Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

»War das …? War das ein Schuss?«, stammelte Dorothea mit blasserem Gesicht als die Leiche vor seiner Haustür.
Berger nickte roboterhaft, eher er selbst zum Telefon griff und die drei Zahlen eingab, die er gehofft hatte, nie wählen zu müssen. Seine Hände zitterten, doch seine Frau schien noch weniger in der Lage, Hilfe zu holen.
»Polizei, wie kann ich Ihnen helfen?«, meldet sich eine männliche Stimme am Telefon.
Berger zögerte. Obwohl er sonst so redegewandt war, fehlten ihm für einen Moment die Worte. Wie beschrieb man eine solche Situation?
Er räusperte sich und sortierte die Gedanken in seinem Kopf in eine sinnvolle Reihenfolge: »Es gibt eine Leiche. Vor meiner Haustür. Ich -« Er stockte noch rechtzeitig, bevor die Schuld, die sich eigenartigerweise in seiner Brust ausbreitete, die Kontrolle übernehmen konnte. Fast hätte er gesagt, er sei schuld daran. Aber das stimmte ja gar nicht. Immerhin hatte er nicht den Abzug gedrückt. Doch war es nicht irgendwie unterlassene Hilfeleistung?
Berger schüttelte über sich selbst den Kopf. Da war ja abstrus.
Genauso abstrus wie diese Tat. Was ihm zuerst wie ein dummer Streich vorgekommen war, war nun bitterer Ernst. Da lag eine Leiche in seinem Vorgarten. Und er konnte nur hoffen, dass der andere Mann, der das Ganze auch noch gefilmt hatte, längst fort war.
Oder nicht?
Mit der Hand am Telefon riss Berger die Haustür auf und steckte seinen Kopf hinaus.
Die Leiche war zumindest noch da. Einsam lag sie auf dem Weg, der nur wenige Wochen zuvor neu von einer Gartenbaufirma verlegt worden war, die einem Bekannten aus der Kirchengemeinde gehörte. Nun waren die Steine dunkel gesprenkelt, als wäre roter Regen vom Himmel gefallen.
Poetisch, irgendwie, dachte sich Berger. Gleichsam fasziniert wie abgestoßen von dem Weg, den seine Gedanken nahmen. Dann doch lieber auf den geradlinigen zu seinen Füßen konzentrieren, auch wenn da teils graue Klümpchen lagen, über deren Bedeutung Berger sicherlich nicht weiter nachdenken wollte.
Eine Stimme an seinem Ohr riss ihn aus seiner Starre und erinnerte ihn daran, dass er immer noch mit dem Polizisten im Gespräch war, der wiederholt versuchte, aus Berger einer Adresse hervorzulocken.
Berger wollte gerade antworten, als plötzlich ein weißer Lieferwagen heranraste und mit quietschenden Reifen vor der schmiedeeisernen Gartentür hielt.
Die Seitentür rauschte auf, zwei schwarz gekleidete Gestalten sprangen über die spitzen des kleinen Tores und eilten zu der Leiche zu Bergers Füßen.
Vollkommen baff konnte Berger nur dabei zusehen, wie sie sich mit Ach und Krach abmühten, die Leiche über das Törchen zu heben und in den Schlund des Lieferwagens zu werfen. Ein Fluch folgte auf den dumpfen Aufprall des Körpers im Inneren, dann schlug die Tür wieder zu.
Einer der Vermummten, die, wie Berger nun auffiel, Masken trugen, wie man sie auf einem Kindergeburtstag wiederfand – bemalbare, stilisierte Tiergesichter – sprang zurück über den Zaun und hielt auf Berger zu.
Im Nachhinein wunderte er sich darüber, wie sein Fluchtinstinkt ihn so katastrophal verlassen haben konnte. So nahm er einfach den schwarzen Umschlag an, den der Maskierte ihm hinhielt. Während Berger zwischen Brief und Lieferwagen hin und her sah, heulte der Motor auf und ließ ihn in Stille zurück.
Erst, als er ein leises Räuspern hinter sich hörte, kam wieder Bewegung in ihn.
Seine Frau stand in der offenen Haustür, die Hände ringend, aber mit mehr Farbe in den Wangen.
»Was ist das?«, fragte sie leise und deutete auf das Papier in Bergers Fingern.
Unwillig, noch länger mit dem Blut zu seinen Füßen im Vorgarten zu stehen, drängte Berger seine Frau zurück in den Flur, wo er mit bebenden Fingern den Umschlag unsanft öffnete und das Stück Papier entfaltete, das sich darin befand.
Das Kapital hat kein Herz.
Also müssen wir ihm den Kopf abschlagen.
Beweise uns, dass dein Herz noch schlägt, und du wirst verschont.
Folge unseren Anweisungen nicht oder schalte die Polizei ein, wirst auch du untergehen.
Ach ja. Die Polizei.
Das Telefon in Bergers Hand zeigte noch immer eine offene Leitung an. Schnell presste er seinen Daumen auf den roten Hörer.
Die vage Drohung auf Papier wurde durch die Geschehnisse von vor ein paar Minuten sehr real.
Richard Berger rang mit sich. Am liebsten würde er das alles ignorieren, und einfach mit seiner Frau zur Messe gehen. Wenn da nicht die abtransportierte Leiche aus seinem Vorgarten wäre. Und das Blut. Und die –
Dorothea Bergers Neugierde gewann über ihre Zurückhaltung und sie riss ihrem Mann den Brief aus der Hand, um selbst die maschinengeschriebenen Worte zu lesen. Ihre Augen huschten Zeile für Zeile über das Papier, bevor sie es sinken ließ.
Auch sie rang mit sich, ihrem Gewissen und der Angst, dass die schrecklichen Ereignisse aus den Nachrichten, die sie jeden Abend mit Furcht auf dem Sofa verfolgte, hier im gut situierten Frankfurt eingeholt haben. »Wir sollten -«
Sie wurde jäh von Richard Bergers Smartphone-Nachrichtenton unterbrochen, der aus dem Wohnzimmer zu ihnen herüberschallte.
Berger wollte auch das gerne ignorieren. Doch zu einem Ton gesellten sich erst zwei und dann drei. Noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, was zu tun war, fing auch das Festnetztelefon in seiner Hand an zu läuten.
Für einen Moment überfordert, strich sich Berger über seine Krawatte, die ihm seltsamerweise ein Stück Halt gab. Dann riss er sich zusammen, legte das Telefon auf den Schlüsselkasten und sah seine Frau an.
Er würde sich nicht doch jetzt nicht alles kaputtmachen lassen, das er so lange mühsam aufgebaut hat. Weder das Haus, noch seine Frau noch sein Reisebüro waren ihm in die Hände gefallen. Er hatte sich zu oft die Nacht um die Ohren geschlagen, um sich nun in all seinen erreichten Zielen niederringen zu lassen.
»Komm«, sagte er also zu seiner Frau. »Wir sollten uns beeilen, sonst verpassen wir noch die Messe.«

Richard Berger saß gedankenversunken auf dem gelben Ledersofa, das mitten in ihrem geräumigen, birkenlaminierten Wohnzimmer stand, schaute hinaus in den Garten und ließ diesen verrückten Tag Revue passieren.

Ein Selbstmord direkt vor ihrer Tür, und dann auch noch per Handy gefilmt! Aber stimmte das überhaupt? War es denn ein Selbstmord? Oder war der Mann, der sich vor seinen Augen die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte, von seinem Begleiter dazu gezwungen worden? Vielleicht hatten er oder irgendwelche dubiosen Hintermänner die Familie des Selbstmörders in ihrer Gewalt? Oder erpressten ihn, weil sie belastendes Material besaßen? Vielleicht war dieser graubärtige Mensch, der sich das Leben genommen hatte, in Wirklichkeit ein schmieriger Kinderschänder, und jemand hatte sich einen grausigen Witz ausgedacht, um ihn auf brutale Weise zu bestrafen?

Aber warum dann vor seiner Haustür? Darauf konnte Berger sich keinen Reim machen. Er hatte diese Typen noch nie gesehen. Was wollten sie von ihm? Warum gerade er? Und warum hatte der zweite Typ das Ganze gefilmt?

Es war Herbst, und draußen wurde es langsam dunkel. Vor einer guten Stunde hatte er sich einen kräftigen italienischen Rotwein eingegossen, einen Montepulciano, den sie im Sommerurlaub in der Toskana in den Kofferraum ihres Modells 3 geladen hatten. An Tagen, an denen sich vor der eigenen Haustür jemand umbringt, hat man sich einen kräftigen Schluck verdient, dachte er.

Berger schaute auf die Uhr. Es war fast halb acht.

„Dorothea“, rief er laut. Er hatte gerade nicht auf dem Schirm, wo genau sich seine Frau im Haus befand. War sie in der Küche? Oder oben in ihrem gemeinsamen Heimbüro? „Gleich fängt die hessenschau an. Kommst du?“

Er schnappte sich die Fernbedienung, und gerade als sich Bild und Ton aufgebaut hatten, hörte er, wie Dorothea die hölzerne Wendeltreppe aus dem ersten Stock hinunterkam.

„Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen zur hessenschau. Unser Top-Thema heute …“

Dorothea ließ sich links neben ihm auf das Sofa fallen. Sie war immer noch blass und sah angestrengt aus. Der Schuss heute Morgen hatte sie dermaßen geschockt und in Panik versetzt, dass sie nicht einmal in der Lage gewesen war, die Polizei zu rufen. Das hatte er übernehmen müssen. Einer der Rettungssanitäter, die zeitgleich mit der Polizei eingetroffen waren, hatte sich dann um sie gekümmert.

„… ist eine seltsame Gewalttat, die heute Vormittag im Frankfurter Nordend stattgefunden hat. Gegen 9.30 Uhr klingelten bei Familie B. zwei Männer an der Tür und verlangten von Herrn B. ohne Angabe von Gründen die Zahlung von 10.000 Euro. Wenige Momente später war einer der beiden Männer tot. Ein Video der Tat wurde heute auf X gespostet, vermutlich von dem überlebenden Erpresser, und bisher noch nicht entfernt. Aber sehen Sie selbst.“

Er spürte, wie seine Frau neben ihm erstarrte und den Atem anhielt, als das Bild der Moderatorin verblasste und das Video begann. Darin war nur er selbst zu sehen, mit verpixeltem Gesicht, wie er die Tür öffnete. Es war eigenartig, das, was er heute Morgen erlebt hatte, jetzt im Fernsehen aus der Perspektive der Erpresser zu sehen.

„Sie wünschen?“, hörte er sich sagen. Wieso hatten sie sein Gesicht unkenntlich gemacht, aber die Stimme nicht verfremdet? Von der hessenschau hätte er etwas mehr journalistische Sorgfalt erwartet.

„Guten Tag. Bitte geben Sie mir …“

Neben ihm stieß seine Frau einen schrillen Schrei aus. „Anton? Anton! Das ist doch die Stimme von Anton!“

Berger sprang vor Schreck vom Sofa hoch und starrte seine Frau mit halbgeöffnetem Mund einige Augenblicke an, bevor er seine Sprache wiederfand.

„Wie bitte, du kennst diesen Mann?“

Offene Enden Teil 1

Dorothea Bergers Augen irrlichterten. Mit fahriger Bewegung deutete sie auf das Flurfenster, durch das man die Nachbarhäuser sehen konnte. In etlichen Fenstern war Bewegung bemerkbar, mehrere Nachbarn waren vor die Haustür getreten, einige hielten ein Handy und telefonierten.

„Ich glaube, der Anruf bei der Polizei hat sich schon erledigt“, sagte Frau Berger, „geh lieber raus und beende dieses Mordsgeschrei!“

Herr Berger schaute durch den Türspion. Der Graubärtige lag noch immer mit dem Kopf in seinem Blut, zu seinen Füßen bemerkte er die Pistole. Der Jüngere filmte inzwischen wieder. Nach wie vor schrie er, nannte ihn einen Mörder. Da die Pistole gut zwei bis drei Meter von ihm entfernt lag, öffnete Herr Berger die Tür und trat ins Freie. Beschwichtigend hob er die Hände.

„Die Polizei wird wohl schon unterwegs sein. Bitte lassen sie uns in Ruhe ein paar Worte wechseln.“

Tatsächlich überlegte er, ob er mit drei schnellem Schritten die Waffe in seine Gewalt bringen sollte. War das vielleicht eine ganz schlechte Idee wegen der Fingerabdrücke? Wie sehr war er in Gefahr, wenn die Polizisten ihn mit der Pistole in der Hand sahen. Abwarten! Wenn der andere das Gleiche vorhatte, konnte er immer noch schneller zurück und sich hinter der Tür in Sicherheit bringen.

Der junge Mann hörte auf zu schreien, blickte kurz zur Waffe, filmte aber unbeirrt weiter. Mit einer Kinnbewegung forderte er Berger auf zu sprechen.

„Das schockiert mich alles zutiefst“, stammelte er Richtung Handy, „sie müssen mir glauben, das ich das nicht gewollt habe! Die Situation überfordert mich gerade sehr. Bitte haben sie Verständnis dafür, wenn ich im Haus auf das Eintreffen der Polizei warte.“

„Ich komme mit rein!“, sagte der junge Mann.

„Das halte ich für keine gute Idee“, kommentierte Berger. Er war bereits erleichtert, dass das Geschrei vor den Nachbarn aufgehört hatte. Ziel erreicht! Er drehte sich um, bereit wieder ins Haus zu gehen.

„Das ist im Gegenteil eine sehr gute Idee. So erfahren sie nämlich, was das ganze hier mit ihren Verlusten an der Börse zu tun hat.“

Blitzschnell fuhr Herr Berger herum, nicht schockiert wegen des Gesagten, sondern weil die Stimme dem Graubärtigen gehörte, der sich langsam aus seiner Blutlache erhob.

Fortsetzung folgt.

Rolf Schäfer

Die gut zwanzig Minuten bis zum Eintreffen der Ordnungshüter dehnten sich für Richard Berger und seiner Frau zu einer gefühlten Ewigkeit.
Dorothea saß weinend in einem Sessel im Wohnzimmer und schluchzte immer wieder: »So können wir nicht zur Kirche gehen, dabei wäre mir der Beistand des Pfarrers gerade jetzt so wichtig!« Dann war sie wieder still, während die Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen strömten.
Die Gedanken von Richard gingen in eine andere Richtung, nun nicht völlig anders. Immer und immer wieder fragte er sich, ob er als guter Christenmensch diesen Selbstmord hätte verhindern müssen. Auch wenn das bedeutet hätte, der Erpressung nachzugeben. Aber wer hatte schon ahnen können, dass dieser Kerl seine Drohung so schnell wahrmachen würde. Eine andere Stimme in seinem Inneren beharrte darauf, dass er richtig gehandelt hatte. Wo sollte das hinführen, wenn er jeder derartigen Drohung nachgeben würde. Es war die Handlung des Selbstmörders gewesen, nicht seine, die zu diesem Suizid geführt hatte. Damit war es auch die Verantwortung dieses Kerls. Auf der anderen Seite, hätte er …
Schluss mit dem Gedanken-Karussell!, herrschte er sich selbst an. Entschlossen schritt er zum Fenster, um nach der Polizei Ausschau zu halten. Dort angekommen erstarrte er.
Die gesamte Nachbarschaft, die eigentlich ebenfalls in die Kirche hatte gehen wollen, stand am Gartenzaun und gaffte zur Haustür herüber, wo noch immer der jüngere Kerl mit dem Smartphone stand und schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«
Beständig kamen weitere Neugierige dazu. Richard wurden die Knie weich.

Als die Polizei endlich vorfuhr, schafften es die Beamten kaum, durch den dichten Pulk Schaulustiger bis zur Haustür durchzudringen. Zwischenzeitlich standen die ersten Gaffer sogar im Vorgarten.

Dorothea sah ihn mit fassungslosen Augen an. Ihre Hände zitterten, als sie einen Blick nach draußen wagte. Auf dem Weg zur Haustür lag ein blutüberströmter Mann mit halbem Kopf auf dem Boden; eine grau-weiße Substanz bedeckte die gelben Rosen, die sie letztes Jahr auf dem Beet vor dem Haus eingepflanzt hatte. Ein Mann mit einem Handy in der Hand schrie immer wieder: „Du Mörder, du Mörder!“

Als er sie an der Tür erblickte, sprang er plötzlich auf und stemmte sich gegen die Tür. „Dafür werdet ihr beide büßen, ihr Schweine!“ Richard Berger eilte heran und verhinderte im letzten Moment, dass der Mann sich Zutritt ins Haus verschaffen konnte.

„Richard, die Polizei… was sollen wir den Polizisten sagen?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht!“, keuchte er, noch immer aufgeregt und völlig desorientiert. „Wir rufen einfach die Polizei an und erklären, was geschehen ist!“

Er nahm sein Smartphone, das auf dem Sideboard des Flurs lag, und wählte den Notruf. Nach einer gequälten Minute meldete sich eine männliche Stimme mit hessischen Akzent: „Polizeinotruf, was ist Ihr Anliegen?“

„Hier ist Richard Berger! Ein Mann wurde erschossen, gerade vor meiner Haustür!“

„Bleiben Sie ruhig, ich schicke sofort ein Team. Wo sind Sie genau?“, antwortete die Stimme.

Er nannte seine Adresse und legte auf.

„Die Polizei kommt gleich“, sagte er an Dorothea gewandt, die noch immer wie erstarrt vor der Haustür stand. „Wir müssen hier weg. Was, wenn der andere Mann noch da draußen ist? Wenn er in unser Haus eindringt?“

„Aber wo sollen wir denn hin? Die Polizei wird bestimmt gleich da sein.“

Plötzlich riss ein Hämmern und Schlagen beide aus ihren Gedanken. Berger und Dorothea blickten sich an und rannten gleichzeitig zum Küchenfenster, das einen Blick auf die Haustür bot. Sie sahen, wie sich zwei Männer mit einer Brechstange an der Haustür zu schaffen machten. Der Mann mit dem Smartphone war nun nicht mehr allein.

„Wir müssen sofort hier raus“, sagte Berger. Er nahm die Hand seiner Frau und rannte mit ihr zum Wohnzimmer, das sich im hinteren Teil des Hauses befand. Er öffnete die Terrassentür zu dem etwa zweihundert Quadratmeter großen Grundstück, und sie schlüpften beide durch die Gartentür, die einen schmalen Zugang zu einem schattigen Weg hinter dem Grundstück bot. Dort parkte ihr Wagen, ein alter Opel Corsa mit verwittertem, blauem Lack.

„Wo fahren wir hin?“, fragte Dorothea.

„Zu meiner Schwester, in die Altstadt. Wir brauchen einen sicheren Ort. Von dort rufen wir dann nochmal die Polizei an und erklären alles“

Im Wagen war die Stimmung angespannt. Richard umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und fuhr über die Brücke Richtung Altstadt. Die Gedanken an den graubärtigen Mann, der sich den Lauf der Pistole in den Mund steckte und abdrückte, hämmerten durch seinen Kopf.

Der Verkehr stockte plötzlich. Berger sah von Weitem eine Straßensperre. Dahinter und an der Straßenseite standen Streifenwagen und Polizisten. Die Wagenkolonne schob sich langsam an den Polizisten vorbei, die in jeden Wagen schauten. Dorothea blickte erleichtert zu Berger, der immer noch angespannt nach vorne blickte.

Als er mit Schrittgeschwindigkeit an dem Polizisten vorbeifuhr, anhielt und die Scheibe herunterließ, zog der Polizist unvermittelt seine Pistole aus dem Halfter und zielte auf Berger. Andere Polizisten mit gezückten Waffen postierten sich auf der Seite von Dorothea, während sich zeitgleich ein Streifenwagen sich vor seinem Wagen stellte.

„Herr Berger, Sie sind wegen Mordes vorläufig festgenommen. Bitte steigen Sie beide langsam aus Ihrem Wagen!“, schrie der Polizist.

Seitenwind 2024 Offene Enden Teil 1

Berger drehte sich um und ließ sich mit dem Rücken gegen die Haustür fallen, denn seine Beine trugen ihn nicht mehr. An das Türblatt gelehnt rutschte er nach unten in den Sitz und umarmte seine zitternden Knie. Ein schier unmögliches Gefühlschaos beschwerte seine Brust und tausende unreflektierte Gedanken flirrten in seinem Hirn. Hilfesuchend blickte er zu Dorothea.
Seine Frau hielt ihr Handy in der Hand und wirkte gefasst. Nun, sie hatte ja nicht gesehen, wie der Kerl sich den Kopf wegschoss. Richard schon – wie grässlich! Hätte er es verhindern können?
»Was ist eigentlich passiert?«, fragte Dorothea und lenkte Berger vom Grübeln ab. Wie schaffte sie es nur, so ruhig zu bleiben? Doch völlig gleichmütig war sie offenbar nicht. Als sie fortfuhr, kletterte ihre Stimme eine Terz höher: »Der Schuss? Was hat er zu bedeuten? Du hast nicht geschossen, womit auch? Braucht jemand Hilfe? Soll ich nicht lieber einen Rettungswagen rufen?«
Berger schüttelte den Kopf. »Der Alte hat sich das Gehirn zerschossen, er hat sich wirklich umgebracht.«
»Weil du ihm kein Geld gegeben hast? War der irre? Niemand hat einfach so zehntausend Euro zu Hause – auch hier nicht in unserem Viertel. Und deshalb nennt dich der junge Mann … es war doch ein junger? Seine Stimme klang so jugendlich. … deshalb behauptet er, dass du den anderen …« Sie schluckte trocken und beendete den fürchterlichen Satz nicht. »Dann ruf ich jetzt die Polizei an.« Wie immer, wenn sie telefonierte, wandte sie sich von Richard ab. Sachlich erklärte sie, was geschehen war.
Dass sie das schaffte – unglaublich. Er selber war den Tränen näher als jemals zuvor. Gute Doro … Sie wollte nicht Doro genannt werden. Doch in Gedanken liebte er diese Namensverkürzung.
Ein Gedankenkarussell drehte sich in ihm und produzierte Fragen. War dieser Selbstmord nicht völlig unsinnig? Er hätte dem Mann das Geld nicht geben können, selbst wenn er gewillt gewesen wäre. Wie war der Kerl nur auf diese hirnrissige Idee verfallen? – Ein unguter Gedanke manifestierte sich mehr und mehr, obwohl Richard versuchte, ihn zu unterdrücken.
Konnten die beiden wissen …
Unmöglich. Nicht einmal Dorothea kannte seine Geschäfte am Rande der Legalität. Niemand ahnte, wie viel Geld er in dem geheimen Tresor im Keller bunkerte. Oder doch? Diese beiden dubiosen Typen? Woher hätten sie diese Information bekommen sollen? Und warum bringt man sich wegen so was um? Weshalb haben sie nicht einfach eingebrochen und noch viel mehr erbeutet? Er hätte deswegen nicht mal Anzeige erstattet.
Doro riss ihn aus seinen sorgenvollen Gedanken. »Richard, gehts dir gut? Ich glaube, du hast einen Schock. Soll ich Dr. Rühmann anrufen? Dein Gesicht ist blass wie eine gekalkte Wand.« Bei ihr zeigten sich rote Flecken am Hals – wie immer, wenn sie aufgeregt war.
»Nein, lass mal Thea. Es geht schon wieder.« Um seine Behauptung zu beweisen, rappelte er sich auf, langsam zwar, aber bald stand er frei und schwankte nicht. Er war eben eine standhafte Eiche.
Seine Frau rannte in die Küche. Ein paar Augenblicke lang rauschte Wasser. Dann eilte sie zu ihm zurück und reichte ihm das gefüllte Glas. »Trink, das brauchst du bestimmt.«
Kaum hatte er das Glas geleert, flackerte blaues Licht durch die Fenster des Wohnzimmers, dessen Tür offenstand. »Sie kommen«, krächzte er.
Doch Dorothea war längst an der Tür und sah durch den Spion. Noch bevor es klingelte, öffnete sie die Tür, vor der zwei uniformierte Polizisten Doro und Berger anschauten. Sie begleiteten eine rothaarige Frau in schickem Trenchcoat und Jeans. Diese hatte ihren Blick auf den Toten gerichtet. Die Beamten grüßten und baten darum, eingelassen zu werden.
Etwas später trat die Frau ebenfalls ein. »Guten Tag! Obwohl – für Sie ist er bestimmt alles andere als gut. Mein Name ist Regina Mittler, Kriminaldauerdienst. Ich muss Sie befragen, Herr und Frau Berger. Wo können wir das tun?«
Ganz schön forsch, das Mädel, fand Richard. Die war doch sicher erst Mitte dreißig. Aber er straffte sich und antwortete souverän: »Gehen wir ins Wohnzimmer.«
»Frau Berger, Sie haben ja schon am Telefon kurz zusammengefasst, was passiert ist. Ich brauche die ganze Geschichte von Anfang an. Herr Berger? Sie haben die Tür geöffnet?«
Alle blieben stehen. Die Kriminalpolizistin fragte sich durch das gesamte Geschehen. Es fiel Richard schwer, von der schrecklichen Begebenheit im Zusammenhang zu berichten. Am Ende sagte die Polizistin etwas, das er nicht begriff: »Ich muss Sie bitten mitzukommen, um Spuren an Ihnen zu sichern und die Fingerabdrücke zu nehmen. Wir haben die Tatwaffe in Ihrem Müll gefunden. Damit sind Sie tatverdächtig.« Sie wies zur Tür.
Zum ersten Mal sprachlos schlug Doro die Hand vor den Mund und plumpste in den Sessel.
Richard stotterte: »Aber wie kommt die Pistole denn dahin?« Dann zog er resigniert den Kopf zwischen die Schultern, trat auf den Flur und setzte seinen Hut auf. Den Mantel hatte er ja an. Er war tatverdächtig. Konnte es noch schlimmer kommen?

©MoScho/Monika Schoppenhorst (Pseudonym: Renée Wagner)

Seine Frau reagierte nicht.
»Dorothea?!«, brüllte er in das Treppenhaus. Keine Antwort. Richard Berger spürte, wie ihn das Nichtreagieren seiner Ehefrau reizte. Dann rief er eben selbst die Polizei.

Sein Blick wanderte zu dem Festnetztelefon, in dessen Richtung er am Laufen war. Doch die Station war leer. Hektisch blinkte ihm die rote LED entgegen. »Verdammtes Telefon, dass ich es jedes Mal suchen muss«, murmelte er. Vermutlich lag es wieder einmal auf dem kleinen Esstisch in der Küche. An diesem konnte seine Frau stundenlang sitzen und mit ihrer Freundin Lisa über belangloses Zeug quatschen. Er ballte die Faust. Erneut bemerkte er einen aufkeimenden Ärger gegenüber Dorothea. Sie saß vermutlich oben und schminkte sich mit einem selbstverliebten Blick in den Spiegel, während er hier unten alleine mit letzter Kraft gegen das aufkommende Gefühl der Panik in seiner Brust kämpfen musste und zu allem Überdruss die hindernden Nachlässigkeiten seiner Frau zu umschiffen hatte.

Doch der Esstisch in der Küche war leer. Enttäuscht wanderte Richards Blick beim Hinausgehen zu dem Küchenfenster. Ihm war klar, dass der Plattenweg von der Spüle aus einsehbar war. Eine Stimme im Kopf riet ihm, nicht nach draußen zu schauen. Er konnte dem Drang nicht widerstehen.

Eine Welle der Erleichterung durchströmte ihn, als er aus dem Fenster spähte. Der junge Kerl mit dem Smartphone war nirgends zu sehen, die Leiche seltsamerweise verschwunden. War alles nur ein übler Tagtraum gewesen? Eine perverse Ausuferung seiner in letzter Zeit gereizten Nerven?
Doch schon im nächsten Moment war ihm, als hätte jemand mit voller Wucht in seine Magengrube geboxt. Ein kalter Stich durchfuhr seinen Bauch. Er hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und schließlich doch die Blutlache erkennen können, die sich zwischenzeitlich deutlich ausgebreitet hatte.

Das kalte Stechen vermischte sich mit dem panischen Gefühl in der Brust.
»Die Polizei! Mein Handy!«, war das Einzige, was die Watte in seinem Kopf durchdringen konnte. Richard fiel ein, dass sein Smartphone im Schlafzimmer liegen musste, auf dem Nachttisch.
»Dorothea?!«, er stürmte die Treppe nach oben und bemerkte nur beiläufig das Zittern in seiner Stimme. Er fand seine Frau auf dem Stuhl vor dem Schminktisch sitzend. In leicht gebeugter Haltung starrte sie auf etwas in ihrer Hand. Berger war im Begriff, sie anzuherrschen, warum sie nicht auf seine Rufe reagierte, als sie sich zu ihm umdrehte. Ihr Blick ließ ihn verstummen. Eine Mischung aus Abscheu und Ekel strahlte ihm aus ihren blauen Augen entgegen. Den Mund fest zusammengepresst, sodass die Falten um ihre blutleeren Lippen deutlich hervortraten.

»Warum hast du das getan?«, fragte Dorothea mit kraftloser Stimme in den Raum.
»Was? Wieso ich?«, stotterte Richard. »Die sind doch die Verrückten!« Er rang um Fassung.

Seine Ehefrau starrte ihn stumm an. Erst jetzt bemerkte er, dass sie sein Smartphone in den Händen hielt. Ihr Blick wanderte zu dem Telefon. Als ob sie vorher nicht realisiert hätte, wie angewidert sie von diesem »Ding« in ihren Händen war, schob sie es ihm hin.

Berger blickte auf das Gerät. Er spürte erneut dieses ungute Gefühl, wie vorhin vor der Haustür. Er hatte eine Videonachricht von einem unbekannten Absender bekommen. Er drückte auf sein Handy, um die Nachricht abzuspielen. Seine feuchten Finger hinterließen einen schmierigen Abdruck auf dem Display.

Das Video startete. Er sah sich selbst und jemand schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein!« Dann der blutüberströmte Mann im Vorgarten der Familie Berger.

Die Szene wechselte abrupt. Zu sehen waren zwei junge Frauen, Anfang zwanzig. Die Mädchen saßen auf billigen Plastikstühlen in einem bis zur Decke gefliesten Raum, der von grellem Neonröhrenlicht beleuchtet war. Richard störte sich an dem Abfluss, der in der Mitte des Bodens zu erkennen war. Beide Frauen schluchzten und blickten mit aufgerissenen und geröteten Augen in die Kamera. Feuchte Strähnen hingen in ihren Gesichtern und vermischten sich mit verlaufener Schminke. Plötzlich sprach eine dunkle Stimme:

»Reich wird man nicht durch das, was man verdient, sondern durch das, was man nicht ausgibt.« Der Sprechende beendete den Satz mit einem Kichern und hielt kurz inne.

»Entweder du legst innerhalb der nächsten 2 Stunden 250.000 € in Goldbarren an dein hübsches Gartentürchen oder die beiden Mädchen hier werden sterben.«
Wieder ließ die dunkle Stimme das Gesagte sacken und fuhr dann fort:
»Alternativ tötest du innerhalb der nächsten 2 Stunden deine Ehefrau. Dafür verdienst du 250.000 € in Scheinen, hübsch verpackt in einer Reisetasche an deiner Gartentür.«

Das Video endete abrupt.
Richard fing an zu stammeln: »Das ist doch Irrsinn, kranker Wahnsinn!«

Er sah hilfesuchend zu Dorothea und schaute geradewegs in den Lauf einer Pistole, die seine Frau auf ihn richtete.

Die Nachricht

Charles Leduc schreckte hoch. Sonnenstrahlen griffen durch die Ritzen der gezogenen Vorhänge. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach sieben.
Die Frau neben ihm, deren dunkles Haar sich über das Kissen ergoss, regte sich, drehte sich zu ihm.
„Was ist los?“, fragte sie.
„Nichts.“, sagte er.
„Du schwitzt, hast du schlecht geträumt?“
„Nein, es ist nichts. Nichts, dass dich etwas angehen würde.“
„Hat es mit dem Umschlag zu tun, den ich dir überreicht habe?“
„Nein!“, sagte Leduc. Er war genervt und ungehalten. „Wo hast du diesen Umschlag überhaupt her? Wer hat ihn dir gegeben?“
„Eine Agentur. Du müsstest die Chefin fragen. Sie hat ihn mir in die Hand gedrückt und gesagt ich solle dir den übergeben und mit dir die Nacht verbringen. Von wem der Auftrag stammt, weiss ich nicht. Ich bin diskret und stelle keine Fragen.“
„Großzügig.“, sagte Leduc. Er betrachtete die Frau neben sich. „Wer auch immer dich geschickt hat, hat jedenfalls meinen Geschmack getroffen.“
„Das freut mich“, sagte die Frau. „Übrigens uns bleibt noch eine Stunde, falls du, du weißt schon.“
Sie zog an ihrem Leintuch, lächelte und gewährte Leduc einen Blick auf ihren Körper, der ihn einlud, sich für die nächste Stunde mit den schönen Dingen des Lebens zu beschäftigen. Er mochte Asiatinnen, aber jetzt war er nicht in Stimmung, er musste einen klaren Kopf bewahren.
„Wie hast du micht gefunden? Es steht kein Name auf dem Umschlag.“
„In der Hotelbar, gestern Abend. Das war ja nicht schwierig. Richard Berger, Zimmer 1203, Hotel Peninsula, Manila. Ob Berger dein richtiger Name ist, geht mich nichts an.“
Wusste die Frau etwas? Ihre letzte Bemerkung liess Leduc aufhorchen.
„Danke jedenfalls für den Umschlag.“, sagte er. „
„Keine Ursache, ist mein Job.“, sagte die Frau. „Ich werde mich mal frischmachen. Ich muss zum Flughafen.“
„Wohin geht denn die Reise?“, fragte Leduc.
„Via Singapur nach Paris.“, antwortete die Frau.
„Weitere Umschläge verteilen.“, sagte Leduc. „Na ja, geht mich ja nichts an.“
„Ich weiss es nicht.“, sagte die Frau. „Und wenn ich es wüsste, würde ich es nicht sagen.“
Sie zog sich ins Badezimmer zurück, überliess Leduc seinen Gedanken.
„Verdammt was war da los? War etwas schiefgelaufen?“. Leduc fluchte innerlich.
„Dieser Traum: Berger hiess der Kerl, das hatte er deutlich auf dem Messingschild am Eingang gesehen. Er glich aber nicht dem Berger, den er kannte und dessen Identität er für seinen Aufenthalt in Manila benutzte. Der und seine Frau betrieben ein Reisebüro in Deutschland und benutzten die Touristenbusse für den Drogenumschlag in Europa. Und schliesslich die Nachricht. Was sollte das? Castelnaudary, das Kaff in Südfrankreich, das er kannte, gut kannte.“
Er brach den Gedanken ab, als die Frau aus dem Badezimmer trat und begann sich anzuziehen. Viel war es nicht, das sie sich mit lasziven Bewegungen überstreifte.
Die Frau beunruhigte Leduc, nicht nur wegen ihrer Ankleideshow. Das war aufregend, erregend, aber was wusste sie? Rose war ihr Name, erinnerte er sich, kaum ihr richtiger Name.
„Was ist das für eine Agentur für die du arbeitest?“, fragte er.
„Ich bin eigentlich ein Freelancer, nehme aber ab und zu Aufträge von Agenturen entgegen.“ Rose lächelte. Sie war fertig angezogen.
„Und welche Agentur hat dir den Auftrag gegeben, mich zu bezirzen?“
„Hab ich dich bezirzt?“. Rose lächelte. „Nun, wie schon gesagt. Ich bin diskret. Nun muss ich aber, die Zeit ist um. Ich hoffe es hat dir gefallen.“
„Ja hat es“, sagte Leduc. „Vielleicht habe ich ja mal Lust auf eine Wiederholung. Wie kann man dich denn erreichen?“
Rose langte in ihr Handtäschchen und überreichte Leduc eine Visitenkarte.
Leduc schaute auf die Karte, als die Tür hinter Rose ins Schloss fiel.
„Rose“, stand da in der Mitte und darunter. „Line-Contact: Rose123abc“.
Er trat zum Safe, öffnete ihn und entnahm den dünnen, unscheinbaren Umschlag, den ihm Rose letzte Nacht überreicht hatte.
Er las nochmals die Nachricht „Begeben Sie sich unverzüglich nach Castelnaudary, Stiftskirche, 3. Bankreihe links, aussen. Spesen anbei“. Diese bestanden aus zehn Tausendernoten, Schweizerfranken, von einer Büroklammer zusammengehalten,
Er legte Rose’s Visitenkarte dazu.

Zehntausend Euro Teil II (von Bücherbaum)

Diese hatte dem Schuss gehört und kam die Treppe heruntergerannt. „Was ist passiert?“ , fragte sie atemlos. „Ich weiß nicht“, antwortete Berger, „da hat sich jemand erschossen, irgendwie erschossen, nun ruf doch die Polizei.“ Die Hilflosigkeit mischte sich mit Verzweiflung und er begann zu zittern. Mit seinen schweißnassen Händen drängte er seine Frau von der Tür zum Telefon. Dieses stand im hinteren Teil des langen Flurs und Berger hatte das Gefühl, dass Stunden vergingen, bis seine Frau endlich das Telefon von der Ladestation nahm.

„Hier, hier ist Frau Berger“, stammelte sie, „hier wurde geschossen, kommen sie schnell, natürlich bin mir sicher, nun kommen sie doch endlich!“ Die letzten Worte schrie Frau Berger so laut, dass es sicher auch die Nachbarschaft gehört haben musste. „Was meinen sie, wo? Wir wohnen in der Bergstraße, was? Nummer“, ihre Stimme krächzte, dann verstummte sie und sah kreidebleich ihren Mann an. „Sechszehn, ja sechszehn in der Bergstraße“, nun begann Herr Berger zu schreien, „kommen sie doch schnell, bitte!“

Gefühlte Stunde später, hörten Herr Berger und seine Frau, die sich inzwischen auf die Treppe im Flur gesetzt hatten, die Sirene eines Polizeiautos. Bis dahin waren sie außerstande gewesen, irgendetwas anderes zu tun, als immer wieder sich abwechselnd zu fragen, was ist passiert, warum vor unserer Tür, ich verstehe das nicht, das kann alles nicht sein.

Der Gong von Bergers Türglocke ertönte und gleich darauf ein lautes Pochen an der Tür, was das Ehepaar auf der Treppe zusammenzucken ließ. „Warte“, flüsterte Herr Berger, „wir wissen ja nicht, ob es wirklich die Polizei ist.“ Wieder ein Pochen, diesmal stärker und dann eine tiefe Stimme: „Hier ist die Polizei, bitte öffnen sie die Tür, Herr oder Frau Berger!“

Langsam erhob sich Herr Berger und schritt vorsichtig zur Tür, lugte durch den Spion, der völlig verschmiert war. „Wer ist da?“, fragte er. „Nun machen sie endlich auf, hier ist die Polizei, sie haben doch vor zehn Minuten angerufen.“ Die tiefe Stimme wurde nun lauter und eindringlicher. Mit zitternden Händen öffnete Herr Berger die Tür so weit, wie es die Sicherheitskette zuließ.

„Herr Berger, bitte öffnen sie die Tür ganz, wir sind von der Polizei und möchten mit Ihnen reden“, sprach nun eine ruhige Stimme, so dass Herr Berger die Tür etwas zuschob und die Sicherheitskette entfernte. „Dürfen wir reinkommen, damit wir in Ruhe sprechen können?“, fragte die ruhige Stimme. Herr Berger sah nun zwei Polizeibeamte. Er schaute seitlich an ihnen vorbei und sah ein Blutlache aber es war darauf kein Mensch zu sehen. Er fragte sich, ob schon so viel Zeit vergangen war und die Polizei die Leiche bereits wegtransportiert hatte.

Frau Berger war nun auch zur Tür gekommen und schaute über die Schulter ihres Mannes. Sie hatte das Ganze aus sicherer Entfernung verfolgt und sprach fast automatisch aber etwas heiser: „Kommen sie doch bitte rein.“ „Können wir uns irgendwo hinsetzen?“, fragte der Beamte mit der ruhigen Stimme. „Ja“, antwortete Frau Berger, „kommen sie, wir gehen hier rein.“ Sie schob eine Glastür auf der rechten Seite des Flurs auf und deutete mit der Hand in Richtung Wohnzimmer. Dort stand ein Esstisch, an dem sie sich auf einen Stuhl fallen ließ.

Ihr Mann dagegen, stand immer noch im Türrahmen und beobachtete das Ganze wie hypnotisiert. „Setzen sie sich doch bitte, Herr Berger“, forderte ihn der andere Polizeibeamte, mit der lauten Stimme auf und wies auf einen Stuhl neben seiner Frau.

„Nun erzählen sie mal, was hier passiert ist“, sprach er weiter mit etwas leiserer Stimme. Herr Berger schien sich gefangen zu haben und begann in kurzen Sätzen zu berichten: „ Es hatte geklingelt und ich bin an die Tür gegangen. Da standen zwei Männer und wollten Geld. Der eine von ihnen hielt sich eine Pistole an den Kopf. Er sagte, wenn er kein Geld bekommt, bringt er sich um. Ich hielt das für einen Scherz und sagte, sie sollten verschwinden. Doch dann hat er abgedrückt und, und, und dann fiel er um. Und es spritzte Blut aus seinem Kopf. Dann habe ich die Tür schnell wieder zugemacht.“ „Ja“, bestätigte nun auch Frau Berger, „es wurde geschossen und wir haben solche Angst gehabt, dass wir erschossen werden und dann haben wir sie gerufen.“

„Sind sie sicher, dass sich vor ihrer Tür jemand erschossen hat?“, fragte der ruhigere Beamte. "Ja, sicher“, die Stimme von Herrn Berger fing an zu kreischen, „natürlich hat er geschossen, es kam ja ganz viel Blut aus seinem Kopf und, und,“ Frau Bergers Stimme kreischte ebenfalls: „Ich habe es doch auch gehört, glauben sie uns etwa nicht?“

„Bitte bleiben sie ganz ruhig, wir wollen das Ganze ja klären aber da draußen ist keine Leiche, nur einige neugierige Gaffer am Zaun. Die Pfütze vor ihrer Tür könnte zwar Blut sein aber das muss die Spusi, also Spurensicherung klären“, versuchte nun einer der Beamten die Aufregung bei den Bergers zu mildern. Er hatte sich inzwischen auch auf einen Stuhl gesetzt und sein Notizbuch hervorgeholt.

„Das kann gar nicht sein“, die Stimme von Herrn Berger wurde weinerlich und er schüttelte den Kopf. Auch seine Frau ließ den Kopf in ihre Hände sinken und fing an zu schluchzen: „Das kann alles nicht wahr sein, bitte sagen sie, dass das nicht wahr ist! Das ist doch alles nur ein Traum, oder?“

Der Polizist mit dem Notizbuch begann darin zu blättern, nahm einen Stift aus der seitlichen Schlaufe und wiederholte seine Frage: „ Nun erzählen sie doch mal ganz in Ruhe, was passiert ist und ganz langsam, Herr Berger. Wo waren sie als es geklingelt hatte?“

Herr Berger drückte seine gefalteten Hände so, dass die Knöchel weiß wurden, atmete tief ein und aus und begann erneut: „Ich war an der Garderobe, weil wir zur Kirche wollten, da hatte es geklingelt. Ich bin zur Tür und sah durch den Spion zwei Männer.“ „Kannten sie die Männer?“, fragte der Beamte. „Nein, ich wollte eigentlich auch gar nicht öffnen aber, aber ich weiß auch nicht warum ich geöffnet habe“, antwortete Herr Berger. „Was geschah dann?“, fragte der Beamte weiter. Wieder atmete Herr Berger geräuschvoll und erzählte weiter: „Sie sahen nicht aus wie Gauner und ich wollte nicht unhöflich sein, deshalb öffnete ich die Tür so weit, wie es die Kette zuließ. Einer hielt ein Handy hoch und der andere sagte, dass er Geld, ich glaube, er wollte zehntausend Euro haben und sich umbringen, wenn er das nicht bekommen würde.“

Wieder atmete Herr Berger tief durch und schüttelte dabei den Kopf. „Und dann?“, fragte der Beamte und machte sich dabei Notizen. „Dann schoss er“, würgte sich Herr Berger aus dem Hals, „ das habe ich doch schon gesagt und Blut spritzte aus dem Kopf und alles wurde mit dem Handy gefilmt und dann habe ich die Tür zugeknallt und dann bin ich zu meiner Frau und, und,“. „Ganz ruhig“, unterbrach ihn der Beamte, der aufgehört hatte sich Notizen zu machen. In diesem Moment schellte es an der Haustür und das Ehepaar Berger zuckte zusammen. Der andere Beamte, der die ganze Zeit mit verschränkten Armen am Fenster gestanden hat, ging nun mit forschen Schritten durch das Wohnzimmer. „Ich gehe mal gucken“, brummelte er und sein schwerer, schneller Schritt war im Flur zu hören.

An der Haustür wurde er von einem Kollegen der Spurensicherung auf den neuesten Stand gebracht. Es war tatsächlich Blut vor der Haustür und es mussten aber noch weitere Untersuchungen gemacht werden. Ein anderer Kollege suchte die Umgebung nach Auffälligkeiten ab und auch die Schuhabdrücke, die auf dem Pflasterweg zum Zaun zu sehen waren, musste sich die Spurensicherung noch vornehmen. Diese fingen an zu schimpfen, da ein leichter Regen einsetzte und sie in aller Hektik ein Schutzdach über den Tatort aufbauten. Die gaffenden Nachbarn am Zaun murmelten und begannen sich, zu entfernen. Nur ein Mann mit einer Jacke, die wie eine Lederjacke aussah, blieb etwas länger stehen.

Im Haus klingelte das Telefon. Frau Berger, schien sich etwas gefangen zu haben, ging flotten Schrittes zur Treppe und nahm es von der Stufe. Sie nannte klar und deutlich ihren Namen. Doch dann, fingen ihre Lippen an zu zittern und sie wurde kreidebleich im Gesicht.

Der Schock saß tief. Wie in Trance versuchte er, die Szene zu verarbeiten, deren Zeuge er soeben geworden war. Gleichzeitig fing er fieberhaft an, nachzudenken.

Es konnte nicht wahr sein. Es konnte einfach nicht wahr sein. Da kamen an einem friedlichen Sonntagmorgen zwei wildfremde Männer an seine Haustür, stellten eine irrsinnige Forderung und verbanden sie mit der Drohung eines Selbstmordes. Und er, der in völliger Verblüffung und Verwirrung dieses wahnwitzige Ansinnen abgelehnt hatte, musste mit ansehen, wie einer der beiden Männer sich tatsächlich erschoss. Und dann wurde eine Smartphone-Kamera auf ihn gerichtet und er eines Verbrechens beschuldigt, das er nie begangen hatte.

Panik stieg in Richard Berger auf. Eine Panik, der er nicht mehr Herr werden konnte.

Er öffnete wieder die Wohnungstür. Der Mann, der sich erschossen hatte, lag seltsam verdreht davor. Die Blutlache hatte sich mittlerweile weiter vergrößert.

Der andere Mann, der alles gefilmt hatte, stand nun etliche Meter von der Haustür entfernt und telefonierte.

Richard Berger reagierte irrational.

Er wusste, was sich in einer Schublade seines Nachttischschranks befand: die alte Armeepistole seines Vaters, die er ihm einst vermacht hatte, samt dazugehöriger Munition. Auf einem einsamen Waldweg hatte Berger einmal einen Probeschuss abgegeben. Die Waffe funktionierte noch.

Mit einem Satz rannte er ins Schlafzimmer, zog die Schublade auf, holte die Pistole heraus und entsicherte sie. Sie war geladen, obwohl Berger keinen Waffenschein besaß und auch nie vorgehabt hatte, einen zu erwerben. Aber man konnte nie wissen. Falls ein Einbrecher sich im Inneren des Hauses zu schaffen machte – falls er und seine Frau einmal bedroht würden – genau für diesen unwahrscheinlichen Fall hatte er die Waffe griffbereit bei sich im Nachttischkästchen.

Heute war der unwahrscheinlichste aller Fälle eingetreten. Nur ganz anders, als Richard Berger sich das je hätte träumen lassen.

Die Waffe herausnehmen, sie entsichern, wieder mit wenigen Schritten zur Haustür sprinten – das war etwas, wofür er weniger als dreißig Sekunden brauchte. Der fremde Mann stand immer noch mit dem Rücken zu ihm am Eingang des Weges und telefonierte. Da brannte bei Richard Berger endgültig eine Sicherung durch.

„Was machst du?“, schrie seine Frau, als sie ihn mit der Pistole in der Hand sah.

Aber es war zu spät. Berger richtete die Waffe auf den Mann und schoss. Auch dieser zweite Schuss war so ohrenbetäubend laut wie der erste.

Der Einschlag des Projektils in seinen Körper holte den telefonierenden Fremden von den Fußsohlen. Er drehte noch den Kopf, mit einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens, dann brach er ohne jeden Laut zusammen. Blut floss nun auch bei ihm aus einer tödlichen Wunde auf den Weg.

„Richard!!“, schrie Dorothea Berger entsetzt.

Im Nachbarhaus rechts von ihnen wurde langsam eine Jalousie nach oben gezogen.

Im selben Moment klingelte auf dem Seitenbord im Flur das Telefon.

Ihre braunen Augen branden vor Entschlossenheit. Fest drückte sie ihm die Hand auf den Mund. »Nein. Das ist unser Geld. Was glaubst du, was dann passiert?«
Die neue Seite seiner Frau verstärkte das beklemmende Gefühl in seiner Brust. Wie abgebrüht sie war, schmeckte er an dem fehlenden Schweiß auf ihrer Haut.
Mit der freien Hand griff sie in eine Handtasche, die sie nie benutzte. Zog daraus ein Handy hervor, das ihm unbekannt war. Dorothea wurde ihm mit jedem verstreichenden Augenblick fremder. Hatte sie das alles inszeniert? Wollte sie die Scheidung? So? Was war aus ihrem Glauben, dem bis dass der Tod uns scheidet, geworden? Richard wurde eiskalt.
Seine Augen prägen sich ihr Profil ein. Wer war diese Frau. Sein Herz erkannte sie noch immer. Es waren mehr Bewegungen in ihren Zügen. Zeigt sie ihr wahres Gesicht? Und immer wieder die Frage, kannte er einen der beiden Männer. Er traute sich nicht zu bewegen, solange sie weiter seinen Mund zuhielt.
Er beobachtete, wie sie einen Messenger öffnete, den er nicht kannte. Was sie tippte, konnte er nicht erkennen. Nur das jemand am anderen Ende antwortete.
Sie ließ seine Lippen los. »Was … Doro…« unsanft stopfte sie ihm die hässliche Krawatte zwischen die Zähne. Legte dann den Zeigefinger auf seinen gestopften Mund. War das, um ihn zu schützen oder dafür wieder freie Hand zu haben? Er lehnte sich an das Geländer. Fragend verfolgte er ihre Schritte. Suchte nach der Frau, die er so lange zu kennen glaubte. Ihre Liebe war dem Alltag mehr und mehr zum Opfer gefallen. Sie bewegte sich anderes, mutiger, entschlossener und gelöster. Wie lang hat sie auf diesen Moment gewartet? War sie dabei ihn zu verlassen?
Einen Augenblick lang vermutete Berger ihre Doppelgängerin vor sich zu sehen. Sie hauchte ihm einen vielversprechenden Kuss auf die Wange. Wand sich der Tür zu. Das Display des unbekannten Handys erwachte. Dorothea verschwand aus dem Haus. Im Spalt sah er die Blutlache und ein Ohr des Toten, bevor die Tür klickend zu fiel.
Eine unheimliche Stille umfing Berger. Wo war sein Mut geblieben? Er machte seine Frau verantwortlich – nicht dem Selbstmord auf seiner Treppe. Ein Licht traf auf den Rahmen des Fensters. Doch er traute sich nicht den Vorhang zur Seite zu schieben. Leises knirschen von Steinen in der Auffahrt und das dumpfe Schließen von Autotüren. Es versicherte ihm, wer immer mit seiner Frau geschrieben hatte, war nun da draußen. Schritte, Rascheln und Kratzen, die Geräusche waren zu gemischt, um sie zu erkennen.

Die Geräusche waren verebbt. Das Auto fuhr leise piepend rückwärts. Würde Dorothea nun zurückkommen. Ihm alles erklären. Könnte er sie noch lieben? Er wartete. Brachte den Mut nicht auf. Wünschte sich, mit zwanzig-tausend Euro alles ungeschehen zu machen. Jetzt neben ihr in der Kirche sitzen. Sein altes Leben zurück. Eine Träne stahl sich in sein linkes Auge. Er zwinkerte sie weg. Stand auf. Befreite seinen Mund. Trat zur Tür. Die Klinge entzog seiner Hand die Wärme. Kälte war auch in ihm. Übernahm seine Gefühlswelt. Was würde er hinter der Tür vorfinden? War es seine Schuld? Warum fühlte sich diese ganze Situation plötzlich wie ein Test an, einer, bei dem er schon längst durchgefallen war? Ein Teil wünschte sich seine Frau hinter dieser Tür. Doch die Vernunft widersprach. Es wäre nicht mehr seine Liebe. Mit keiner denkbaren Erklärung brächte sie diese zurück. Wann hatte er sie verloren? Heute? Oder schon vor Jahren, ohne es zu merken? Wie erklärte er sich dann die Handtasche mit dem geheimen Handy?
Zögerlich trat Berger erneut aus seinem Haus. Was er nicht sah, entmutigte ihn weiter. Von der Leiche war keine Spuren geblieben. Seine Frau, der andere Mann, verschwunden. Der Vorgarten lag unberührt vor ihm. Die Stille hier war noch bedrückender, lauter als die im Haus. Kein Vogel, nicht einmal ein Windhauch oder ein raschelndes Blatt. Als stehe er in einem Foto seines Grundstückes. Nichts begreifend drehte Berger seinen Kopf. Suchte einen Beweis. Wurde er auf seine letzten Arbeitstage senil? Sein Blick fiel auf die Tüte neben dem Fußabtreter. Von seiner Position konnte er einiges durch die blutige Öffnung sehen. Den Griff einer Pistole, ein dickes in braunes Papier gewickeltes Päckchen, das Blutgeld schrie und dann lag da dieser Umschlag. Wie ein alter Bekannter. Ein letzter Gruß. Er musste nicht nachsehen, dafür hatte er selbst zu viele solcher Briefe in ganz Frankfurt verteilt. Jetzt wusste er, wie es sich anfühlte, am anderen Ende zu stehen – und es war schlimmer, als er es je hätte ertragen können.

»Was ist passiert?«, rief sie erregt, während sie ihrem Mann entgegenlief. Den Knall hatte sie gehört, etwas gedämpft, sodass sie ihn nicht eindeutig zuordnen konnte. Sein Gesicht war kreidebleich wie das eines Toten. Er hielt sich die Hand vor den Mund und sprintete an ihr vorbei zur Toilette.
Dorothea erreichte die Haustür, schob die Klappe vor dem Spion zur Seite und lugte nach draußen. Ihr bot sich das übliche Bild. Zögerlich öffnete sie die Tür, trat zwei Schritte hinaus und ließ ihren Blick in alle Richtungen schweifen. Nichts. Augenblicklich bemerkte sie den langsam versickernden roten Fleck auf dem Plattenweg. Ist das Blut?, fragte sie sich, war das eben ein Schuss gewesen?
Als sie sich umdrehte, um zurück ins Haus zu kehren, stand ihr Mann mit schlotternden Knien vor ihr. »Was ist hier vorgefallen?«, schrie sie ihn an.
Mit weit aufgerissenen Augen sah er hinaus. »Das kann nicht sein, ich bin doch nicht bekloppt.«
Sie schloss die Tür, packte ihren Mann am Arm und schob ihn ins Wohnzimmer, wo sie ihn in seinen Sessel bugsierte. »Wo kommt der Blutfleck her«?
Mehrmals unterbrach Berger seinen Bericht, da es ihm zwischendurch die Stimme verschlagen hatte. Seine Frau schüttelte entgeistert den Kopf. Leise murmelte sie: »Was ist bloß in dich gefahren, Richard?«
Anstatt beim Sonntagsgottesdienst aufmerksam den Worten des Pfarrers zu folgen, nahm sie Eimer und Bürste zur Hand, um den eingesickerten Blutfleck zu entfernen, was ihr erwartungsgemäß nur unzureichend gelang.

Am Montagmorgen klingelte wie üblich um 7 Uhr der Wecker. Berger schreckte neben seiner Frau hoch und flüsterte: »Ruf im Büro an, ich komme heute nicht!« Kraftlos fiel er zurück und vergrub sich in sein Kopfkissen. Dorothea war ratlos, so verstört hatte sie ihren Mann nie zuvor erlebt.
Routinemäßig öffnete sie am späten Vormittag den Briefkasten. Ein weißer Briefumschlag - ohne Anschrift, ohne Absender - kam zum Vorschein. Mit ihren Fingern erfühlte sie einen harten Gegenstand, der sich beliebig hin- und herschieben ließ.
Zurück im Haus berichtete sie ihrem Mann von dem rätselhaften Umschlag.
»Lass mich in Ruhe!«, unterbracht er sie abrupt.
»Dann öffne ich ihn eben alleine«, reagierte sie trotzig. Ein USB-Stick fiel heraus. Blitzschnell fuhr sie ihr Notebook hoch. Ein Video zeigte das Straßenschild Birkenstraße, in der die Bergers wohnten, im Anschluss die Hausnummer und ihren Namen. Ins Bild rückte ein älterer, graubärtiger Mann, der zehntausend Euro forderte. Die Kamera schwenkte auf Berger, der den Kopf schüttelte und den Unbekannten einen Verrückten nannte. Der Ältere wiederholte seine Forderung woraufhin Berger mit den Worten reagierte: »Machen Sie, was Sie wollen!« Sein Gegenüber wich nicht von der Stelle, sah ihn indes flehend an. Wie aus dem Nichts ertönte ein lauter Knall. Unvermittelt stieg eine rötlich-graue Wolke hinter dem Kopf des Fremden auf, der Sekunden später mit dem Rücken auf den Boden fiel und reglos liegenblieb. Das Objektiv nahm wieder Berger ins Visier, der mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund in seiner Haustür stand. Die Handykamera schwenkte nach unten. Vor der Tür lag eine Pistole.
Die Sequenz war zu Ende, das Bild wurde schwarz. Dorothea verstand die Welt nicht mehr.
Keine zehn Minuten später klingelte das Telefon. Die Nummer war unterdrückt. Eine verzerrte Stimme meldete sich: »Sie haben das Video gesehen?«
Ihr Herz fing wild zu rasen an. »Wer sind Sie, was wollen Sie von uns«?
»Fünfzigtausend Euro - nächste Woche - Info folgt - keine Polizei - sonst geht das Video viral.« Das Gespräch wurde beendet.
Dorothea saß wie schockgefroren vor dem Telefon, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen und den Hörer aus der Hand …

Der Polizist stellte sich als Kommissar Kaldewey vor. Er und seine Kollegin, deren Namen Berger entfiel, nahmen seine Aussagen auf und ignorierten seine Beteuerungen, keine Ahnung zu haben, warum ausgerechnet er Opfer dieser perfiden Aktion gewesen war. Vor der Haustür wurden Spuren gesichert und Abstände vermessen. Die Waffe war nicht mehr zu finden. Der Mann mit der Kamera musste sie mitgenommen haben. Nach anderthalb Stunden – Berger kam es wie eine Ewigkeit vor – kam der Leichenwagen und schaffte den Toten vor der Haustür weg.

„Bitte kommen Sie heute Nachmittag zur Wache in der Jakobistraße. Wir müssen noch ein paar Formalitäten erledigen“, sagte der Kommissar zum Abschied.

„Was ist mit der Blutlache da draußen? Meine Frau traut sich nicht vor die Tür, solange diese Sauerei da herumliegt.“

„Richard!“ Dorothea Berger legte ihm eine zitternde Hand auf den Arm. „Ist doch wahr“, schimpfte er.

„Ich empfehle Ihnen, einen professionellen Tatortreiniger zu beauftragen“, empfahl Kommissar Kaldewey. „Im Putz an der Hauswand saugen sich die Spritzer ganz gerne nachhaltig ein.“

„Wie, ich muss auch noch dafür bezahlen, diese Sauerei beseitigen, die der Mistkerl …?“

„Richard! Es wird uns schon nicht ruinieren.“ Frau Berger wandte sich an den Kommissar. „Das machen wir. Vielen Dank für ihre Hilfe.“

„Dann bis heute Nachmittag.“ Kaldewey nickte ihnen noch einmal zu und schloss die Tür hinter sich.

Auf der Wache mussten beide ihre Aussagen wiederholen und den Bericht darüber unterschreiben. Berger fühlte sich, als unterschreibe er sein eigenes Schuldgeständnis. Warum nur? „Machen Sie, was sie wollen“, hatte er dem Mann gesagt. Konnte man das als Anstiftung zum Selbstmord auslegen? Und warum war die befragende Beamtin so kühl. Klar, der Mann hatte gezittert, aber hätte er, Berger, wirklich damit rechnen müssen, dass er seine Drohung durchziehen würde?

„Nett waren sie.“ Dorothea hakte sich bei ihm ein. „Und der Kaffee war auch nicht so schlecht.“

„Hm“, brummte Berger.

Zu Hause blinkte der Anrufbeantworter. Im Vorbeigehen drückte Berger auf den Knopf.

„Richard? Ich hab dich grad auf TikTok gesehen! Ich wusste gar nicht, dass du solche Sachen drehst. Und ich mein – also das Fake ist ja nicht schlecht, man glaubt wirklich, dass der Typ sich erschießt, wie habt ihr das gemacht, mit ner versteckten Sprühflasche, da wird einem ja fast schlecht bei, oder ist das irgendwie ne Animation oder so? Nur, ich mein – ich find’s doch ein bisschen geschmacklos, mit sowas macht man keine Witze. Womöglich kommt jemand auf die Idee und zieht sowas wirklich durch … Egal, melde dich mal wieder, Kumpel. Ciao!“

„Das war Klaus, oder?“ Dorothea stand in der Küchentür und sah ihn an. Erst jetzt merkte er, dass er noch immer im Flur stand und seinen linken Schuh in der Hand hielt. Den guten von Bugatti. Er wollte ja ordentlich aussehen auf der Wache. Nicht wie einer, der andere zum Selbstmord zwingt. „Wusste gar nicht, dass er TikTok guckt.“

Berger stellte den Schuh ordentlich neben den ersten. „Vielleicht bei seinen Enkeln. Er selbst hat noch nicht mal WhatsApp. Wer ruft sonst noch auf dem Festnetz an?“

Am nächsten Morgen stellte er erstaunt fest, dass er die Nacht gegen alle Erwartungen durchgeschlafen hatte. Dorothea was bereits wach und hatte den Kaffee angestellt. Das Geschehen vom Vortag kam ihm unwirklich vor, wie ein schlechter Traum, der einen unangenehmen Geschmack im Mund hinterlassen hatte. Es würde vergehen, wie der Geschmack verging, wenn er den ersten Schluck Kaffee trank.

Beschwingt beschloss er, wieder einmal mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. „Ich komm heute Mittag zum Essen nach Hause“, informierte er Dorothea beim Abschiedskuss. „Die Buchhaltung kann bis morgen warten.“

An der frischen Morgenluft verblasste der Albtraum vom Vortag fast völlig und als Berger in die Fußgängerzone einbog, lag er nur noch als feiner Hauch über dem Frühlingstag. Bis er in Sichtweite seines Reisebüros kam. Vor dem Schaufenster hatte sich eine Menschentraube versammelt. Er stellte sein Fahrrad ab und drängte sich nach vorne. „Entschuldigen Sie, ich bin der Besitzer, ich muss …“

Er verstummte. Auf der Scheibe leuchteten im Blutspritzer entgegen und daneben schrie ihm in roter Farbe entgegen: „Mörder! Ausbeuter! Kapitalist! Dein Geiz bringt Menschen um!“

„Herr Berger?“ Ein Polizist trat ihm in den Weg. „Hier können Sie nicht rein. Wir müssen zuerst den Tatort sichern.“ Hinter dem Polizisten sah er erhobenes Handy. „Da ist er!“, schrie er und stürzte nach vorne. Der Polizist fing ihn ab. „Langsam, langsam. Wer ist da?“

„Der Typ, der mich gestern gefilmt hat! So fassen Sie ihn doch!“

Der Polizist drehte sich um. Da standen jedoch nur zwei junge Frauen und ein älterer Mann. Herr Berger kannte ihn – Herr Weinrich, einer seiner besten Kunden. Er hätte jetzt einen Termin bei ihm gehabt, um die nächste Kreuzfahrt zu planen. „Ich komme dann besser ein andermal wieder, Herr Berger“, sagte Herr Weinrich, drehte sich um und ging davon.

Richard Berger blieb reglos hinter der geschlossenen Tür stehen. Den Blick leer auf das betont modern gestaltete Holzschild mit der lötkolbengebrannten Inschrift HOME gerichtet, verharrte er, etwa einen Meter entfernt. Sein Kopf fühlte sich so leer und so voll an, als habe vor einer Sekunde ihm der Schuss das Hirn aus dem Schädel sprühen lassen.
Das Hirn aus dem Schädel.
Er spürte sein Gesicht und wusste nicht, ob sich das heiß oder kalt anfühlte, es war, als nähme er jeden Muskel und jede Sehne und die Durchblutung seines Hautgewebes wahr. Gealtert. Home. Was war noch gleich geschehen?
Aber das konnte doch nicht wirklich passiert sein. Nicht wahr - nein. Unmöglich, schwachsinnig. So etwas - und warum sollte auch jemand, das-
„Liebling?"
Hinter ihm erklang die Stimme seiner Frau. Die gab es ja auch noch. Das alles hier, dieses Haus, und…
Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Er drehte sich zu ihr um. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich.
Er verstand nicht.
So lange jedenfalls, bis ihm klar wurde, dass sie unwillkürlich etwas spiegelte: Ihn.
Er hatte seine Ausführung nicht nur gedacht. Er hatte gesprochen.
„War das ein Schuss?"
Sie bewegte sich auf die Haustür zu, wollte an ihm vorbeigehen. Er schob sich ihr in den Weg und stieß sie zurück. Es kam ihm nicht fest vor, doch sie taumelte und landete mit dem Rücken in den Jacken an der Garderobe, eine dunkelbraune Strähne fiel in ihr Gesicht.
„Da draußen ist ein Mann.“, entfuhr es Richard, wie zur Erklärung.
Jetzt war ihrem zunächst noch vagen Entsetzen eine konkrete Angst, oder war es mehr eine Wachsamkeit, hinzugekommen. Er kannte seine Frau gut genug, um zu erraten, was sie dachte: Noch immer wollte sie an ihm vorbei!
„Nein, warte!„, rief er „Da war ein Mann! Ein zweiter. Nicht der, der geschossen hat. Er filmt!“ Richard stieß diese Worte mehr wie ein spuckendes Flüstern aus als das, was seiner normalen Sprache mit ihr entsprach. Aber von jetzt auf gleich war nichts mehr normal. Und dennoch hatte er das aberwitzige Gefühl, das Gesehene an sich vorbei ziehen zu lassen, gesetzt dem Fall, dass nur die gottverdammte Haustür zu bliebe!
„Liebling", sagte sie abermals und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
„Nein!„, hielt Richard ihr entgegen und packte sie an beiden Oberarmen. „Nein“, wiederholte er noch einmal und begann sich zu fragen, warum er das sagte - es schien weder ihr zu gelten, noch sie zu erreichen.
„Lass mich los", sagte sie. Er ließ von ihr ab. Sie bewegte sich zu dem kleinen, schmalen Fenster neben der Haustür und sah hinaus.
„Da war ein Mann, der gefilmt hat. Er hat alles gefilmt. Er hat mich beleidigt! Ist er noch da?"
„Nein."
„Wir müssen die Polizei rufen. Er sagte, zehntausend Euro… dass er sterben würde, wenn ich nicht zehntausend Euro… und dann hat er einfach-"
Jetzt sah Dorothea wieder ihn an: „Wir müssen ihn rein bringen.“
„Was, ins Haus?„, fragte Berger entgeistert.
Doch sie öffnete schon die Haustür und schritt auf den Toten zu, der noch immer dort in ihrer Einfahrt lag, die geöffneten Augen in den bewölkten Himmel gerichtet. Diese Augen.
„Pack mit an!“, rief sie ihm gedämpft zu. Richard fühlte sich nicht gut.
Ihm war klar, dass er jetzt die Füße würde nehmen müssen. Dorothea würde alleine wohl kaum-
Der Inhalt seines Magens schoss so schnell nach oben, dass ihm nicht einmal Zeit blieb, sich vornüber zu beugen.
„Dorothea", keuchte er. „Was geht hier vor sich?"
Statt zu einer Erklärung anzusetzen - was auch immer sie hätte erklären sollen! - blickte sie ihn streng an, und nach 21 Jahren Ehe kannte er diesen Blick zu gut. Er bedeutete: Nicht jetzt, Richard.
Also nahm er die Füße.
Oberhalb des Schuhrandes schienen seine Hände keinen rechten Halt an den Gelenken zu finden. Der Körper, mochten es 80 oder 85 Kilo sein, gab nach und zog plump und wie ein nasser Sack in der Mitte nach unten, schaukelte, als Richard sich damit rückwärts die Stufen hoch und durch den Eingang zurück ins Haus schob. Die Körperlichkeit dessen, was bis vor wenigen Augenblicken noch eine Person, ein Gegenüber gewesen war, war zu etwas Unförmigen, Grotesken geworden. Die Arme fielen beim Tragen nacheinander seitlich herunter und die Hände landeten jeweils mit einem Klatschen auf den Fliesen, das für sich genommen völlig unspektakulär klang.
Dorothea, dachte er, hatte die Aussicht auf das, was von seinem Hinterkopf geblieben war.
Sie schloss die Haustür mit dem Fuß hinter sich. Das Schild mit der Inschrift HOME klapperte gegen die Kunststoffoberfläche der Tür.
Berger kam in den Sinn, dass er bei all dem noch immer die Krawatte mit den Eurozeichen trug.
Wie automatisch ging er rückwärts mit den Beinen des Toten die ersten Stufen der Kellertreppe hinab. Dorothea folgte ihm aber nicht: Sie schien das als ein Drehmanöver, wie bei einem Umzug, zu verstehen, sodass nun sie mit dem Kopf vorne ging. Er erhaschte einen Blick darauf, wie er lose im Genick nach unten hing und wünschte, das hätte er nicht sehen müssen.
„Was tust du?„, flüsterte er.
„Wir legen ihn ins Wohnzimmer“, sagte sie.
„Das kommt nicht in Frage. Ich will das nicht", erklärte er.
„Doch. Leg ihn auf den Teppich."
„Nicht wenigstens die Couch?"
„Nein, auf den Teppich."
„Aber was ist mit dem Mann, der gefilmt hat?", fragte er. „Er hat das alles gefilmt, Dorothea.“
Dorothea griff zum Telefon.

Frau Berger kam aus dem Badezimmer und sag ihren Mann erschrocken an. „Was war das, Schatz?“ Sie stockte in ihrer Bewegung, als sie sah, dass ihr Mann ganz bleich war und am ganzen Körper zitterte.

„Ruf die Polizei!“ wiederholte er leise und ließ sich unsicher auf eine Stufe der Treppe in den ersten Stock sinken. Frau Berger sah von ihrem Mann noch einmal zur Tür und ging dann schnell zum Sideboard, welches gegenüber an der Wand stand. Sie nahm das Telefon in die Hand und eilte zu ihrem Mann zurück.

Sie setzte sich neben ihn und wollte schon wählen. Aber dann sah sie noch einmal auf die Tür und kniff ihre Augen zusammen, als könne sie so hindurchsehen und erkennen, was draußen vor sich ging.

„Was ist denn nur passiert, Richard? Was soll ich ihnen sagen?“

„Er hat sich einfach erschossen. Einfach so.“

„Bitte was?“ Frau Bergers Stimme überschlug sich leicht.

„Ruf die Polizei!“ Berger schaute seine Frau jetzt direkt an und er machte keinen guten Eindruck auf sie. Sie wählte die 110 und wartete, ihre Gedanken rasten. Tausend Fragen wirbelten in ihrem Kopf herum und plötzlich wurde ihr bewusst, dass ja wohl scheinbar jemand mit einer Schusswaffe vor ihrer Tür stand. Es überkam sie auf einmal Angst.

„Hallo? Bitte nennen Sie ihren Namen. Hallo, sind Sie noch dran?“

Frau Berger war so in Gedanken, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass sich schon längst eine Frau gemeldet und nach Namen und Art des Notfalls gefragt hatte.

„Äh, ja, ja. Ich bin noch dran. Berger mein Name. Hören Sie, scheinbar hat sich hier gerade jemand vor unserer Haustür erschossen. Es gab einen lauten Knall. Ich habe ihn gehört! Mein Mann war an der Tür, er hat alles mit ansehen müssen, du meine Güte. Er ist ganz blass. Was sollen wir jetzt machen? Wir wollten gerade los-“

„Bitte beruhigen Sie sich, Frau Berger. Bitte sagen Sie mir, wo Sie wohnen. Ich schicke sofort einen Streifenwagen und einen Krankenwagen zu Ihnen. War die Person alleine?“

„Ich weiß es nicht.“ An ihren Mann gewandt fragte sie: „War der Mann alleine, Richard?“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Der Jüngere, er hat alles gefilmt.“ flüsterte er.

„Oh mein Gott“ Frau Berger bekreuzigte sich schnell. „Es war noch ein Mann dabei, er hat alles auf Video aufgenommen, sagt mein Mann. Das kann doch alles nicht wahr sein!“

„Okay, Frau Berger, bewahren Sie Ruhe. Bitte nennen Sie mir jetzt ihre Anschrift, damit wir Hilfe zu Ihnen schicken können.“

Frau Berger nannte ihre Adresse. Die Polizistin bestätigte nach einem kurzen Moment, dass sie einen Wagen losgeschickt hatte.

„Aber was sollen wir denn jetzt machen?“

„Wo sind sie gerade? Können Sie sehen, was draußen vor sich geht?“

„Wir sitzen hier im Flur auf unserer Treppe. Mein Mann ist ganz blass. Wir können von hier aus nichts sehen, die Tür ist aus Holz. Aber wir haben einen Spion -“

„Bitte gehen Sie nicht an die Tür, Frau Berger. Bleiben Sie da, wo Sie sind. Die Kollegen werden in wenigen Minuten bei Ihnen sein und sich darum kümmern. Wir wissen nicht, was die zweite Person mit der Waffe anstellt. Könnte ich bitte mit Ihrem Mann sprechen, Frau Berger?“

Sie hielt ihm den Hörer hin. „Richard, kannst du mit der Polizei reden?“

Er nahm langsam den Hörer in die Hand.

„Berger.“ sagte er tonlos.

„Erzählen Sie mir bitte, was passiert ist, Herr Berger!“ Die Polizistin hatte eine ruhige, unaufgeregte Stimme. Berger wurde misstrauisch.

„Ich habe doch nichts falsch gemacht. Ich kann ihm doch nicht einfach Geld geben, ich kenne ihn doch gar nicht! Ich bin nicht schuldig! Sie dürfen ihnen das nicht glauben. Das kann doch wohl alles nicht wahr sein.“ Berger ließ sich nicht von der Polizistin unterbrechen. Er wollte jetzt klarstellen, dass er damit rein gar nichts zu tun hatte.

„Herr Berger!“ Die Stimme aus dem Telefon klang nun laut und ernst. „Beruhigen Sie sich! Atmen Sie!“ Berger dachte, wie man sich denn wohl in so einer Situation beruhigen sollte. Sie war ja schließlich nicht dabei gewesen, sie hat gut reden. Plötzlich spürte er die Hand seiner lieben Dorothea auf dem Arm. Er atmete.

„Sehr gut, Herr Berger. Und nun beginnen Sie bitte von vorne. Was genau ist eben passiert. Wie sind Sie auf die Männer aufmerksam geworden?“

Berger erzählte der Polizistin in knappen Sätzen, was passiert ist. Als er bei der Stelle angelangt war, wo der jüngere der beiden Männer ihn beschuldigte, er habe den Älteren umgebracht, begann er abermals, seiner Unschuld zu beteuern.

Seine Worte wurden jäh unterbrochen, als es an der Tür klingelte. Die Bergers blickten beide stumm zur Tür.

Es klingelte noch einmal, dann klopfte es und sie hörten eine Männerstimme: „Herr und Frau Berger? Hier ist die Polizei, bitte machen Sie die Tür auf.“

Aus dem Telefon hörten sie die Polizistin sagen: „Herr Berger, die Kollegen stehen vor Ihrem Haus. Ich lege jetzt auf. Sie können die Tür öffnen.“

Berger gab seiner Frau das Telefon und stützte sich an der Wand ab, um aufzustehen. Ungläubig blickte er von der Tür zu seiner Frau und wieder zurück.

Es klingelte erneut. Berger ging langsam zur Tür und sah zitternd durch den Spion. Er erstarrte kurz und öffnete dann wie in Zeitlupe die Tür.

Dort standen zwei Polizisten. Zwei weitere waren auf dem Bürgersteig und beobachteten die Umgebung. Bergers Blick fiel zu Boden, wo er erwartete, den toten Alten liegen zu sehen. Doch da war nichts. Kein Mann, keine blutige Masse, die er vor ein paar Minuten noch aus dem Hinterkopf des Mannes hatte fliegen sehen. Keine Waffe und kein Kerl mit Smartphone in der Hand.

„Was - ?“ mehr bekam er nicht heraus.

Dorothea sah ihn mit großen Augen an. Während des Gesprächs zwischen ihm und den Männern hatte sie nur weniger Meter neben ihm gestanden und jedes Wort mitgehört.

„Der Knall“, wisperte sie mit zitternder Stimme. „Hat er sich gerade wirklich …?“

Berger schüttelte entschieden den Kopf. „Ruf die Polizei“, wiederholte er streng.

Sofort eilte seine Frau ins Wohnzimmer und kurz darauf hörte er ihre gedämpfte Stimme, die stockend mit dem Polizeibeamten am anderen Ende der Leitung sprach. Berger sah auf seine Hände hinab. Sie zitterten.

Hatte der Mann sich gerade wirklich vor seiner Haustür in den Kopf geschossen? Wieder schüttelte er den Kopf. Das konnte nicht sein. Niemand würde sich mitten am Tag vor seine Haustür stellen, versuchen, ihn um Zehntausend Euro zu erpressen und sich dann umbringen. Die beiden Männer könnten doch nicht ernsthaft gedacht haben, dass er ihnen das Geld gab, wegen so einer lächerlichen Drohung?

„Ja, lächerlich“, wiederholte Berger leise. Ganz bestimmt hatte der Mann Kunstblut an sich gehabt und die Pistole war nur mit Platzpatronen gefüllt gewesen. Seine Frau hatte schon die Polizei gerufen, die sich in wenigen Minuten der beiden Männer vor seiner Tür annehmen würde. Trotzdem konnte er sich eines unguten Gefühls nicht erwehren, das von ihm Besitz ergriff. Der Schuss hallte noch immer in seinen Ohren nach, die Angst in den Augen des bärtigen Mannes war zu echt, um vollends gespielt zu sein.

Langsam näherte er sich erneut seiner Tür und lauschte nach den Stimmen der Männer. Er hoffte fast, er würde den jungen Mann noch einmal „Kapitalist, Schwein!“ rufen hören. Dann würde er sich darin bestärkt sehen, dass dies alles nur ein böser Streich von radikalen Anarchisten war.

Doch vor seiner Tür blieb es still. Als Berger die Sicherheitskette löste und die Tür langsam öffnete, betete er, dass kein lebloser Körper vor seiner Haustür liegen würde. Dass er nicht die Schuld an dem Mord trug, dessen ihn die Polizei in wenigen Minuten beschuldigen würde.

Berger richtete den Blick geradeaus. Der Typ mit dem Smartphone war verschwunden. Der andere Mann aber … langsam senkte Berger den Blick gen Boden. Doch da war nichts. Dort lag keine Leiche, kein Hinweis darauf, dass sich soeben ein Mann vor seinen Augen das Leben genommen hatte. Kein Blut sprenkelte die Pflastersteine, nichts. Vor Erleichterung sackten seine Knie ein wenig ein. Er schlug die Hände vors Gesicht, atmete tief durch.

Alles war gut. Es war nur ein böser Streich gewesen.

Dann spürte er eine Berührung an seiner Seite. Er zuckte zusammen, doch es war nur seine Frau, die, blasser als sonst, auf die Stelle guckte, an der der Mann nach seinem angeblichen Kopfschuss zusammengesackt war.

„Was ist das?“, murmelte sie. Berger wollte sie zurückhalten, doch seine zittrigen Hände streiften sie nur. Dorothea bückte sich und las ein Handy vom Boden auf. Sie besah es sich und legte es dann in seine Hand. „Ist das von den Männern?“

„Nein“, hauchte Berger, doch erkannte im selben Moment, dass es genau das war. Dort in seinen Händen befand sich das Smartphone des jungen Mannes, der ihn vor einem Moment noch so wüst beschimpft hatte und von dem jetzt keine Spur mehr zu sehen war. Es war noch warm.

In der Ferne hörte Berger bereits die ersten Sirenen der Polizeiwagen. Doch seine Aufmerksamkeit galt ganz dem schwarzen Gerät in seinen Händen. Dort unten in der Ecke befand sich ein kleiner Spritzer. Wasser? Vorsichtig wischte er darüber. Auf seinem Finger hinterblieb eine schmale rote Spur.

Im selben Moment leuchtete der Bildschirm des Smartphones auf. Eine Videoaufnahme begann wie von selbst, sich abzuspielen. Es zeigte den bärtigen Mann vor seiner Haustür. Nur kurz sah man sein Gesicht und seine braunen Augen, in denen die blanke Angst stand. Er drehte den Kopf zur Tür, klingelte und er selbst, Richard Berger, öffnete.

Dorothea stieß einen entsetzten Schrei aus, als sich die Szene auf dem flackernden Bildschirm abspielte. Berger hörte den Schuss, sah sein eigenes entsetztes Gesicht auf der Kamera.

Und dann, während sich die näherkommenden Sirenen wie ein Schlaghammer in seine Ohren bohrten, wurde der Bildschirm des Smartphones weiß. Große, rote Lettern flackerten grotesk verzerrt über den weißen Hintergrund und ließen Berger wie betäubt zurück.

„JETZT BIST DU DRAN.“

Zehntausend Euro
Woche eins
Von Kim Preyer

Dorothea rührte sich nicht. Sie starrte das Tor an, hinter dem die Leiche lag, als könnte ihr Blick das Eisen durchdringen, wenn sie die Augen nur weit genug aufriss.
Berger atmete drei Mal tief ein und wieder aus und wiederholte seine Aufforderung.
„Doro, ruf auf der Stelle die Polizei an. Ich weiß zwar nicht, was das da eben war, aber das man versucht uns etwas anzuhängen, das weiß ich sehr genau. Geh ins Haus und ruf die Polizei an. Bitte.“ Seine Worte waren gewählt, seine Stimme ruhig aber bestimmt. Seine Frau erwachte endlich aus ihrer Schockstarre und ging ins Haus. Richard ging zum Gartentisch und setzte sich auf einen der aus Kunststoff geflechteten Stühle. Das Gewebe ächzte synchron mit Richard unter der Last, die auf den Stuhl sank.
Jetzt endlich spürte er, wie seine Brust enger, sein Atem schneller wurde. Sein Puls begann zu rasen, kalter Schweiß brach ihm aus. Seit dem Pistolenschuss hatte er einfach nur funktioniert, Prioritäten abgewogen und das nötigste in die Wege geleitet, doch nun brach sich die Panik ihre Bahnen und vor seinem Geistigen Auge blitzte immer wieder das Bild spritzender Gehirnmasse auf und der Schuss hatte ein Echo erzeugt, dessen Widerhall noch immer in seinem Kopf herumspukte.
Er spürte eine feuchte Kälte auf seiner Brust. Aus seinem noch immer offen stehenden Mund tropfte beständig Speichel auf seine Brust. Er schloss den Mund, schluckte und blickte Richtung Tür. Seine Frau, immer noch leichenblass, kam heraus.
„Sie sind unterwegs“, brachte sie noch hervor, dann übergab sie sich auf den vor der Tür verstreuten weißen Kies. Richard half ihr in einen Stuhl und gab ihr einen Blumentopf, falls sich die letzten Mahlzeiten noch einmal ihre Bahnen brechen sollten. Dann ging er auf das schmiedeeiserne Tor zu.
„Was hast du vor?“, würgte Dorothea hervor und blickte über den Rand des Blumentopfes.
„Ich sehe nach, ob die immer noch da sind. Vielleicht kann ich sie dazu bringen, dazubleiben, bis die Polizei kommt“, wisperte ihr Mann in ihre Richtung. Dann legte er die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Er presste sich gegen das Tor und öffnete sie nur einen Spalt breit. Schließlich hatte der Typ mit dem Smartphone eine Pistole. Da wäre es keine gute Idee das Tor einfach aufzureißen und sich als Zielscheibe zu präsentieren.
Er streckte eine Hand aus, so dass sie von der anderen Seite zu sehen sein musste. Nichts. Er winkte. Nichts. „Hallo? Sind Sie noch da? Ich wollte mit Ihnen noch einmal über die zehntausend Euro reden. Hallo?“ Stille. Er entfernte die Sicherheitskette, öffnete das Tor vollständig und warf vorsichtig einen Blick nach draußen.
Auf dem Boden lagen die Überreste des Mannes und bildeten eine große Lache aus gerinnendem Blut vor seinem Tor. Von dem Mann mit dem Smartphone gab es keine Spur.
Achtsam trat er auf die Straße und umrundete die Leiche, stets darauf bedachte nicht in das Blut zu treten. Es war das erste Mal, dass er einen Toten aus der Nähe, sah und bei allem Ekel, den das in ihm auslöste, durchflutete ihn auch eine Neugier, die er einfach befriedigen musste.
Aus dem Garten waren wieder Würgelaute zu hören, als Richard sich neben dem Kopf der Leiche hinhockte. Natürlich durfte man nichts berühren oder verändern, so viel verstand er immerhin von Spurensicherung und Kriminalistik, aber ein schneller Blick konnte wohl nicht schaden.
Das Loch war riesig. Hätte er sich auf den Boden gelegt und im richtigen Winkel zur einen Seite hineingeschaut, er hätte wohl einfach auf der anderen Seite, wo mal das Gesicht des Mannes gewesen war, wieder heraussehen können. In den Filmen, die er gesehen hatte, waren die Löcher viel kleiner gewesen.
Die Bröckchen, die in der Blutlache vor ihm überall verteilt waren, waren das schlimmste und so aus der Nähe betrachtet regte sich auch in seinem Magen ein unangenehmes Gefühl. Richard wollte sich grade wieder aufrichten, damit ihn nicht das gleiche Schicksal wie seine Frau ereilt und er sich auf eventuell wichtige Beweise übergibt, da viel ihm etwas auf. Mit der Jacke des Mannes stimmte etwas nicht. Als die beiden vor seiner Tür gestanden und auf ihn eingeredet hatten, da trugen beide das gleiche Outfit aus Jeans und einer Jacke aus Lederimitat, dessen war er sich ganz sicher.
In seiner Jugend hatte er für einen Kleidungsmarkt gejobbt, um sich sein Studium zu finanzieren, und dort viel über die Materialien die zur Herstellung verwendet wurden gelernt. Was ihre vor und Nachteile sind, wie sie bearbeitet und gepflegt werden und eben auch, wie man sie erkennt. Und das, was die beiden Herren vorhin anhatten, war definitiv ein billiges Imitat gewesen, das hätte er selbst im Vorbeigehen mit einem flüchtigen Blick erkannt.
Die Jacke, die nun vor ihm lag, war aber ganz anders. Echtes Leder. Gutes Leder. Büffelleder.
Er ging die Szene noch mehrfach in seinem Kopf durch, wie die beiden vor dem Tor standen und schließlich die Waffe gezogen wurde. Aber je öfter er alles nochmal vor seinem geistigen Auge wachrief, desto sicherer war er, dass das unmöglich die gleiche Jacke sein konnte.

„Der hat sich einfach erschossen…“, Berger schluckte, der Boden unter seinen Füßen schien sich zu neigen, er hielt sich am Türrahmen fest. „Er wollte, dass ich ihm zehntausend Euro gebe, einfach so, und als ich – ich habe das für einen dummen Scherz gehalten – aber …“, wieder versagte seine Stimme und er nahm all seine Kraft zusammen, um weiterzusprechen, „ … ich habe gesagt, er soll es doch tun, aber das habe ich doch nicht so gemeint.“
Dorothea nahm seine Hand. „Es ist gut, Schatz, du hast alles richtig gemacht.“ Sie ging zum Telefon und wählte die Eins-Eins-Null. Trotz des Ungeheuren, was gerade geschehen war, blieb seine Frau ruhig und beherrscht, eine Wesensart, die Berger an ihr bewunderte. Sie sprach klar und sachlich, erklärte, dass sich vor ihrer Haustür jemand erschossen habe, beantwortete Fragen, die ihr gestellt wurden. Dann legte sie auf.
Berger sah seine Frau hilflos an. „Ich verstehe nicht, was da passiert ist. Warum hat er das getan?“
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht, Richard. Das ist so …“, sie sah aus dem Fenster, als würde sie dort die richtigen Worte finden, „… so sinnlos. Aber das Wichtigste ist“, sie sah in wieder an, „dass wir nichts falsch gemacht haben. Es war nicht unsere Schuld, Richard“. Berger war sich da nicht so sicher, nickte aber.

„Das ist eine schreckliche Tragödie“, sagte einer der Polizisten, nachdem Berger die Ereignisse mehrfach geschildert und alle Fragen beantwortet hatte. „Und Sie haben nicht beobachtet, wohin die beiden Männer verschwunden sind? Vor allem, wie?“
„Nein. Die waren einfach weg!“, Berger schüttelte energisch den Kopf. „Ich verstehe das nicht. Der ältere Mann hat sich in den Mund geschossen. Das überlebt man doch nicht. Das ganze Blut ist ja noch da. Und dass der andere, jüngere Mann ihn einfach weggetragen hat, kann ich mir nicht vorstellen. Dazu war der Alte zu groß und zu schwer“.
„Und Sie sind sich sicher, dass der zweite, der jüngere Mann, die ganze Zeit gefilmt hat?“
„Ja, … ich meine, er hat sein Telefon so hochgehalten, wie man das eben macht, wenn man ein Video aufnimmt. Warum hätte er das sonst tun sollen?“
Der Polizist nickte und klappte seinen Notizblock zu. „Danke, Herr Berger. Die Kollegen von der Spurensicherung werden noch etwas Zeit brauchen. Ich hoffe, wir können das alles zügig aufklären. Wir melden uns bei ihnen, sobald wir etwas herausfinden konnten“.
Während die Spurensicherung draußen arbeitete, setzte Berger sich zu seiner Frau auf das Sofa. „Die Polizei wird sich um alles kümmern. Sie werden herausfinden, was passiert ist.“
Doch das Geschehene ließ ihn nicht los. In den folgenden Tagen schlief Berger kaum, und in den wenigen Stunden, in den ihn der Schlaf übermannt hatte, sah er die Ereignisse vor seiner Haustür wieder und wieder in seinen Träumen. Die Frage, ob er mit einer anderen Reaktion den Tod des Alten hätte verhindern können, quälte ihn. Und die Tatsache, dass die beiden Männer ausgerechnet vor seiner Tür aufgetaucht waren, lies ihm keine Ruhe. Immer wieder rief er sich die Gesichter vor Augen und suchte in seinen Erinnerungen nach einer Verbindung, die das Unerklärliche erklärten. Doch da war einfach nichts.
Einige Tage später, Berger war alleine zu Hause – seine Frau erledigte die Einkäufe, stand ein junger Polizist vor der Haustür. „Es gibt Neuigkeiten“, begann er, nachdem Berger ihn hereingebeten und ins Wohnzimmer geführt hatte. „Offenbar sind Sie – wie soll ich es sagen – ein Zufallsopfer geworden.“
„Opfer?“, Berger sah den Uniformierten kopfschüttelnd an. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Der alte Mann ist doch tot, nicht ich“.
Der Polizist zögerte, bevor er weitersprach. „Nein, Herr Berger. Er ist nicht tot. Das Video, das der andere Mann gefilmt hat, wurde in den sozialen Medien verbreitet“, erklärte er. „Nachdem Sie die Tür geschlossen haben sieht man, wie der alte Mann, der in Wirklichkeit erst neunundzwanzig ist und einfach nur gut maskiert war, aufsteht und mit dem anderen gemeinsam Ihr Grundstück verlässt. Das angeblich Blut aus der vermeintlichen Schusswunde hat sich als Theaterblut, als Kunstblut, herausgestellt. Bei dem Schuss wurde eine Schreckschusspistole verwendet. Das spritzende Blut, was Sie bei dem Schuss gesehen haben, war, wie soll ich sagen, ein perfekter Trick. So wie er auch in Filmen eingesetzt wird. Ein kleiner Plastikbeutel am Hinterkopf, der im richtigen Moment punktiert wird und … naja, Sie haben es ja selbst gesehen. Das ganze war ein böser Scherz, ein Prank, wie man heute sagt“.
Berger hatte das Gefühl, sein Gleichgewicht zu verlieren, der Boden unter seinen Füßen verlöre jede Festigkeit. „Das kann nicht wahr sein“, flüsterte er. „Jemand hat sich vor meinen Augen umgebracht, oder nur so getan, um mich zu erschrecken?“
„Es tut mir leid“, sagte der Polizist mitfühlend. „Leider konnten wir die Täter noch nicht identifizieren. Sie sind also noch unterwegs und wir haben keine Ahnung, was sie noch vorhaben. Halten Sie bitte die Augen offen“. Er wollte sich schon von Berger verabschieden, hielt aber nochmals inne. „Noch etwas: Bisher konnten wir die Presse draußenhalten; Sie sollten das Ganze unbedingt von uns erfahren, bevor der Sturm losgeht. Aber er wird losgehen, darauf sollten sie gefasst sein!“
Berger nickte mechanisch. „Danke“, murmelte er und schloss die Tür. Mit einem Gefühl aus Ohnmacht und Wut fuhr er, mehr zu sich selbst, fort: „Ich werde dafür sorgen, dass diesen Sturm niemand jemals vergessen wird“.

Richard schnaufte durch und lehnte sich kurz gegen die Tür. Was war da gerade passiert? War das real? Er musste träumen und in einem Albtraum gefangen sein. Niemand ging wahllos zu einem Haus, um dort nach Geld zu fragen – und sich bei Nichterhalt den Kopf wegzupusten. Gott, lag da nun wirklich eine Leiche vor seiner Haustür?

„Richard?“ Dorotheas Stimme klang zittrig an sein Ohr. Ruckartig drehte er sich herum. „Was ist passiert?“

Seine Frau weilte an der Treppe ins Obergeschoss. Der graue, knielange Rock und die blütenweiße Bluse standen in so heftigem Kontrast zu dem Chaos, das gerade in seinem Kopf herrschte, dass er sich nicht helfen konnte und Dorothea verwirrt anlächelte. Ihre Haare waren, wie immer am Sonntagmorgen, sorgfältig frisiert und es fehlten nur noch ihre guten Stiefeletten und der Mantel, dann war sie bereit auszugehen, bereit, dem Herrn für die vergangene Woche zu danken.

Doch ihr Gesichtsausdruck passte nicht zu ihrem ansonsten adretten Aussehen. Verunsichert sah sie ihn an. Sie hatte den Dialog nicht mitbekommen, aber natürlich den Pistolenschuss gehört. Und sie sah ihm an, dass etwas vorgefallen war, was ihn komplett aus der Bahn geworfen hatte. Richard gab es auf, ein Lächeln aufrecht erhalten zu wollen.

„Er … er hat sich erschossen“, murmelte er fassungslos. Das Bild, wie sich das Blut auf dem Weg ergoss, schob sich vor sein inneres Auge. Das konnte nicht wirklich passiert sein. Da war ein Trick dabei, vielleicht stand der Mann schon lachend vor seiner Tür und freute sich, dass er auf seine Show hereingefallen war. Bestimmt. Aber warum hatten die beiden dieses Theater abgezogen? Er kannte sie nicht einmal! „Wir müssen die Polizei rufen“, meinte er und sah sich fahrig um, als habe er vergessen, wo das Festnetztelefon meistens lag.

„Erschossen?“, klang da die fassungslose Stimme seiner Frau an sein Ohr. Er warf ihr einen Blick zu, während er auf die kleine Kommode zuging, auf der das Telefonbuch neben der Festnetzstation stand. Dorothea war blass geworden und hatte mit einer Hand an ihr Herz gegriffen. Mit großen Augen starrte sie ihn an und er erkannte, dass sie leicht schwankte. Zittrig griff sie nach dem Treppengeländer.

„Ja, erschossen!“, antwortete er mit festerer Stimme und spürte, dass er ungehalten wurde. Wo war der verdammte Apparat? Er legte es immer hier an die Station, damit man es wieder fand, aber da war es nicht! „Wo hast du das Telefon hingelegt?!“, herrschte er Dorothea an, die ihn erschrocken ansah. Ihr Mund stand leicht offen, ihr Blick verständnislos. Richard atmete tief ein. Er musste sich beruhigen. Es brachte nichts, wenn er nun den Kopf verlor.

Der Schuss war laut gewesen. Ob die Nachbarn ihn gehört hatten? Er schalt sich einen Dummkopf. Natürlich hatten sie den lauten Knall gehört. Bestimmt hatte schon einer von ihnen die Polizei gerufen. Als hätte da jemand auf sein Stichwort gewartet, klopfte es an der Tür. Nein, es klopfte nicht – irgendwer hämmerte dagegen! Erschrocken sah sich das Ehepaar Berger an. Dorothea fing erneut an zu zittern und sah hilfesuchend zu Richard. Dieser schluckte trocken. Waren das wieder diese Männer? Halt, es war ja nur noch einer. Hatte der Mann die ganz Zeit vor der Tür gestanden? Mit der Leiche?

„Dorothea? Richard? Ist alles in Ordnung?“, hörte er da die besorgte Stimme seiner Nachbarin. Elise hatte bestimmt den Knall gehört und war herübergekommen. Richard riss die Augen auf, als er daran dachte, dass sie somit direkt bei der Leiche stehen musste. Schnellen Schrittes ging er auf die Tür zu, zögerte dann aber. Ihre Stimme klang zwar besorgt, doch es war keine Panik darin zu hören. Nichts, was darauf hindeutete, dass sie gerade eine Leiche gesehen hatte. Zögerlich öffnete er die Tür und erschrak, als diese nur einen Spalt aufging und dann gegen das immer noch eingehängte Türschloss schlug und von diesem aufgehalten wurde.

„Moment“, murmelte Richard, schob die Tür wieder zurück, sodass er das Sicherheitsschloss lösen konnte, und riss dann die Tür auf. „Elisa es ist …“ Was genau er sagen wollte, wusste er selbst nicht. Spätestens, als er auf die zurechtgemachte Elisa blickte, die ihn sorgenvoll ansah, hätte er es vergessen. Fragend runzelte sie die Stirn. Sein Blick huschte neben sie, dorthin, wo der Körper des Mannes, der sich hier erschossen hatte, gefallen war. Richard schnappte nach Luft. Da war keine Leiche! Wie hypnotisiert starrte er auf die Platten, während seine Hirnwindungen versuchten, das Gesehene einzuordnen.

„Was ist denn los Richard? Ihr seid spät dran. Wo bleibt ihr denn? Ist etwas mit Dorothea?“ Elisa sah ihn fragend an und sah ungeduldig auf die Uhr.

„Aber…“, begann Richard.

„Aber was? Seid ihr noch nicht fertig? Ich möchte nicht zu spät zum Gottesdienst kommen. Du weißt doch, wie voll es an den Feiertagen immer ist, seid die Kirchengemeinden zusammengelegt wurden!“ Verärgert rümpfte sie ihre sorgfältig gepuderte Nase. „Was ist nun?“

„Aber…“, stammelte Richard, „aber die Leiche…“

Elisa sah ihn an, als zweifle sie an seinem Gemütszustand. „Leiche? Richard, was faselst du denn da! Nun, mach endlich. Dorothea!“, rief sie in das Haus hinein und ignorierte Richard, der mit starrem Blick auf die Platten sah. Kein Blut. Da war kein Blut. Aber er hatte gesehen, wie dem Mann das Blut aus seinem Kopf … Richard schloss die Augen, als er spürte, dass sich ihm sein Magen umdrehen wollte.

Er bekam kaum mit, dass Elisa die Haustür aufdrückte. „Dorothea, da bist du ja. Was ist denn los? Wir warten auf euch! Was ist denn nur los mit euch, du siehst mich ja an, wie ein Reh im Scheinwerferlicht!“ Energisch marschierte sie an Richard vorbei und schnappte sich Dorotheas Arm. „Nun zieh dir deine Schuhe an, wir haben nicht ewig Zeit. Richard! Was starrst du da Luftlöcher an der Tür! Mach dich fertig!“

Benommen drehte sich Richard um. „Aber da war ein Mann“, begann er und ärgerte sich über seine dünne Stimme. Verhalten räusperte er sich und sprach weiter, ehe seine resolute Nachbarin den Mund aufmachen konnte. „Zwei Männer. Sie wollten Geld von mir erpressen.“

Nun hielten die beiden Frauen inne. „Was?“ Ungläubig sah Elisa ihn an.

Richard nickte zerstreut. „Zwei Männer. Einer verlangte zehntausend Euro, sonst würde er sich umbringen. Ich hab das nicht ernst genommen und da hat er … er hat …“ Mit großen Augen blickte er die Frauen an, die ihn fassungslos ansahen. „Da hat er eine Pistole genommen und sich erschossen!“

Dorothea hob reflexartig ihre Hände zu ihrem Mund und sah ihren Mann mit großen Augen an. Elisa hingegen hob argwöhnisch eine Augenbraue. „Erschossen. Hier vor eurer Haustüre?“ Sie lachte auf. „Ach Richard, dein Humor war immer schon etwas seltsam. Nun zieh deine Schuhe an, der Herrgott wartet nicht gerne.“

„Aber“, begann Richard wieder und deutete auf die Stelle, auf der eigentlich ein toter Mann liegen müsste. „Erschossen!“

Ungehalten hielt Elisa, die den Mantel für Dorothea aufhielt, inne. „Gehen jetzt die Gäule mit dir durch, Richard? Da liegt kein Toter! Was brabbelst du hier von ‚Erschossen‘? Willst du deiner Frau Angst machen?“

„Hast du denn nicht den Schuss gehört?“, wollte Richard fassungslos wissen.

„Da war kein Knall. Außer der, den du offenbar hast!“ Elisa sah auf die Uhr und seufzte. „Na toll, wir kommen auf jeden Fall zu spät.“

Richard sah sich suchend um. Ein Auto fuhr vorbei, schräg gegenüber ging der kauzige Herr Müller-Ehrmann mit seinem Hund spazieren und aus einem der Häuser schallte Babygeschrei herüber. Wo war die Leiche?

Der Mann mit dem Handy! „Der andere Mann hat die Leiche weggebracht!“, rief Richard und drehte sich zu den Frauen um. Dorothea hatte inzwischen ihren Mantel an, sah aber verwirrt zu ihm, als wüsste sie nicht, warum sie diesen trug.

Elisa verdrehte die Augen, als sie sah, dass Richard immer noch seine Hausschuhe trug. „Was für ein anderer Mann? Hast du einen Mann gesehen?“, fragte sie an Dorothea gewandt, die zögerlich den Kopf schüttelte.

„Natürlich hat sie die Männer nicht gesehen! Ich bin doch an die Tür gegangen! Gott sei Dank habe ich die Sicherheitskette vor gemacht, nicht auszudenken …“, malte sich Richard das Schlimmste aus.

Elisa, die auf die Uhr gesehen hatte, seufzte ergeben auf und kniff sich in die Nasenwurzel. „Wir werden es nicht mehr zum Gottesdienst schaffen. Was ist nur mit dir los Richard?!“

„Da waren diese beiden Männer …“

„Ja, na klar. Und einer ist tot, aber seine Leiche hat sich in Luft aufgelöst. Hat sich die Rübe weggepustet und bevor er aufgestanden ist, hat er noch schnell sein Blut weggewischt. Hör endlich auf, uns deine Lügenmärchen zu erzählen!“ Elisa funkelte ihn wütend an. „Ach, macht doch was ihr wollt!“, schimpfte sie und stampfte aus dem Haus. Bedröppelt sahen ihr die beiden Eheleute hinterher.

„Was ist denn los, Richard?“, fragte Dorothea leise.

Er wirbelte zu ihr herum. „Warum fragst du mich das? Du hast es doch auch gehört! Das Klingeln, der Schuss!“

Sorgenvoll betrachtete Dorothea ihren Mann. „Ich hab es Klingeln gehört. Vielleicht waren das die Kinder. Du weißt doch, dass sie in letzter Zeit gerne Klingelmännchen spielen.“

„Ich weiß, was ich gesehen habe!“, herrschte Richard sie an und Dorothea schreckte zusammen. „Was glaubst du denn, was das für ein Knall war, hä? Den musst du gehört haben! Und die olle Schreckschraube ebenfalls“, meinte er und deutete vage auf das Nachbarhaus, in das Elisa wieder verschwunden war.

„Das war Elisa, die den Müll rausgebracht hat“, meinte Dorothea scheu. „Ich hab sie durchs Fenster sehen können. Du regst dich doch immer darüber auf, dass sie den Deckel so laut fallen lässt, dass man denkt, da sei gerade eine Pistole losgegangen.“ Sie zog sich ihren Mantel wieder aus und hing ihn an den Haken, während Richard immer noch aus der offenen Haustür auf den Gehweg starrte. „Mal davon abgesehen – wo ist denn das ganze Blut? Und wenn wirklich ein anderer Mann dabei war – warum hat der nicht die Polizei gerufen?“ Zaghaft, als habe sie Angst, dass Richardsie wegstoßen würde, legte sie ihre Hände auf die Schultern ihres Mannes. „Du hattest so viel Stress in der letzten Zeit, da hat dir dein Verstand etwas vorgegaukelt. Du arbeitest einfach viel zu viel, mein Liebling. Und dann haben wir gestern auch noch diesen blutrünstigen Krimi gesehen. Wir hätten den nicht zuende schauen sollen. Komm, wir machen uns einen ruhigen Tag.“

Hatte er sich das alles eingebildet? Vielleicht waren es tatsächlich nur die Kinder gewesen. Und Elisa schmiss den Mülltonnendeckel wirklich zu, als wolle sie die Tonne mitsamt Inhalt in den Boden stoßen. Aber er hatte die Männer gesehen! Verwirrt rieb sich Richard über das Gesicht und starrte die Gehwegplatten an. Doch da war kein Blut. Und der penetrante Mann mit dem Handy hätte ihn bestimmt nicht plötzlich in Ruhe gelassen. ‚Ausbeuter‘, ‚Kapitalist‘ hatte er ihn genannt. Das war er nicht. Er beutete niemanden aus, zahlte seine Angestellten anständig. Und ein Kapitalist? Ja natürlich war er das. In einer kapitalistischen Gesellschaft war jeder Unternehmer ein Kapitalist.
Nachdenklich betrachtete er den Gehweg, dann schob er langsam die Tür zu, behielt die Platten im Blick, als könne, kurz bevor er die Tür schloss, plötzlich die Leiche und das Blut wieder auftauchen. Zehntausend Euro – als ob er so viel Geld im Haus hatte. Die SMS, die er vor ein paar Tagen erhalten hatte, fiel ihm ein. Sein ‚Sohn‘ brauchte Geld für ein neues Handy. Nur, dass Dorothea und er kinderlos waren. Dennoch hatte er sich über diese Enkeltricknachricht geärgert. Vielleicht ein wenig zu intensiv? War ihm das so sehr im Kopf geblieben, dass es seine Gedanken so dominierte? Allerdings drohte sein ‚Sohn‘ nicht damit, sich umzubringen, wenn er nicht sofort das Geld erhielt. Wozu auch? Was für eine Erpressung sollte das sein, in der der Erpresser damit drohte, sich selbst zu töten? Er schüttelte den Kopf, warf einen letzten Blick auf die Betonplatten. Vielleicht hatte Dorothea recht und die vergangenen Wochen waren einfach ein wenig zu viel. Gerade wollte er die Tür schließen, da fiel ihm der Blumenkübel, der an der Hauswand neben der Tür stand ins Auge. Sein Puls steigerte sich, als er die Tür wieder aufriss und zu dem Betonkübel stürzte. Mit aufgerissenen Augen starrte er die drei dicken Tropfen an, die sich rot auf dem grauen Beton absetzten. Blutrot.

Dorothea Berger starrte ihren Mann mit weit aufgerissenen Augen an, sprengte in Richtung Telefontisch, den sie von ihrem Schwiegervater geerbt hatte, nahm den Hörer aus der Ladestation und
wählte 110. „Polizei Frankfurt, was kann ich für sie tun?“ „Hier hat sich gerade jemand vor unseren Augen umgebracht“ Sie hatte das Gefühl, nicht sie, sondern jemand anders würde diesen Satz sprechen.

„Sagen Sie bitte ihre Adresse“ „Goethestrasse 32, Frankfurt …“ „Bleiben sie vor Ort, wir schicken einen Kranken- und einen Streifenwagen.“ Draußen schrie der Mann mit dem Smartphone „Mööörder! Sie Schwein! Sie haben ihn umgebracht!“
Richard Bergers Gesicht war kalkweiß. Er fühlte blankes Entsetzen während sich kalter Schweiß auf seiner Stirn bildete. „Was sollen wir jetzt tun?“
Er sah seine Frau panisch an und packte ihren Arm, sein Griff fest, fast schmerzhaft.
„Was…WAS sollen wir jetzt tun?“ Seine Stimme wurde energischer, seine Augen weit aufgerissen. „DAS WEISS ICH DOCH NICHT!“ schrie Dorothea zurück.
„Warum hast du ihm die 10.000 Euro nicht gegeben?“ Ihre Augen brannten, nicht nur vor Angst, sondern vor einer tiefsitzenden Wut, die sie nicht zuordnen konnte.
„Weil…, weil…“ seine Augen suchten in diesem entgrenzten Augenblick nach einer plausiblen Antwort…, aber sein Kopf war auf seltsame Art und Weise wie leergepumpt, als wenn sich alle Gedanken auf eine Weltreise verabschiedet hätten und überall nur noch gähnende Leere herrschte. Vakuum.

Und dann… Der Gedanke kam unmittelbar. Eine Erinnerung. Jahrzehntealt.
Zehntausend Euro. Diese Summe. Damals. Im Spielcasino in Wiesbaden. Er hatte vorher seinen Vater angefleht, ihm 10.000 Euro zu leihen, um ein Reisebüro zu eröffnen. Der hatte nur mit
dem Kopf geschüttelt und ihm gesagt: „Ne Jungchen, komm mal alleine klar. Geh jobben oder such dir was als Angestellter. Aber zehntausend Euro? Jungchen, wovon träumst du?“
Gekränkt und zornig hatte er sein Erspartes abgehoben – 1.500 Euro – und war ins Casino nach Wiesbaden gegangen. Ein Plan? Den hatte er nicht. Beim Roulette, beim Black Jack und am Automaten hatte er fast alles vollständig verballert.

Fast. Am Ende hatte er noch 275€ und entschied sich, den Rest in irgendeiner Spelunke zu versaufen. Er war gerade auf dem Weg nach draußen, verbittert und enttäuscht und hatte voller Wut auf die anderen Spieler geschaut, denen das Geld nur so aus den Taschen zu sprießen schien. Hier ein 500er, da 5000€, weggespielt wie Seifenblasen. Er fühlte sich wie der letzte Penner.

Und dann sah er sie, Dorothea. Ihr Parfüm wehte ihm wie eine Verheißung in die Nase und ihre grazile Gestalt vernebelte ihm alle Sinne. Er verliebte sich auf der Stelle.
Ihre Blicke trafen sich und dieses Lächeln, dass sie ihm schenkte, durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag, ließ ihn auf dem Absatz kehrt machen. „Alles oder nichts“ dachte er sich, als er die ganze Summe auf eine Zahl setzte. „Rien ne va plus, Ladies and Gentlemen…“ Die Roulettekugel rollte, und rollte, und rollte… Richard blickte auf die andere Seite des Tisches. Dorothea schaute ihm
lasziv in die Augen, fast frech und musterte ihn. Die Kugel kam zum stehen.

Der Groupier setzte an und sagte die Nummer…