Prolog
Der Moorbauer Harm Hartwich stopft holländischen Tabak in den Pfeifenkopf und sinniert über das drei Schritte große Holzkreuz, das auf dem Rübenfeld vor dem Dorf Hockenstedt steht. Daran hängt Pastor Emmerich Lenz und sieht tot aus, so richtig und endgültig tot. ‚Dem pustet niemand mehr Leben in den Mors‘, stellt seine innere Stimme fest. Dabei ist es ein schöner Morgen mit blauem Himmel, lila Wolkenstreifen am Horizont und hüfthohem Bodennebel, der einen schönen Tag im Friesenland ankündigt. Er grinst. Moorboden bebt unter den Stiefeln, bevor einer den Hufschlag hört, denn das Moor dämpft das Klappern. Aus dem Augenwinkeln sieht er Fiete, den Altknecht von Bauer Jensen, den Weg mit einem fuchsfarbenen Schleswiger am Halfter raufkommen. In Friesland kommt niemand überraschend, da das Land so platt ist, dass einer mittwochs sieht, wer einen sonntags besuchen will.
„Moin, Fiete!“
„Moin, Moorbauer!“ Fiete hält den Schleswiger an und schaut auf das Holzkreuz, das neu ist, und an dem Pastor Lenz hängt. Harm pafft den Pfeifentabak an.
„Is dey Pastor dotbleben, oder wat?“
„Jo, dat will ick för’em höpen“, meint er und smökt den Pfeifenrauch.
„Dat muss fix unkommod sin, meins nich?“
„Jo, aber da he dot is, stört ihn dat nich mehr.“
„Un de Pastor hängt da nun so rum?“
„Jo, de deit nix mehr und kreit nix mehr.“
„Na ja, is nur’n Pastor, oder? Brauchen kannst du ihn eh nich, nur wenn du stirbst oder auf die Welt gekommen bist“, stellt Fiete klar. „Ne Sense dengeln kann dey nicht.“
„Nee, kann hey nich. Er is ja nun dotbleben.“
„Aber vorher, vorher hat dey auch nie’ne Sense gedengelt, oder wat meinst du?“
„Nee, de wör ein Pastor und Pastors dengeln keine Sensen, sondern die haben das mit de Sprüche aus der Bibel“, beharrt der Moorbauer. Fiete grient leise und fragt: „Wann warst du denn das letzte Mal inne Kirche?“ Der Moorbauer dreht abrupt seinen Kopf und blickt den Knecht entrüstet an, bevor er lospoltert: „Ick go jeden Sonntag inne Kirche! Und tweemol im Jahr givt dat bi us auf dem Hartwich Hof den Kirchenkaffee am Sonntagnachmittag! Dat is genug Kirche, selbst für’n Pastor, dey dotbleben is, oder?“ Fiete kichert.
„Du gehst inne Kirche rein, aber biegst gleich rechts ab. Ihr reichen Bauern nehmt die Seitentür, weil der Wirt nebenan im Freesenkroog für euch Köm und Bier kaltgestellt hat.“
„Inne Bibel steht nur, dass du sonntags inne Kirche musst. Da steht nix drin, wie lange du da bleiben musst. Dann muss der da oben schneller hinschauen! Ich bin Bauer und habe nicht ewig Zeit.“
„Mit dem da oben, meinst du damit Küster Petersen?“, überlegt Fiete.
„Nee, den Herrgott, du Tranbüddel!“
„Och, der … Glaubst du, der Herrgott weiß, wer dem Pastor da so ant Kreuz genagelt hat?“
„Der soll’s wohl wissen, aber wir nich“, vermutet der Moorbauer und pafft sinnig seine Pfeife. Es wird ein schöner Morgen. Noch ist es leise, weil keine Brise von See kommt. Wind ist laut, wenn die Bäume rüttelt. Aber das wird Pastor Lenz nie mehr hören können, weil er tot am Kreuz hängt. Das Rumpeln des Handkarren spüren Fiete und der Moorbauer in den Beinen, bevor sie in den Nebelschwaden Freerk ausmachen, die stellenweise so dick wie Milchsuppe sind. Der Knecht von Kaufmann Voss grüßt mit einem knappen Moin.
„Is dat nich dey Pastor? Sieht aus, als wär hey dotbleben“, stellt Freerk stirnrunzelnd fest. „Warum hängt dey wohl am Kreuz? Ich mein, muss doch eine Heidenarbeit gewesen sein.
Erst mutt du dat Kreuz torecht nogeln, dat Fuhrwerk nehmen, opladen und dann dat Kreuz ingraben, bevor du so’n Pastor opbummeln kannst.“
„Och, mit‘em goden Gespann machst du dat Kreuz wohl uck alleen hochkriegen“, überlegt der Moorbauer und Fiete stimmt ihm nickend zu.
„Wieso meenst du, dat een alleen de Pastor opbummelt hat?“, hakt Freerk nach. Der Moorbauer lächelt aus den Mundwinkeln und gibt zu bedenken: „Wullt du denn jemand dabie häben, wenn du dem Pastor erst de Lichter utmachen doost und ihn dann hier opbummelst?“
„Beeter nich!“, gibt Fiete ihm recht.
„Wenn dat de Gendarm seut, oh ah, is hier aber Holland in Not!“, lästert Freerk kess, der er die Hände in die Hosentaschen steckt. „Dann kunn hey wedder wichtig doon, dey Gendarm, dey.“
„Ja, dat kann hey wohl!“, stimmt der Moorbauer paffend zu.
„Meenst du, een Gendarm kunn‘ne Sense richtig dengeln oder is de uck to nix to brucken wie de Pastor?“, überlegt Fiete.
„Jungs, ich mach mir langsam sorgen“, ignoriert der Moorbauer Fietes Frage.
„Warum? Weil du jetzt Sonntag nich‘ inne Kirche gehen kannst und dein Hals trocken bleibt?“, amüsiert Fiete sich.
„Nee, aber ich mach mir Sorgen, dat es eine wichtige Sache werden wird, wenn jemand den eigenen Pastor ans Kreuz schlägt wie inne Bibel. Und dann kommt fremdes Volk nach Hockenstedt“, erwidert Moorbauer Hartwich finster. Friesland ist schön und ein echter Friese glaubt, dass das niemand zu wissen braucht, damit es schön bleibt, und ruhig, und einsam, eben schön.
„Etwa fremdes Volk von anderswo?“, haucht Freerk empört, denn für ihn beginnt wie Fremde wie für jeden Friesländer knapp an der Grenze zum Nachbardorf.
„Ja, von ganz, ganz anderswo, Freerk.“
„Meinst du etwa Aurich oder Wilhelmshaven?“, überlegt Fiete knapp. Wen es in die Ferne zieht, der fährt zur See, doch südlich von Friesland liegt für ihn nur nirgendwo.
„Vielleicht von Hamburg oder sogar Berlin“, seufzt der Moorbauer mürrisch. Argwöhnisch zucken die Mundwinkel der drei Friesen, doch das schmierige Grinsen ist nicht weit.
„So einen feinen Pinkel? Kommt der vom Kaiser? Na, dann lass ihn mal kommen“, lacht Fiete vergnügt. „Wir sind wohl hier, oder Moorbauer?“
„Ja, lass die Amtmänner man ruhig kommen. Wir sind ja hier und der Pastor, der hängt da hoch und trocken. Und de Pastor, de löpt auch nich mehr wech“, bestätigt Moorbauer Hartwich, worauf Fiete mit seinem Kaltblut weiter den Weg runter zur Schmiede bummelt und Freerk ihn begleitet, damit der Gendarm die Neuigkeit vom Rübenfeld, dem Kreuz und dem toten Pastor auch ja erfährt.
Das erste Kapitel
14. Mai.1899, 8.30 Uhr
‚Ratlose Polizei bei Pastor am Kreuz‘, lese ich als Schlagzeile der Berliner Morgenzeitung, während ich in meinem angestammten Kaffeehaus frühstücke. ‚Das arme Schwein, das diesen Mord aufklären muss, möchte ich nicht sein‘, schießt es mir trotz dieser gruseligen Überschrift durch den Sinn. Dass ein Pastor in unserer modernen Zeit ans Kreuz geschlagen wurde, schreckt mich weniger als der lausige Stil dieses Lohnschreibers. Er sollte so lange mit seiner Feder an den blanken Fußsohlen gekitzelt werden, bis er anständig formulieren gelernt hat. Ich trinke meinen Kaffee aus, zahle und nehme die Elektrische, um ins Reichsamt fürs Innere zu kommen.
„Staatssekretär Ullmann verlangt dringend nach Ihnen, Haffner“, mahnt mich der Portier und deutet auf die Uhr. „Zu spät, mein Junge!“ Typisch, ich bin zwar Assessor, aber weil ich mehr wie ein Student als ein schneidiger Offizier wirke, nimmt nicht mal der Pförtner mich ernst. Besorgt eile ich zum Vorzimmer meines Vorgesetzten. ‚Nur keine Entlassung!‘, meldet sich die Panik in mir, denn ich bin gern Assessor, weil ich gut verdiene und die Arbeit im Amt ein Witz ist. Nach kurzem Warten verkündet eine Schreibkraft: „Staatssekretär Ullmann lässt nun bitten.“ Während ich sein Büro betrete, rätsle ich, ob ich einem, ihm oder ihr gefolgt bin. Ein riesiger Schreibtisch dominiert den Raum mit grünen Samtvorhängen am Fenster und jeder Menge dunklem Holz.
„Ah, Haffner, schön, dass Sie pünktlich sind. Ihr Vorname ist Christian, nicht wahr?“, begrüßt er mich und weist auf den Stuhl vor dem monströsen Schreibtisch. Ich nehme Platz. Der Staatssekretär öffnet sein Jackett und lehnt sich bequem zurück. „Sind Sie gern Assessor?“
„Ja, das bin ich“, gestehe ich inbrünstig. Mir ist bewusst, dass jener meiner Kollegen, deren Optik mehr dem preußischen Offiziersideal entspricht, schneller Karriere machen. Ich ähnle mehr der allgemeinen Vorstellung eines linksradikalen Studenten, mit eigenwilligen, blonden Locken und glattrasiertem Kinn, weil mein Bart ins Rotblonde neigt.
„Und Sie streben eine höhere Karriere im Reichsamt an?“ Ich nicke nur. „Dann wird es Zeit für Sie, sich für eine Beförderung ins rechte Licht zu setzen, mein lieber Haffner.“
„Wie erreiche ich dieses Ziel?“ Staatssekretär Ullmann macht eine denkwürdige Pause, bevor er mir eröffnet: „Da gab es einen Mord in Hockenstedt.“ Ich runzle irritiert die Stirn und gebe kleinlaut zu: „Von dem Berliner Stadtteil habe ich noch nie gehört. Wo soll der liegen?“
„Das Dorf liegt im Kreis Friesland und gehört wohl zum Verwaltungsbezirk Oldenburg, aber das ist in diesem Fall unerheblich“, erklärt mein Vorgesetzter. „Jedenfalls tiefste Provinz und nur einen Steinwurf von der Nordsee entfernt.“ ‚Dort kenne ich mich genauso gut aus wie in Timbuktu‘, schießt es mir durch den Kopf.
„Warum interessiert sich das Reichsamt für einen, wenn auch bedauerlichen Mord in einem Dorf an der Küste?“, erwidere ich argwöhnisch. „Haben die keinen Gendarmen in dem Nest?“
„Ein Dorfpolizist reicht da nicht aus!“, verlangt der Herr Staatssekretär unmissverständlich. „Der Fall des gekreuzigten Pastors hat eine so hohe Welle geschlagen, dass sie bis vor meinen Schreibtisch gespült ist. Landräte, Geistliche, Zeitungsverleger und es gab eine Anfrage von höchster Stelle – aus dem Palast sozusagen. Aber es gibt einen wichtigeren Grund, warum ich Sie als Sonderermittler der Staatsanwaltschaft in dieses Nest schicke.“
„Und der wäre?“, erahne ich provinzielle Unbequemlichkeit.
„Pastor Emmerich Lenz war mein Vetter zweiten Grades. Wir kannten uns kaum, aber er war ein ehrbarer Mann, der es nicht verdient hat, wie ein Verbrecher am Kreuz zu sterben.“
„Na ja, nicht alle, die am Kreuz starben, waren namhafte Verbrecher“, gibt mein loses Mundwerk voreilig von sich. ‚Das ist der Grund, warum du gefeuert wirst! Du weißt nicht, wann du die Klappe halten musst‘, rügt meine innere Stimme mich. „Vielleicht können die örtlichen Behörden die Unterstützung von einem erfahrenen Kommissar der Berliner Polizei …“
„Die Berliner Polizeibehörde sieht sich nicht in der Verantwortung für den Großraum Friesland“, stellt Staatssekretär Ullmann klar. „Aber ich muss unter allen Umständen ein konkretes Ergebnis vorweisen und das in absehbarer Zeit.“ Zuerst kräuselt sich mir die Stirn, doch dann hauche ich verzückt: „Liegt der Fall im Interesse seiner Majestät, des Kaisers?“
„Wenn es nur das wäre!“, erwidert der Staatssekretär bedrückt. „Meine Großtante Sophie fordert von mir eine Erklärung für den unerwarteten Tod ihres Lieblingsneffen.“ Er spielt nervös mit den Fingern. „Wissen Sie, Haffner, es ist ihr Blick! Ihr Blick könnte Diamanten schleifen und in ihrer Nähe kriege ich kaum Luft. Ich brauche eine plausible Antwort für Großtante Sophie!“ Mir ist auf einmal schwindelig zumute. Einerseits will sich ein Teil von mir ins Berliner Straßenpflaster festkrallen, um nicht in die tiefste Provinz reisen zu müssen und dann auch noch zu den Ostfriesen. Andererseits kann genau dieser spektakuläre Mord der Karriereschub sein, auf den ich seit zwei Jahren innigst hoffe.
„Wie kommen Sie auf mich, Herr Staatssekretär?“, hake ich nach, um etwas Zeit zu gewinnen und meine Chancen auszuloten. „Ich bin zwar Anwalt, aber kein Kriminalist.“
„Ach, da hinten wohnen nur Landeier! Da braucht niemand einen echten Kriminalinspektor oder so etwas. Es reicht eine gute Menschenkenntnis und ein bisschen Spürsinn. Sie haben mal erzählt, dass Sie alle Bücher von diesem englischen Romanschreiber Sherlock Holmes gelesen haben.“ Plötzlich wird klar, wie sehr ein unbeschwerter Champagnerrausch auf einer Soiree einen in Schwierigkeiten bringen kann.
„Nicht ganz, während meiner Zeit in Oxford habe ich die Werke von Conan Doyle gelesen, dessen Romanfigur Sherlock Holmes heißt. Er ist wegen seiner analytischen Denkweise berühmt geworden, um den Täter anhand von Beweisen zu ermitteln. Aber wieso soll ich deswegen einen Mord an einem gekreuzigten Pastor aufklären können?“, frage ich verwirrt und ernte dafür diesen Blick. Sofort bekomme ich eine Vorstellung, warum Staatssekretär Ullmann einen solchen Blick von Großtante Sophie vermeiden will. Auch ich habe eine Tante aus dem preußischen Landadel: Tante Apollonia. Sie ist kälter als die sibirische Tundra, gegen ihre Härte ist ein Diamant kaum mehr als ein Schwamm und ihr Blick vernichtet Flotten oder lässt Menschen im Staub vor ihr kriechen. Dann lieber vor seiner Majestät, dem Kaiser, stehen und zugeben, dass man zu dumm und unfähig ist als vor einer Großtante preußischen Blutes.
„Und wenn ich den Täter finde?“
„Dann besteht die Option, dass Sie die Karriereleiter im Reichsamt viel schneller hinauf fallen“, bietet der Staatssekretär mir listig an. Es gibt nie eine feste Zusage, dass man eine bestimmte Stellung bekommt. Doch dieses Angebot ist so etwas wie ein Gefallen und wird nie vergessen, wenn es darauf ankommt.
„Wann muss ich nach Hockenstedt reisen?“, gebe ich leise seufzend nach, um die Größe der zukünftigen Schuld zu verdeutlichen.
„Gestern, mein Lieber, und ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mir vorgestern einen Mörder präsentieren können“, verlangt Staatssekretär Ullmann unmissverständlich und jetzt zählt nicht nur mehr der Versuch, die Untat aufzuklären, ich muss ein Ergebnis liefern.
„Auf nach Hockenstedt, wo immer das liegt“, bestätige ich schwermütig und verlasse das Büro. ‚Vielleicht bin ich eines Tages Staatssekretär‘, schwärme ich übermütig, was die Reise in die finsterste Provinz nicht attraktiver macht.
15. Mai. 1899, 11.15 Uhr
Mein Blick aus dem Fenster des Eisenbahnwaggons auf der Fahrt nach Wilhelmshaven hat mir bildhaft erklärt, wieso der Nordwesten als plattes Land bezeichnet wird. Ein Maulwurfshügel gilt als Erhebung und es gibt nichts, was den Blick aufhält. Ich kann sehen, wo der Himmel den Horizont berührt und das ist verwirrend. Wilhelmshaven heißt Schlicktown, weil es danach riecht, nach Schlick und nach Fisch und die Marine ist allgegenwärtig. Als aus dem Zug steige und mein Gepäck auf dem Bahnsteig abstelle, schaue ich mich ratlos um. Alles ist zwar neu und prächtig, aber auf dem ausgehängten Fahrplan kann ich keine Verbindung nach Hockenstedt finden. Deshalb gehe ich an den Fahrkartenschalter und beginne höflich: „Guter Mann, wie komme ich nach Hockenstedt?“
„Wohin?“, grummelt der Bahnwärter skeptisch.
„Hockenstedt, ein Ort, der in der Nähe liegen muss.“
„Mutt hey dat? Worüm?“, entgegnet er, ohne mir eine Spur von Aufmerksamkeit zu schenken.
„Wieso warum? Hören Sie, ich muss weiter nach Hockenstedt und würde gern mit der Bahn …“, erwidere ich ungehalten, ernte aber die Erheiterung des Beamten.
„Wilhelmshaven is dat Ende vom Lied!“, unterbricht er mich grinsend. „Dey Züge fahrt hier nur turüch.“
„Und wenn jemand Fremdes nach Hockenstedt fahren will?“
„Ick halt ja nix von fremdes Volk, aber warum sollten die so’n Narrenkram tun wollen?“, gibt er zu bedenken. Ich blicke ihn erstaunt an. Obwohl ich aus dem Reichsamt gelangweilte, unterbezahlte und widerspenstige Beamte gewöhnt bin, scheint mir dieses Exemplar den Kurs für Fortgeschrittene absolviert zu haben. Aber Mamas Junge ist nicht allzu oft vom Wickeltisch gefallen und daher möchte ich geduldig wissen: „Nehmen wir mal an, Sie verspüren den Wunsch, nach Hockenstedt reisen zu wollen. Wie gehen Sie da vor?“
„Un wat will ick in Hockenstedt?“
„Verwandte besuchen?“
„Heb ick nich.“
„Was wäre denn ein guter Grund für Sie, nach Hockenstedt zu wollen?“
„Da fällt mir keener in“, überlegt er. „Aber ick heb da eine Tante, dey heb ick vorn poor Johr tolett sehen. Dey livt in Barnbüttel. Dat is bannich noh bei Hockenstedt.“ ‚Ich kriege eine Auskunft von dir und wenn es das Letzte ist, was ich tue‘, beschließe ich. „Wie haben Sie das letzte Mal Ihre Tante besucht?“
„Joo, da bin ick mit mien Vedder Hein und seine Familie mitwähn.“
„Und wann fährt ihr Vetter Hein das nächste Mal Ihre werte Tante besuchen?“
„Dat weet ick nich“, meint er nachdenklich. „Aber wenne dringend noh Hockenstedt wullst, warum fährst du nich mit Witten mit?“ Ich sah mich schon in Wilhelmshaven gestrandet, doch jetzt will ich hastig wissen: „Wer oder was ist Witten?“
„Witten, Ole Witten, hey is’n Fuhrmann und fahrt jeden tweten Dag nach hier, lädt up, wat de Bahn mitbrocht hät und dann fahrt hey wieder turüch.“
„Heißt das, wenn ich mich beeile, kann ich einen Fuhrmann erwischen, der nach Hockenstedt fährt?“, hauche ich verblüfft. Der Beamte holt sachte seine Taschenuhr hervor, klappt den Deckel auf und schaut auf die Uhr.
„Jo, wenne schnell büst, magst du ihn noch kreegen.“
„Vielen Dank“, entgegne ich leicht gereizt, schnappe meine Koffer und will losrennen, was das Zeug hält.
„Hey du, wenn Ole schon wech sein sollte …“, ruft er mir nach.
„Das wird er auf jeden Fall sein, wenn Sie mich noch lange aufhalten“, unterbreche ich ihn ungnädig, da ich stehenbleiben muss. „Was wollen Sie jetzt noch von mir?“
„Wenn Ole Witten losgefohren is, dann … dann findest du ihn mindestens noch eine halve Stund bei ihrer Majestät“, erwähnt er. ‚Das gibt überhaupt keinen Sinn!‘, beschwert sich meine innere Stimme und schmollt.
„Wie kommt Ole Witten von nach Berlin?“, muss ich hören.
„Ihre Majestät is dey ‚Kaiser Willem Kroog‘“, verrät er mir breit grinsend. Als Jurist weiß ich, dass auf Mord die Todesstrafe steht, aber in diesem Fall …
„Vielen Dank, mein Herr, Sie waren mir eine große Hilfe“, erwidere ich höflich, denn ich weiß, wenn ich verloren habe. Ich nehme meine Koffer und haste mit ihnen aus dem Bahnhof raus, wo ich mich umschaue.
Das Fuhrwerk von Ole Witten ist abseits des Bahnhofs an der Laderampe durch ein entsprechendes Schild leicht zu erkennen, zumal ein strammer Kerl eine Kiste auflädt.
„Sind Sie Ole Witten, der Fuhrmann?“, frage ich ihn.
„Jo.“ Er schaut mich ebenfalls nicht an und arbeitet weiter.
„Ich habe gehört, dass Sie aus Hockenstedt sind.“ Eine Antwort bekomme ich nicht. „Fahren Sie heute dorthin zurück?“
„Jo.“ ‚Was ist das für einen lustiger Vogel?‘, will meine innere Stimme irritiert wissen.
„Würden Sie mich mitnehmen?“
„Jo.“
„Kann ich meine Gepäckstücke auf den Wagen legen?“
„Jo.“ Ich reiche ihm meine Gepäckstücke, die er kommentarlos auf dem Wagen verstaut. Dann deckt er alles mit einer Plane ab und hockt sich auf den Kutschbock. Ich schwinge mich ebenfalls hinauf, da ich wohl keine Aufforderung erwarten kann. Die beiden Pferde trotten los, als würden sie den Weg auswendig kennen und bleiben von allein vor einer Wirtsstube stehen, die ‚Kaiser Wilhelm Kroog‘ heißt.
„Darf ich Sie reinbegleiten?“
„Jo.“
„Ich würde Sie gern zu einer Mahlzeit und einem … was auch immer Sie trinken einladen“, biete ich ihm an, worauf er freudig grinst.
„Jo“, höre ich diesmal fröhlich, worauf wir gemeinsam eine deftige Mahlzeit wie auch Bier und Doppelkorn genießen, bevor es nach Hockenstedt weitergeht.
Die Fahrt auf dem Kutschbock nach Hockenstedt ist lang und still. An den Lärm der Reichshauptstadt gewöhnt, brüllt die Stille mich doppelt laut an, was mich genauso erschreckt wie der Umstand, keine Menschenseele unterwegs zu sehen. Wir begegnen Schafherden, aber keinem Hirten, schwarz-weißen Rindviechern und manchmal ein paar Pferden. Sie stehen auf Weiden, flach wie ein Teller, und Zäune sind so selten wie die Menschen. Dafür ist überraschend viel Wasser in schnurgeraden Bächen zu sehen, was mich verwirrt.