Beamte angewiesen zusammen mit den Sanitätern nach den Anwohnern zu schauen.
Nun war er mitten in seiner Zeugenaussage. Seine Frau wurde getrennt von ihm von einem anderen Kriminalbeamten befragt, der sich knapp mit »Ebert« vorgestellt hatte.
Alle möglichen Gedanken gingen Richard Berger durch den Kopf. Er erzählte kurz und knapp, was geschehen war. Bäumler hörte aufmerksam zu und machte sich auf einem etwas kitschigen Block mit zwei umarmenden Teddybären Notizen.
»Sie haben also die beiden Männer noch nie in ihrem Leben gesehen?«
»Nein, das sagte ich doch schon.«
»Als Personenbescheibung des jüngeren Mannes habe ich bis jetzt notiert: Zirka Einsachtzig, braune kurze Haare. Braune Lederjacke, blaue Jeans.«
Berger versuchte, das kindhafte Gekrakel auf dem Notizblock zu entziffern, während Bäumler vorlas.
Sein Handy in der Tasche vibrierte. Er versuchte, es zu ignorieren. Die Kommissarin schaute von ihrem Block hoch, wie eine Lehrerin, die einen Schüler beim Schwätzen erwischte.
»Es hört schon gleich auf.«
»Schauen Sie schon nach, wer es ist. Wenn es nichts Wichtiges ist, drücken Sie den Anrufer weg.«
Er schaute auf das Display: »Anonymer Anrufer«.
Er wollte den Anruf wegdrücken, doch Bäumler hielt ihn zurück.
»Machen Sie den Lautsprecher an«
»Ja«, sagte Richard, nachdem er abgehoben hatte. Er rechnete schon wieder mit einer Umfrage zum Heizverhalten oder Stromverbrauch, doch er hörte als Begrüßung nur ein Wort, das blechern und vorwurfsvoll durch den Lautsprecher im ganzen Zimmer hallte: »Mörder!«

Seine Frau rührte sich nicht sondern blickte ihn mit schreckensweiten Augen ungläubig an. >Er hat sich umgebracht< sprach sie mit zittriger Stimme, die immer schriller wurde, >er hat sich umgebracht< Berger dem selbst vor Aufregung schlecht wurde ging an ihr vorbei, um die Polizei zu informieren und entschied mit Blick auf seine Frau, dass ein Krankenwagen auch eine gute Idee wäre. Grade, als er den Hörer seines Haustelefons heben wollte, er war immer stolz drauf gewesen das er zuhause auf Handys verzichten konnte, klingelte ebendieses. Unsicher blickte er seine Frau an, die immer noch auf die geschlossene Haustür starrt und vor sich hinmurmelte und nahm den Hörer ab. >Berger< sagte er zögerlich >Papa! Gott sei dank bist du da.Bitte Papa du musst mir Helfen< Berger atmete kurz auf. Für einen kurzen Moment hatte er gedacht das der Anrufer etwas mit der schrecklichen Situation vor seiner Haustür zu tun haben könnte, aber es war nur sein Sohn Michael der erst vor einem halben Jahr nach Halle (Saale) gezogen war, um Kunstgeschichte zu studieren. Normalerweise freute sich Richard, wenn Michael anrief auch wen er nicht ganz einverstanden, mit der Entscheidung seines Sohnes Kunst zu studieren, war. >Michael ich muss auflegen ich kann jetzt nicht sprechen ich rufe dich später an, um es zu erklären < Grade als Berger auflegen wollte, um endlich die Polizei anzurufen hörte er eine Stimme an seiner Haustür, die sein Blut gefror. >Herr Berger sie sollten ihrem Sohn besser zuhören was er zu sagen hat. Es könnte sein Leben retten! < erschrocken drehte er sich um und sah in das Gesicht des zweiten Mannes, der neben seinem Handy einen Schlüssel in der Hand hielt, an dem ein großer Hundeanhänger baumelte. Der Schlüssel von Michael.

Polizeikommissar Alfred Spohn fuhr sich seit seiner Ankunft am Tatort, ständig durch sein schon spärliches Haar. Der Tote ist bereits eingepackt worden und zurück blieb nur ein großer Blutfleck und die mit Kreide gemalten Umrisse seines Körpers. Vom zweiten Mann keine Spur.
»Kennen Sie die Männer?« Fragte er. Dabei lag sein Blick auf dem ungleichen Paar auf dem Sofa.
»Nein Herr Kommissar. Sie standen einfach nur da und drohten mir, ich meine…«
»Dann wissen Sie auch nicht, wie die Männer hießen, nehme ich an?«
»Nein, ich…«
»Und Sie, Frau Berger?« Unterbrach er Richard Bergers Gestammel, dass seit Eintreffen seiner Einheit nicht abgeklungen war. »Waren Ihnen diese Männer bekannt, oder sind Sie ihnen schon einmal begegnet?«
»Nein! Natürlich nicht. Mit solchen Menschen pflegen wir keinen Umgang, Herr Kommissar. Wir sind anständige Leute, genau wie unsere Freunde.« Empört stieg seine Stimme eine Oktave höher.
»Herr Berger, bitte. Ich habe ihre Frau gefragt. Frau Berger, wissen sie irgendetwas?«
Doch diese saß einfach nur da und starrte zu Boden. Ihr eleganter Zopf, den sie sich extra für die Kirche gesteckt hatte, saß noch genauso gut wie vor zwei Stunden. Als würde sie gleich aufstehen und einfach das Zimmer verlassen.
Es musste der Schock sein, dachte sich der Kommissar, als er sich im Wohnzimmer umsah. So ein sauberes und strukturiertes Haus hatte er selten in seiner 30-jährigen Karriere gesehen. Das war ihm gleich aufgefallen.
Um etwas klarzustellen, Dorothea war eine Hausfrau. Das Haus war ihr Lebenssinn. Was wäre sie für eine schlechte Ehefrau, würde sie sich dieser Aufgabe nicht voll und ganz hingeben.
»Herr Kommissar, Bitte. Meine Frau ist verstört, lassen Sie sie in Frieden.« Dabei legte er die Arme um ihren gekrümmten Körper und zieht sie an sich.
Spohn bemerkte, wie seine Geduld sich dem Ende neigte und wollte, laut schnauben. Doch er hielt inne, als er sah, wie sich Frau Berger bei der Berührung versteifte. Ihr Mann schien das zu bemerken und flüsterte etwas in ihr Ohr.
Daraufhin sah Dorothea auf. »Mein Mann hat recht.« Sie sieht dem Kommissar direkt in die Augen. »Ich kenne diese Männer nicht.«
Wäre Alfred Spohn nicht schon so lange Polizist, hätte er ihr wahrscheinlich geglaubt. Doch etwas an ihrer Haltung widersprach ihren Worten. Dorothea Berger hatte etwas zu verbergen. Doch was war das?
Ein Ruf unterbrach seine Gedanken. »Wir müssen weg, Ein weiterer Vorfall.«
Alfred Spohn betrachtete immer noch die Frau, die wieder zu Boden sah.
Der Polizist kam näher und flüsterte ihm halblaut ins Ohr. »Noch ein Selbstmord, Herr Kommissar.«

Richard und Dorothea warteten im Wohnzimmer auf die gerufene Polizei. Leute versammelten sich und liefen im Garten umher, Rufe ertönten: „Mörder! Kapitalistenschwein!“ Quälende fünfzehn Minuten brauchten die Polizeiwagen bis sie ihr Blaulicht in den Kristallvasen der Vitrine reflektieren ließen.
„Platz da! Treten Sie zurück“, ordneten die Beamten an. Der Menschenauflauf vor dem Eingangsbereich wurde zurückgedrängt und mit Polizeibändern weitläufig abgesperrt. Passanten zückten ihr Handy um die Aktionen der Beamten festzuhalten. Es nieselte. Ein Pavillon wurde aufgestellt und eine Person in Schutzkleidung begann mit der kriminologischen Arbeit an der Leiche.
Minuten später traf Kriminalhauptkommissar Manfred Tegel mit Kriminalkommissarin Sarah Meyers am Schauplatz ein. Dutzende Gaffer versperrten den Zugang zum Grundstück der Bergers. Der kantig wirkende Tegel bahnte sich, mit Sarah im Schlepptau, den Weg zum Tor. Sie zeigten den Polizisten die Dienstausweise und gingen zu der in Weiß gehüllten Forensikerin, die Tegel noch nicht kannte. Der die Platten färbende und Rasen düngende Blutfluss, forderte Abstand.
„Grüß Gott. Kripo Frankfurt, Tegel mein Name. Und das ist meine Kollegin Sarah Meyers.“ „Moin zusammen. Else Schneider, von der Rechtsmedizin, Uni-Klinikum Frankfurt.“
Tegel fragte: „Haben sie schon erste Erkenntnisse?“ „Alles deutet darauf hin, dass sich der Mann selbst das Leben nahm.“ Elsabe zeigte auf die im Sicherungsbeutel liegende Pistole. „Dies ist der Tatort, die Tatzeit liegt maximal dreißig Minuten zurück, welche Fingerabdrücke auf der 9mm Pistole sind und ob der Mann unter Drogen stand, kann ich erst nach der Obduktion sagen.“
„Danke, schicken sie die Ergebnisse bitte zu meinen Händen“, sagte Tegel und gab der Forensikerin seine Visitenkarte.
Polizeiobermeister Steuber kam näher: „Der junge Mann heißt Oskar Schmitz und hat den Tathergang gefilmt, er steht hier drüben.“
Sie gingen zu dem jungen Mann, nannten Dienstgrad und Namen und erfuhren das der Tote, Theodor Storm, sein Freund war. „Sie haben gesehen, wie er sich erschoss und haben das gefilmt?“
„Er hatte keine Wahl, der Mörder ist im Haus, er hat ihn dazu getrieben!“, sagte Oskar. „Zeigen sie mal“, sagte Tegel und schaute sich mit Sarah die Szene an. Oskars Augen wurden feucht. „Eindeutig Selbstjustiz“, sagte Sarah, „das Smartphone bekommen sie später wieder, gehen sie jetzt nach Hause.“
Tegel klingelte. Richard öffnete die Tür.
„Da ist der Mörder! Sie haben ihn auf dem Gewissen!“, rief Oskar. Steuber brachte Oskar zum Notfallseelsorger.
Sie zeigten die Dienstausweise und wurden ins Haus gebeten. „Ich bin fassungslos, wieso erschießt sich der Kerl direkt vor unserer Haustür?“, fragte Richard Berger. „Kannten sie den Mann?“, fragte Tegel. „Nein, habe den noch nie gesehen.“
Ein Bestattungswagen fuhr vor und holte die Leiche ab.
Richard Berger erzählte den Vorgang aus seiner Sicht und endete mit der Bemerkung: „Der Kerl muss nicht ganz dicht gewesen sein.“
„Er hieß Theodor Storm“, sagte Tegel.
Dorothea Berger mischte sich ein: „-Storm- sagten sie, Theodor Storm hatte mit Freunden von uns, eine Reise in die USA gebucht. Drei Wochen Tennessee zum Blues-Festival.“ Richard schnaubt. „Und wenn schon, ich kann mir nicht alle Gesichter merken, die bei uns eine Reise buchen.“ Dorothea sagte: „Meine Freundin erzählte, dass sie in Memphis einem Voodoo Magier begegneten, der ihr Angst machte. Und sich Theodor Storm nach dem Treffen verändert hat.“
Richard Berger hatte den Mann nicht erkannt, dem er im Reisebüro einen Tipp beim Aktienkauf gegeben hatte. Er selbst hatte sein Kapital bei diesem Einsatz eingebüßt und der Gutgläubige Selbstmörder anscheinend auch. Doch nimmt man sich wegen lumpiger zehntausend Euro das Leben? Berger wirkte in sich gekehrt als Tegel sich verabschiedete. „Kommen sie morgen früh ins Präsidium, sie müssen ihre Aussage noch unterschreiben.“

„Ruf die Polizei an!“, Richard’s Stimme wurde lauter, als er sich wiederholte. Dorothea, die im Flur wie angewurzelt dastand, erwachte aus ihrer Schockstarre und suchte hektisch ihr Telefon in ihrer Handtasche. Vor Nervosität fielen ihr ein paar Gegenstände aus der Tasche und kullerten auf den Boden. Richard verbarrikadierte die Tür, blieb aber dort stehen, um durch den Spion die Lage im Blick zu behalten. Wer war der Mann, der draußen am Weg lag? Hatte der junge Typ ihn bedroht? Warum hatte er dann nicht auf diesen gezielt? Tausend Fragen schwirrten in seinem Kopf herum. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Polizei endlich eintraf. Der Tatort wurde abgeriegelt und immer mehr Einsatzkräfte versammelten sich im Vorgarten der Familie Berger. Die Spurensicherung begann draußen mit der Arbeit und Richard und Dorothea wurden von zwei Beamten interviewt. Nachdem er ihnen die Situation geschildert hatte, schnaubte der ältere der beiden Polizisten. „Jetzt haben wir diese Spinner auch schon in unserer Stadt, die breiten sich aus wie eine Krankheit“, sagte er mürrisch und mehr zu sich selbst. „Sie meinen?“, fragte seine Frau verwundert, die sich aktuell aus der Konversation zurückgehalten hatte. Der jüngere Beamte versuchte, eine Erklärung abzugeben, doch der Andere fiel ihm ins Wort. „Wissen Sie wir haben in unserem Job mit vielen Irren zu tun, deshalb werden wir uns jetzt wieder an die Arbeit machen“, er stand energisch auf und brachte seinen Kollegen mit einem strengen Blick zum Schweigen. „Melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas auffallen sollte“. Mit diesen Worten verabschiedete er sich und sein Partner stapfte ihm folgsam hinterher.

Dorothea nahm die Hand ihres Mannes, sah ihn mit besorgtem Blick an und fragte: „Meinst du die haben es auf uns abgesehen?“ Richard schüttelte den Kopf und seine Stimme wurde leise: „Nein ich glaube nicht, sonst gäbe es nicht offensichtlich schon mehrere Fälle, aber die versuchen das zu vertuschen.“ Richard erhob sich vom Küchentisch und ließ Dorothea alleine dort sitzen. Er stürmte in den Vorgarten, an der Leiche und dem Trubel vorbei und auf die Straße hinaus. Er brauchte frische Luft, um klar denken zu können. Misstrauisch sah er sich an der Straße um und lehnte sich dann an eines der Fahrzeuge an. Jetzt brauchte er erstmal eine Zigarette, der Gottesdienst würde für sie heute ausfallen. Plötzlich vernahm er Stimmen vor dem Fahrzeug, während etwas eingeladen wurde. Er belauschte unfreiwillig das Gespräch. „Hast du gehört? Die Opfer in den anderen Städten waren allesamt Pfarrer, dieser hier wahrscheinlich auch“, sagte eine raue Stimme. „Wirklich? Aber nicht von unserer Kirche hier, den kenne ich nämlich“, flüsterte eine hellere Stimme, die zu einer Frau gehörte. „Ja ich hab da interne Infos von Kollegen aus Mannheim, meinst du, das ist so eine religiöse Sache?“, fragte er. „Mhm ich weiß nicht, aber in die Luft gesprengt hat sich zumindest keiner, aber wer weiß…“, sagte die Frau, bevor die Seitentür des Wagens zugeschlagen wurde. Richard zuckte zusammen und bis er jemand bemerkte, dass er das Gespräch belauscht hatte, lief er mit seiner brennenden Zigarette zurück zum Haus. Er stolperte vor Aufregung über die Türschwelle, um dann auf einem kleinen Gegenstand im Flur auszurutschen. Er fluchte, derweil rutschte ihm sein Glimmstängel aus dem Mund und er landete auf seinem Hintern. Er hob den Übeltäter, der wie ein Lippenstift seiner Frau aussah, doch die Kappe war abgefallen und er bemerkte, dass es sich um einen USB-Stick handelte. Verwundert starrte er das getarnte Teil an und schob es dann in seine Hosentasche. „Dorothea“, rief er und richtete sich stöhnend auf. Er humpelte zur Küche und öffnete die Tür. Seine Frau beendete sofort ihr Telefonat und fuhr erschrocken zu ihm um. „Mit wem hast du gesprochen“, fragte er. Sie antwortete zu schnell und er ahnte, dass sie ihn anlog, ließ sich aber vorerst nichts anmerken. Er griff in seine Tasche, behielt sein Fundstück jedoch bei sich. Was zum Teufel passierte hier nur?

Seinen Rücken presste er gegen den Türrahmen, in der Hoffnung, dass dies alles nicht Geschehen war. Die Worte des jungen Mannes hallten in seinen Ohren.
„Sie haben ihn umgebracht!“
Nein! Er hat keinen umgebracht. Oder? Man gibt nicht irgendwelchen wildfremden Leuten an der Tür zehntausend Euro, weil sie drohen sich umzubringen?
Dorothea eilte auf ihn zu „Richard? Was ist passiert?“
Bevor er antwortete, klingelte es erneut.
Sein Herzschlag pumpte in seiner Brust. Mit buttrigen Knien wendete er sich dem Spion in der Tür zu. Der Jüngere stand davor, in aller Seelenruhe, mit dem weiter filmenden Handy in der Hand.
„Öffnen Sie Herr Berger! Ihr Spiel startet jetzt und hier!“
„Ruf die Polizei Dorothea!“ Richard Berger riss die Tür auf.
„Was ist das hier für ein miserabler Scherz? Was wollen Sie von mir?“
Auf dem Plattenweg lag die Leiche des älteren, das Blut hatte sich weiter ausgebreitet. Von den Platten floss ein Blutrinnsal herunter, in das Beet, auf das dort liegende Eichenlaub. Für einen Schabernack zu echt, ebenso die roten Sprenkel und Stücke mit Haaren auf dem Buchsbaum.
Der Mann, vielleicht zwanzig, antwortete nicht. Er drehte den Bildschirm des Handys Richard zu. Es erschien das Gesicht einer jungen Frau und ihm schnürte es die Luft ab. Hinter ihm schrie Dorothea auf: „Nicole!“
Aschfahl leuchtete ihr Gesicht und die dunklen Augen sahen riesig in die Kamera.
Ihr Mund bewegte sich, der Ton war aus. Das Bild schwenkte weiter und Richard sah, dass man jemand anderes wegführte. Beide Hände hielt dieser vors Gesicht.
Der junge Mann zog das Handy wieder fort, filmte erneut.
„Sie sind dran Herr Berger. Ich Binge Sie zu unserem nächsten Teilnehmer. Erhalten Sie von ihm zehntausend Euro, lassen wir ihre Tochter und sie frei. Schaffen Sie es nicht, bringen Sie sich auf der Stelle um oder Ihre Tochter stirbt.“
„Verweigern sie die Teilnahme oder verständigen sie die Polizei -“, sein Blick huschte zu Dorothea, „ stirbt ihre Tochter. Folgen Sie mir Herr Berger."

Dorothea beugt sich über das Telefon, ein altes schwarzes Ungetüm – Moment, ein altes schwarzes Ungetüm?
„Was soll denn das?“, ruft Dorothea Berger alias Felizitas Fetzer. „Man möchte doch annehmen, dass hier ein modernes Tastentelefon stünde! Ja, bin ich denn nur von Dilettanten umgeben? Und du!“, blafft sie nun Richard Berger alias wenig bekannter Schauspieler an, der einen Schritt auf sie zumacht, „bleib mir weg, du Scheusal!“
„Feli, so beruhige dich!“, ruft Stéphane dazwischen, der Regisseur. Wobei, Regisseur ist er ja erst seit diesem Film, davor: Kinderfilmregisseur. Sie hätte sich niemals von ihm einlullen lassen dürfen.
Frankfurt, Kapitalismuskritik … sind das die Themen dieser Zeit? In Frankreich - dem Land, das sie groß gemacht hat – erschüttert der Fall Gisèle P. die Menschen. Das wäre doch ein Thema. Und eine Traumrolle für sie. Stattdessen: Kapitalismuskritik. Und sie, die Grande Dame des europäischen Kinos, ausgezeichnet mit vier (!) Césars als beste Hauptdarstellerin, nur Isabelle, das Miststück und gute Freundin, war erfolgreicher als sie, und zwei Oscars (Isabelle: zéro), spielt die Nebenrolle in einer drittklassigen deutschen Produktion. Wobei, sind deutsche Produktionen nicht immer drittklassig? Sie hätte es sich also denken können.
„Maman, bitte“, versucht es Stéphane noch einmal, dieser charismatische und doch völlig untalentierte Sohn.
Aber nein, sie hat sich entschieden. Sie wird dieser Produktion den Rücken kehren, besser spät als nie. Zu Hause, in Paris, stapeln sich die Drehbücher, sie ist begehrt wie nie – l’actrice la plus convoité du monde –, dank einer klugen Rollenauswahl, 21 Kinofilme in 46 Berufsjahren, keine Fernsehfilme, keine Filme oder Serien für diese Streamingdienste, zu denen sich alle herablassen. Binge-Watching, Koma-glotzen, wegsuchten. Das neue Opium fürs Volk. Das wäre doch auch ein Thema. Stattdessen: Der alte Hut Kapitalismuskritik.
Felizitas zeigt mit einem ihrer langen Finger auf ihren Mann, der es erneut gewagt hat, sich einen Schritt zu nähern. „Ich will die…“, setzt sie an, als ein Schrei sie unterbricht.
„Er ist wirklich tot!“

Er erwartete, dass die Tür jeden Augenblick unter dem Furor des jungen Kameramannes erzittern würde. Noch einmal rief er nach seiner Frau: «Doro, ruf sofort die Polizei.»
Dann ließ er sich in die Knie sinken, die Hände und das Gesicht flach gegen den Boden gedrückt, um sich vor einem möglichen Schuss zu schützen.

Richard Berger hatte keine Ahnung von Waffen. Weder von ihrem Gewicht noch von ihrer Durchschlagskraft. Vier Zentimeter amerikanischen Ahorns – reichte das aus, um ein Geschoss abzufangen? Das Geschoss, das der ältere Mann eben gegen sich selbst eingesetzt hatte?

Es war alles so schnell gegangen. Noch vor fünf Minuten hatte er sich gefragt, warum seine Frau ihn mit kleinen Sticheleien wie dieser hässlichen Krawatte aufziehen musste.
Und jetzt war er Zeuge eines Selbstmordes geworden. Oder war es gar Mord? Warum hatte der jüngere Mann nichts getan? Er hatte einfach dagestanden, gefilmt und Richard am Ende sogar angeschrien, als ob er an allem schuld sei.

Die Fragen brachten ihn fast um den Verstand, doch plötzlich fiel ihm die Stille auf.
Draußen war kein Geräusch zu hören. Und auch im Haus hörte er nichts. Es war still. Zu still.
Richard stützte sich mit den Händen vom Boden ab und kauerte einen Moment vor der Tür, bevor er seinen Mut zusammennahm und einen kurzen Blick durch den Türspion wagte.
Der Kameramann war verschwunden. Und zu seiner Überraschung lag auch kein Toter vor seiner Haustür.

Er öffnete die Tür einen Spalt und sah … nichts.

Jedenfalls nichts, was darauf hindeuten konnte, was er in den letzten Minuten erlebt hatte. Kein bedrohlicher Kameramann, aber auch keine Leiche. Er zweifelte an seinem Verstand? Es musste doch einen Hinweis darauf geben, was eben passiert war.

Mit klopfendem Herzen rannte Berger durch den Vorgarten, bis er die schmiedeeiserne Gartentür erreichte. Dort blieb er kurz stehen, den Blick suchend auf die Straße gerichtet.

Ihm wurde schwindelig vor Angst. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre wieder zu Boden gesunken, doch dann hörte er ein vertrautes Geräusch. Das mächtige Schnaufen seines Nachbarn Hermann Richter, der mit seinem Dackel Rudi die allmorgendliche Runde drehte.

«Moin, Richard!» Hermann Richter grüßte ihn mit der Gelassenheit eines Mannes, der nichts zu befürchten hatte. «Sehen wir uns gleich in der Kirche? Rudi musste nochmal schnell für kleine Rüden. Der pinkelt uns sonst die ganze Bude voll, wenn wir ihn allein lassen.

Richter lachte schallend, tätschelte den kleinen Hund und sah ihn dabei gespielt vorwurfsvoll an. Alles an ihm war so erschreckend normal, dass es Richard fast den Boden unter den Füßen wegzog.

Ehe er seine Gedanken sortieren konnte, war sein Nachbar mit einem letzten Gruß verschwunden, den Dackel fröhlich hinter sich herziehend.

Was ging hier vor? Hätte Hermann Richter den fliehenden Kameramann nicht sehen müssen? Vor allem mit einer blutigen Leiche auf dem Rücken?

Richard dreht sich um und lief zurück ins Haus. Erst auf halbem Weg fiel ihm auf, dass etwas Entscheidendes fehlte: Blut. Keine Spur von Blutflecken – weder im Türbereich, wo der ältere Mann sich umgebracht hatte, noch auf dem Gehweg bis zur Straße. Nicht ein Tropfen.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, rief er ein weiteres Mal nach seiner Frau.
«Doro, hast du die Polizei angerufen?»
Wieder keine Antwort. Richard unterdrückte einen Fluch. Warum tat sie immer so, als hörte sie ihn nicht?

Er griff selbst zum Telefon, um die 110 zu wählen. Die Kirche musste heute ohne ihn auskommen – die Fragen, die sich Richard jetzt stellte, konnte der Herr nicht beantworten.
Doch als er den Hörer abhob, war da wieder nur diese unerträgliche Stille. Kein Wählton, kein Summen.

Richard bückte sich, um den Stecker zu überprüfen, und bemerkte im selben Moment, dass auch der Router tot war. Stromausfall?
Er drückte den Lichtschalter. Es blieb dunkel.

Ein Gedanke blitzte auf: Dorothea hatte vorhin noch ihre Haare trocknen wollen. Konnte ihr neuer Föhn den Stromausfall verursacht haben?

Mit einem unguten Gefühl lief er in den Keller, um die Sicherung zu überprüfen. Die Tür des Stromkastens stand offen. Im Innern lag ein Handy. Ein Handy, das er sofort erkannte, auch wenn es weder ihm, noch seiner Frau gehörte.
Vor nicht einmal zwanzig Minuten hatte ihm jemand dieses Handy mit rot blinkendem Lämpchen ins Gesicht gehalten.

Seine Knie wurden weich, doch er zwang sich zur Ruhe. Mit einem geübten Handgriff stellte er den Strom wieder an, dann nahm er das Handy in die linke Hand.
Es fühlte sich kalt und fremd an.

Er rannte die Kellertreppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, und rief lauter, als er es erwartet hatte: «Doro, antworte mir gefälligst! Hast du die Polizei alarmiert?»
Die Wände schienen seine Frage zu schlucken. Sie blieb unbeantwortet.

Im Erdgeschoss angekommen, hastete er von Raum zu Raum.
Das Schlafzimmer: leer.
Die Küche: keine Doro.
Sein Büro, das Bücherzimmer, das Gäste-WC: alles Verlassen.
Selbst das Badezimmer, wo Dorothea Bergers Föhn in diesem Moment hätte röhren müssen, war still. Der Föhn lag unangetastet im Schrank.

Richards Herz hämmerte in seiner Brust. Er zwang sich, zweimal tief einzuatmen. Dann zog er sich mit einem Ruck das Treppengeländer hoch, wieder zwei Stufen auf einmal nehmend, während seine linke Hand das fremde Handy umklammert hielt.

«DOROOOO!!!» Seine Stimme überschlug sich, als er den Flur des ersten Stocks erreichte. Allein sein Echo antwortete ihm.

Außer Atem und mit schmerzenden Seitenstichen stieß er die erste Tür auf: Jonas‘ altes Jugendzimmer. An der Tür klebte noch immer das selbstgebastelte Schild, das sein Sohn vor so vielen Jahren geschrieben hatte: «Bitte respektiert meine Privatsphäre.»

Alles war noch genauso, wie es Jonas hinterlassen hatte – die eingerahmten Poster von Caspar David Friedrich an der Wand, das Regal voller Studienbücher, der Schreibtisch, auf dem noch ein alter Taschenrechner lag.
Dorothea hatte darauf bestanden, das Zimmer nicht anzutasten, selbst nachdem Jonas nach Hamburg gezogen war, um in einer Wirtschaftsprüferkanzlei zu arbeiten.
Richards Blick wanderte durch den Raum, und für einen Augenblick schien die Vergangenheit greifbar nah. Er schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit, um in Erinnerungen zu schwelgen.

Richard drehte sich um und lief den Flur entlang, bis er vor der zweiten geschlossenen Tür stand: das ehemalige kleine Reich seiner Tochter.
Annika kam schon seit Jahren nicht mehr so oft zu Besuch, wie man es sich als Elternteil wünschte.
Im Gegensatz zu Jonas‘ unverändertem Studentenzimmer hatte Dorothea aus Annikas Zimmer in verblüffender Geschwindigkeit einen Hobbyraum gemacht.

Noch bevor er die Tür öffnete, sah er es vor seinem inneren Auge: die Nähmaschine auf dem Sideboard, den Stepper in der Ecke, Doros Laptop auf Annikas altem Schreibtisch.
Dies war der letzte Raum. Die letzte Möglichkeit.

Richards Hand lag auf der Türklinke. Mit einer Mischung aus panischer Angst und verzweifelter Hoffnung drückte er sie langsam herunter. Genau in diesem Moment vibrierte das Handy in seiner anderen Hand, und ein vertrauter Sound ertönte.
«Love me Tender» von Elvis Presley.
Ihr erster Tanz. Ihr Lied. Ihr gemeinsames Leben in einer Melodie. Doch es war nicht sein Handy, das jetzt vibrierte. Und es war nicht Doro, die ihn anrief.
Das Display zeigte nur ein Wort: Unbekannt.

Er zögerte. Sein Blick wanderte durch den Spalt der Tür ins Hobbyzimmer seiner Frau, wo alles still und unberührt war. Er ließ die Schultern hängen und lehnte sich an den Türrahmen. Das summende Handy lag wie Blei in seiner Hand.
Die Melodie füllte die Leere des Hauses, und legte sich wie eine Decke über Richard Berger. Er bekam keine Luft mehr. Seine Augen flimmerten, während die Sekunden verstrichen und er auf das Display starrte. Wie in Trance hob er schließlich doch einen Finger und drückte auf das grüne Symbol.

Als er das Telefon ans Ohr gehoben hatte, hörte er eine unbarmherzige Stimme.

«Guten Tag, Herr Berger. Was würden Sie dafür tun, um Ihre Frau wiederzusehen?»

So endet die erste Schreibwoche von Seitenwind 2024.

Schauen wir uns den Zwischenstand an!

Um 16:00 geht es in einem neuen Thread weiter. :city_sunrise:

„Nein er hat nicht gezahlt. Ich habe es gefilmt und ins Internet gestellt. Ich denke jetzt werden die, welche den Post gesehen haben recht schnell zahlen,“ sagte die Stimme am Telefon.
Es war die des jüngeren Begleiters von dem Mann, der sich vor Bergers Tür erschossen hat.

„Das könnt ihr nicht mit mir machen!“ schrie die junge Frau. Sie war um die 30 Jahre alt. Groß und von schlanker Statur. Wild schüttelte sie ihren Kopf und ihre langen dunkelroten Haare flogen durch die Luft. Ihre großen grünen Augen sendeten einen tödlichen Blick an ihr Gegenüber.
„Jana, die Entscheidung liegt bei dir, du oder dein Kind, damit spielst du Gott, kannst wählen, dein Leben gegen das von Leha. Aber vielleicht hast du Glück und die Alte zahlt. Vielleicht hat sie sich auch das Video angeschaut, deine Chance steht 50 zu 50.“
„Damit werdet ihr nicht durchkommen. Mein Mann ist leitender Ermittler in der Ermittlungsgruppe Suizid auf Verlangen. Er wird euch vorher festnehmen!“ schrie Jana.

Jonas Gerber, Leiter der Ermittlungsgruppe Suizid auf Verlangen legte nervös sein privates Handy zur Seite.
„Hast du sie noch immer nicht erreicht?“, fragte Linda, seine Kollegin.
„Nein, ich verstehe das nicht, im Kindergarten warten sie auf Jana. Normal ist sie immer zu früh da. Auch ihre Mutter weiß nicht wo sie steckt. Und ich kann Karl nicht abholen. Wo steckt sie nur?“
„In einen Autounfall ist sie nicht involviert, das habe ich vorhin schon für dich gecheckt. Aber wir holen jetzt Karl ab, ich hab noch ein paar Fragen an diesen Herrn Berger. Ein kleiner Umweg, Ruf deine Mutter an, sie soll zu dir nach Hause kommen, wir setzten Karl dort ab und fahren weiter zu Bergers.“
Erleichtert schenkte Janas seiner Kollegin ein Lächeln und griff zum Handy.
Es klingelte in diesem Moment.
„Jonas, weißt du wo Jana steckt, sie wollte heute mit den Kindern nach dem Kindergarten bei mir vorbeikommen.“
„Nein Mutter, ich versuche sie schon die ganze Zeit zu erreichen. Karl ist noch im Kindergarten. Kannst du zu uns nach Hause kommen und auf ihn aufpassen? Linda und ich holen ihn im Kindergarten ab und bringen ihn nach Hause. Ich muss gleich weiter und Versuch bitte Jana zu erreichen. Ich bekomme immer nur den Anrufbeantworter dran.
In 40 Minuten sind wir vor der Türe mit dem Dienstwagen, geht das?“
„Ich bin auf dem Weg, bis später,“ antwortete seine Mutter und legte auf.

35 Minuten später betrat Jonas mit gezogenerer Dienstwaffe sein Haus. Linda sicherte ihn von Hinten.
Die Haustüre stand offen und am Türknauf befand sich Blut. Leise betraten sie den Flur.

Hier hatte ein Kampf stattgefunden. Von Jana und Leha keine Spur.
Linda rief die Spurensicherung, während Jonas erschöpft auf dem Sofa platzgenommen hatte.

„Zum Teufel, hatte man sie entführt oder wollte sich einer seiner ehemaligen Kunden an ihn rächen?“ Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf.
„Lass uns draußen auf die Kollegen warten. Jonas. Du musst jetzt professionell sein, wir könnten schon mal bei den Nachbarn fragen, ob sie was bemerkt haben!“
Jonas stand wie benommen auf und folgte Linda vor die Tür.

Deborah Lippmann und ihr Kollege David Bremer standen im Wohnzimmer der Bergers. Richard Berger saß geknickt auf der Couch, während seine Frau Dorothea gedankenverloren aus dem Fenster starrte.
" Herr Berger, was Sie erlebt haben, war schrecklich. Können Sie dennoch mit mir sprechen? "
Der Arzt hatte sich schon um ihn gekümmert. Das Erlebnis war für Herrn Berger durchaus sehr schlimm gewesen, dennoch war er vernehmungsfähig.
Richard seufzte, strich sich durch das dichte , braune Haar und sagte:„Ja, ich möchte was sagen. Ich kann es nicht glauben. Es ist zwar geschehen, aber es will mir einfach nicht in den Kopf. Er hat sich einfach so erschossen! Sich abgeknallt. "
Richard war fix und fertig, er hatte geweint.
" Richard!“ entfuhr es Dorothea, die sich ihm zugewandt hatte und ihm strenge Blicke zuwarf.
„Richard, stell dich nicht so an! Die Welt ist kalt, berechnend und grausam. Finde dich damit ab. Schluss mit dem Gejammer!!! "
" Es war ein Mensch, der gestorben ist. Macht das denn gar nichts mit dir?“ fragte Richard.
„Er hat sich selbst getötet. Er hat gesündigt!!! Gott hat kein Mitleid mit solchen Leuten, also dürfen wir es auch nicht haben!“

Deborah war froh, als sie das Schloss der Eiskönigin verlassen durfte.
Im Dienstwagen griff sie nach ihrem Kaffeebecher:" Was war das denn? Der Mann kann einem echt leid tun. Sie ist die Mutter aller Drachen."
" So eine Eiseskälte habe ich selten erlebt. Ob die im Bett auch so drauf ist?" feixte David.
" Ob die überhaupt Liebe verspürt? Die erinnert mich an meine Mutter. "
Ihre Mutter hatte den Kontakt zu ihr abgebrochen, weil Deborah sich geoutet hatte. Sie könne ihr ja niemals Enkelkinder schenken. Liebe auf diese Art könne doch nicht funktionieren, sie sei schlechtweg ungesund und krank.
Besonders mütterliche Instinkte hatte Gesa ohnehin nicht. Sie liebte nur sich selbst und vor allem Luxus und Reichtum. Auf innere Werte legte sie keinen großen Wert.
Gesa besaß mehrere Immobilien, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Sie lebte auf großem Fuß, flog mehrmals in Urlaub, ihr Leben war mehr Schein als Sein.
Auch mit Deborah s Berufswahl hatte sie ihre Probleme. Sie hätte doch Ärztin werden können oder als model durchstarten. Der Dienst an der Waffe war ihr von vornherein ein Dorn im Auge.

Das Läuten ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken.
Das Display zeigte den Namen Lucy. Lächelnd meldete sie sich:" Hallo, Schatz!"
„Wollte deine Stimme hören. Vermisse dich. Wollen wir Mittag essen?“
Die Stimme ihrer Freundin versetzte sie in Verzückung und ja, sie hatte Hunger, weniger auf Nahrung.

„Wie bitte? Was war das?“, entgegnete seine Frau fällig geschockt von der Reaktion ihres Mannes und dem lauten Knall, den sie gehört hatte. Herr Berger stand für ein kurzen Moment immer noch perplex hinter seiner geschlossenen Haustür. Was hat sich da gerade vor seinen Augen und vor seiner eigenen Haustür abgespielt. Sein schockiertes Gesicht übertrug sich langsam auf seine Frau, die noch immer nicht verstand, was mit ihrem Mann los war.
„Richard, sagst du mir was los ist? Was war das für ein lauter Knall?“
„Ich sagte dir doch ruf die…“ Herr Berger unterbrach sich selbst. Er hatte keine Zeit, sein Verhalten zu erklären. Er ergriff selbst die Initiative und rannte zum Telefon und nahm ihn hastig aus seiner Ladestation und drückte genauso auch in die Tasten. Er hielt sich das Telefon ans Ohr. Sein Herz pochte. Sein Kopf. Er füllte sich benommen. Was war nur geschehen? Wieso dauerte der Aufbau der Verbindung nur so lange? Dorothea strich sein Arm. In ihr stieg die Angst auf. Warum sagte er ihr nicht, was passiert ist?
„Richard, Schatz. Was ist passiert?“ Sie schaute Richtung Tür und wollte gerade selber schauen gehen, als er sie am Arm packte und festhielt.
„Geh nicht hin! Bleib hier! Es ist etwas furchtbares geschehen. Ich möchte nicht, dass du das siehst.“
„Richard, du jagst mir Angst ein. Was war das für ein Knall den ich gehört habe und wer war an der Tür?“
Endlich meldete sich eine Stimme am anderen Ende des Apparats. Er hielt seiner Frau ein Finger vors Gesicht und ermahnte sie.
„Geh nicht vor die Tür hörst du?“
Dann widmete er sich der seinem Telefonat mit der Leitstelle. Schnell ratterte er seine Adresse und sein Namen herunter.
„Bitte, sie müssen schnell kommen. Vor meiner Haustür hat sich gerade jemand selbst mit einer Pistole das Leben genommen.“
Seine Frau war schockiert. Was hat ihr Mann gerade gesagt? Sie konnte es nicht glauben und stand völlig fassungslos da und schaute Richtung Tür. Das kann doch unmöglich sein. Warum sollte jemand so etwas tun?
„Bitte kommen sie schnell!“, hörte sie ihren Mann inzwischen mit nicht mehr so bestimmter Stimme flehen. Er klang nun verzweifelt und dem Weinen nahe. Er legte auf. Schaute zunächst erstmal verstört zu Boden und dann zu seiner Frau er ging zu ihr und griff sie an den Armen.
„Schatz, meine Güte. Schatz. Was hat sich da gerade da vor meinen Augen abgespielt?“ Er nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich. Sie war sprachlos. Konnte es irgendwie nicht wahrhaben. Was würde sie zu Gesicht bekommen, wenn sie diese Tür öffnen würde? Er lies sie wieder los und ermahnte sie. „Bleib hier!“ Er drehte sich zur Tür um. „Ich muss schauen, ob der junge Mann da noch draußen ist.“
„Was? Welcher junge Mann?“
„Die waren zu Zweit. Da war einer mit ihm er hat scheinbar alles gefilmt.“
Sie hatte Angst um ihren Mann. Wenn da ein zweiter Mann mit dabei gewesen sein soll, dann wollte sie sicherlich nicht, dass ihr Mann jetzt zu ihm da raus geht. Was ist, wenn er auch eine Waffe hatte? Was hatten die vor? Wenn er ein Komplize ist von der Person, die sich da gerade erschossen hat, dann wäre auch ihm sicherlich alles zuzutrauen.
Herr Berger ging in langsamen Schritten zur Tür. Er holte tief Luft bevor er durch den Türspion guckte. Die Leiche des Mannes lag noch immer da auf seinem Plattenweg. Die Blutlache hatte sich inzwischen weiter ausgebreitet. Es war also nicht nur Einbildung gewesen. Es war wirklich passiert. Erneut fragte er sich, wie so etwas sein konnte. Er suchte durch den Spion weiter, fand aber den Jüngeren der beiden nicht mehr. Er griff die Türklinke und holte nochmals tief Luft. Er konnte es nicht. Er konnte die Tür nicht öffnen. In seinem Kopf spielten sich die verrücktesten Dinge ab. Was ist wenn sich der Jüngere irgendwo versteckte und mit der Pistole in der Hand darauf wartete, dass Herr Berger vor die Tür tritt. Er überlegte nochmal, was er nochmal durch den Türspion gesehen hatte. Lag die Waffe noch da? Aber das machte kein Sinn. Vielleicht hatte der junge Mann ebenfalls eine. Seine Gedanken spielten durcheinander. Dann hörte er sie. Sirenen. Ihr Klang hatte etwas Erlösendes. Auch wenn das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden würde. Könnte er sich doch vorerst wieder in Sicherheit wiegen, wenn die Polizei da sein würde. Er schaute erneut durch den Spion. Eine blaue Streife mit Blaulicht fuhr vor seinem Haus vor. Augenblicklich stiegen zwei Beamte aus dem Fahrzeug aus. Sie entsicherten ihre Waffen und traten durch das Tor auf den Weg und schauten sich um. Herr Berger drehte sich noch einmal zu seiner Frau. „Bleib hier im Haus. Du musst dir das nicht ansehen.“ Dann öffnete er die Tür und ging den Polizisten entgegen.
Eine Weile später. Die Beamten hatten sicherheitshalber im Garten und in seinem Haus nach dem zweiten Mann gesucht. Doch dieser war verschwunden. Er muss den Ort hastig verlassen haben, als Herr Berger zurück ins Haus getreten war. Dabei muss er scheinbar sein Smartphone fallen und zurückgelassen haben. Dieser wurde nämlich gerade von einem der Kommissare, die inzwischen eingetroffen waren aufgehoben.
„Der Mann hatte damit alles aufgenommen. Er hat alles gefilmt. Schauen sie bitte nach. Es müsste ein Video von der Situation dadrauf geben.“
Der Kommissar zeigte es zunächst seinem Kollegen und murmelte ihm etwas zu. Herr Berger beobachtete die beiden aufmerksam. Dann widmeten sich die beiden Herr Berger.
„Ein Video befindet sich da nicht drauf. Sie haben sich geirrt.“
Er hielt das Smartphone nun Herr Berger vors Gesicht und zeigte ihm eine Anrufliste, die auf dem Bildschirm geöffnet war. Ganz oben auf der Liste stand eine nicht gespeicherte Nummer mit einem Kamerasymbol dahinter.
„Es sieht so aus als hätte der Flüchtige ein Videoanruf geführt.“

Genau 210 Kilometer weiter nördlich stöhnte Sarah leise auf. Sie saß alleine in ihrem dunklen Büro, das im ersten Obergeschoss eines unauffälligen Bürogebäudes in einem Gewerbegebiet lag.
Außer dem Schreibtisch und einem kleinen Schrank an der Wand hinter ihr, war das Büro komplett leer. Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite war geschlossen und die Jalousien ließen nur dünne Schlitze Licht in den kühlen Raum fallen.
Sarah Wegner war eine dunkelhaarige Frau um die dreißig. Sie trug ihre „Uniform“ eine weiße Bluse, perfekt gebügelt, dazu dunkle Hose und elegante schwarze Schuhe. Die Haare hatte sie zu einem strengen Zopf gebunden.
Ernst verfolgte sie das Geschehen vor ihr auf dem Bildschirm.
„So ein Scheiß“, dachte sie. Sie saß genervt vor ihrem Monitor und schob das Fenster mit der Maus zur Seite, um die Liste im Hintergrund zu erkennen.
42 aktive Kampagnen.
Sie schloss das Fenster von eben und wählte aus der Liste einen anderen Eintrag. Er hatte die Bezeichnung „Hannover IV“.
„Na, vielleicht sind die etwas erfolgreicher…“

Dorothea Berger sah ihren Mann einfach nur an. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht verschwunden, zitternd stand sie vor ihm. Die Hand mit dem Schal hielt sie unnatürlich zur Seite gestreckt, so als wollte sie einen Diener neben sich erreichen.
„Ruf die Polizei!“ Er schrie es jetzt.
Hinter ihm vor der Tür hörte er den jungen Mann immer noch rufen „Sie haben ihn umgebracht! Sie Schwein! Sie waren es!“
Vor seinen Augen drehte sich alles, er taumelte einen Schritt auf Dorothea zu, fasste sie fest am Oberarm und zog sie den Flur entlang.
Sie hetzten in die Küche und er schloss hinter sich die Tür. Hektisch sah er sich um und durch die Fenster in den Garten. Die Fenster waren stabil und geschlossen. Und der Garten war menschenleer.
„Wo ist das Telefon?“ Berger sah seine Frau wütend an. „Wo ist es?“
„Auf der Kommode“.
„Im Flur?“ Berger schloss die Augen und horchte nach dem Verrückten vor der Haustür.
Stand er immer noch da und brüllte?
Er konnte nichts hören, nur das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren.
Er überlegte. Wenn der Typ jetzt um das Haus herumgeht und eine Scheibe einschlägt? Bestimmt hatte er auch eine Waffe und will sich rächen. Aber wofür? Er hatte doch überhaupt nichts getan. Die Nachbarn haben den Knall bestimmt gehört und längst die Polizei gerufen. Wir können doch nicht einfach nur hier stehen und warten.
„Ich habe Angst“. Das war der erste Satz von Dorothea. Ganz ruhig und klar akzentuiert ausgesprochen. Sie sah ihren Mann an und hatte Tränen in den aufgerissnen Augen.
Leise öffnete Berger die Tür und lauschte in den Flur hinaus. Dorothea drückte sich fest an seine Seite. Er hörte nichts. Kein Geschrei mehr vor der Tür. Es war still. Totenstill.
Auf leisen Sohlen aber mit bebendem Atem schlichen sie in Richtung Haustür, er riss das Telefon von der Kommode und sie rannten zurück in die Küche. Jede Sekunde mit einem Schuss rechnend.
Sie knallten die Küchentür hinter sich zu und drängten sich in die linke Ecke der Küche. Berger entsperrte das Telefon und wählte den Notruf.
„Polizei Frankfurt – Sie haben den Notruf gewählt!“ hörten sie die Stimme des Polizisten aus dem Telefonlautsprecher.

„Bist du verrückt geworden? Schon wieder?“ Der erboste Blick seiner Frau ließ Berger zurückschrecken. Dies war einer jener Momente, in denen er in ihren Augen die Tiefen der Hölle sah, nur um Sekunden später vom Gesicht eines Engels bezirzt zu werden. „Das regeln wir diesmal anders“, sagte sie, während sie in Windeseile aus ihrem Sonntagskostüm schlüpfte, um sich in ihren schwarzen Trainingsanzug und ihre Joggingschuhe zu werfen. Für ihre fast 50 Jahre war sie eine sportliche und gelenkige Frau, dank ihres täglichen Fitnesstrainings. Sie öffnete die Tür und blickte sich um. Kein Nachbar, keine Zeugen. Der Windfang, den sie vor einigen Jahren aus gekalktem Ziegelstein hatte errichten lassen, sowie die üppige Begrünung an allen Seiten ihres Vorgartens zahlten sich jetzt aus. Sie mochte keine neugierigen Blicke – man wusste schließlich nie, was Nachbarn oder Passanten von der Straße aus erblickten.

Dorothea nickte zufrieden, während sie um die Leiche herumging und ihrem Mann mit strenger Stimme Anweisungen erteilte:
„Schaff die Leiche weg und zieh dich endlich an.“

Mit entschlossenen Schritten nahm sie die Verfolgung des jüngeren Mannes auf, der es offenbar nicht sonderlich eilig hatte zu entkommen. Es schien fast so, als wäre seine Mission beendet – er schlenderte mit dem Handy in der Hand und war nur ein Haus weiter, als sie ihn einholte. Sie warf einen prüfenden Blick auf ihre Umgebung. Es war ein ruhiger Sonntagvormittag. Die parkenden Autos, die entlang der Straße standen und die Sicht auf den Bürgersteig einschränkten, boten ihr Deckung.

„Sie haben etwas vergessen“, sprach sie ihn an. Der junge Mann drehte sich erschrocken um. Die Süße ihrer Stimme, die sich dennoch wie Eiszapfen anfühlte, ließ ihn erschaudern. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm jemand nachlaufen würde. Er starrte verblüfft in Dorotheas geschminktes, zynisch lächelndes Gesicht, während die kühle Herbstbrise ihren blonden Bob leicht bewegte. Der Schein ist alles, dachte sie.

Die Erkenntnis traf ihn gleichzeitig mit ihren Schlägen: Wir haben die Falsche ausgesucht. Mit zwei gezielten und kraftvollen Hieben – einen gegen die Schläfe, den anderen gegen den Solarplexus – brachte sie ihn ins Wanken. Sie war schnell und effektiv wie eine tödliche menschliche Waffe. Sein Handy fiel zu Boden, bevor er die Orientierung völlig verlor.

Mit routinierter Bewegung hob Dorothea das Handy auf und ließ es in ihre Manteltasche gleiten. Dann fing sie den taumelnden Mann auf – es wäre weitaus mühsamer gewesen, ihn später vom Boden aufzuheben. Sie griff unter seine Arme und zog ihn mit entschlossener Kraft in Richtung ihres Hauses. Wäre jemand Zeuge dieser Szene gewesen, hätte er wohl nur eine adrette Dame gesehen, die einem scheinbar hilfsbedürftigen Mann Beistand leistete.

Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den leeren Vorgarten betrat: Richard hatte diesmal schnell gehandelt. Die Leiche war verschwunden. Wer behauptete, ihr Mann sei nicht lernfähig? Um das Blut würde sie sich später kümmern.

Mit einer letzten Anstrengung brachte sie den halb bewusstlosen Filmer die Kellertreppe hinunter – in ihren besonderen Keller, wo die Leiche des alten Mannes bereits auf dem Boden lag.

Als die Kirchenglocken drei Mal läuteten, stieg sie die Treppen hinauf, wusch sich die Hände und schlüpfte erneut in ihr Sonntagskostüm.

„Hol den Wagen aus der Garage. Ich hasse es, zu spät zu kommen“, wies sie ihren Mann an.

Berger, der gerade die Manschettenknöpfe seines Hemdes zugeknöpft hatte, nickte stumm. Mit dem Teufel diskutierte man nicht. Höchstens begleitete man ihn in die Kirche.