Ich habe erst jetzt ein wenig die Diskussion in diesem Thema gelesen und möchte einige Gedanken dazu teilen. Allgemein bin ich jemand, der sehr ungern streitet, auch in schriftlicher Form. Umso besser, dass in diesem Forum für Gewöhnlich ein freundschaftlicher Ton herrscht. Manchmal wiegelt sich aber doch eine gewisse Bissigkeit auf, wenn zwei anderer Meinung sind (oder auch nur glauben, anderer Meinung zu sein, während es sich in Wahrheit um ein rein oberflächliches Missverständnis handelt). Es mag sein, dass das in einem Forum gar nicht zu vermeiden ist. Jedenfalls möchte ich hier nur einige allgemeine Betrachtungen aufschreiben, die mir zu dem ganzen Thema gekommen sind, und werde auf niemanden direkt antworten, denn ich möchte nicht den Eindruck erwecken, jemanden widerlegen zu wollen.
Ich denke zuerst einmal das man Klassiker, so wie alles Geschaffene durchaus überschätzen kann, sehe dieses Problem aber nicht unbedingt vorherrschend in der heutigen Zeit. Natürlich gibt es solche, die das künstlerische Genie verehren und in jedem Wort eines großen Künstlers Vollkommenheit sehen wollen. Das ist eindeutig eine Überschätzung, denn Menschen sind unvollkommen, und daraus folgt, dass keines ihrer Werke vollkommen ist, sei es auch noch so gut. Doch diese Erscheinung wird man heute nur unter einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Literaturfanatikern (wenn ich es so nennen darf) finden.
Als viel gegenwärter sehe ich ein gewisse Respektlosigkeit, die älteren Werken entgegengebracht wird und die ich ebenfalls nicht gutheißen kann. Wenn das Werk eines Dichters von seinen Zeitgenossen, sowohl den Kunstverständigen wie den Durchschnittsbürgern über Jahrhunderte geschätzt wurde, die Literatur maßgeblich beeinflusste und fast einhellig für herausragend befunden wurde, ist es doch ein wenig vorwitzig, wenn man einfach daherkommt und meint „Alles Flaschen. Keine Ahnung, was die alle an dem Blödsinn fanden.“ Bitte nicht falsch verstehen, natürlich muss einem nicht alles gefallen, manches ist Geschmackssache und man kann sich darüber austauschen, das heißt aber nicht, dass die einfach alle Idioten waren, und die sachverständigen Proleten von heute die ersten sind, die das erkennen.
Nicht alles, was man (noch) nicht versteht, muss deshalb schlecht sein. Wenn ich eine komplizierte physikalische Arbeit lese, verstehe ich sie auch nicht, der Grund dafür liegt aber nicht bei dem Verfasser, sondern bei mir, weil ich mich in dem Stoff nicht auskenne. Ich denke, dass es manchmal ein starker Zug ist, zu sagen: Mir erschließt sich der Sinn nicht, aber das heißt nicht, dass er nicht da ist. Ich kann nur von mir selbst sprechen. Als ich jünger war, habe fast alle Klassiker als völligen Unsinn verlacht. Ich habe das Gefühl, dass mir fast schon in die Wiege gelegt wurde, weil es unter den jungen Leuten einfach „Mode“ ist. Wirklich gelesen hatte ich davon natürlich verschwindend wenig. Mittlerweile frage ich mich nur kopfschüttelnd, was ich damals eigentlich für einen Unsinn geredet habe, und warum man sich immer gleich in der Lage fühlen muss, um über alles und jeden zu urteilen, bevor man versucht hat, sich wirklich damit zu befassen.
Letzlich gibt es auch einfach Fähigkeiten, die man nicht einfach ableugnen kann. Keiner ist gezwungen, Shakespeare zu lesen und zu mögen, wenn mir aber jemand sagt „Der Typ konnt eh nix“, dann frage ich gern, ob die Person denn selbst in der Lage wäre, ein über hundert Seiten langes Versepos in Reim und Versmaß zu verfassen. Beispielsweise hat die Meinung, fotorealistische Gemälde hätten einen geringeren künstlerischen Wert, da sie nur eine Nachahmung sind, sicherlich ihren Gesichtspunkt. Das Fotorealistische zeichnen zu verlachen, wenn man selbst nichts annäherndes bringen kann, halte ich aber doch für eine gewisse Anmaßung. Man kann seine Meinung denke ich auch gemäßigt äußern, und das halte ich für einen wichtigen Punkt.