Magda saß in dem kleinen Zimmer und tat das, was sie grundsätzlich tat, nachdem sie gegessen hatte. Sie war vollkommen unbeeindruckt von der bedrohlich tickenden Uhr, auf der man keine Zeit ablesen konnte. Der große Zeiger fehlte. Unwichtig. Jedenfalls für Magda. Trotz der Geschehnisse, die für alle Beteiligten Folgen haben würden, ließ sie es sich nicht nehmen, unbeirrt ihre Katzenwäsche fortzusetzen. Magda hatte sich einen Sitzplatz ausgesucht, der nicht mit dunkelroter Flüssigkeit durchtränkt war. Auf ihrem Weg dorthin hatte es sich jedoch nicht vermeiden lassen, in die eine oder andere Lache zu treten. Umso mehr war sie nun darum bemüht, das Blut von ihren Pfoten abzulecken. Irgendwann war Magda fertig mit ihrer Wäsche und setzte sich zufrieden auf den Schoß des Opfers, auf die Beine ihres Futtermeisters und dachte dabei schon an die nächste Mahlzeit. Sie hoffte, die Uhr würde ein wenig schneller ticken, glaubte sie doch einen Zusammenhang zu erkennen zwischen diesem Geräusch und der Bereitschaft ihres Besitzers, sich in die Küche zu begeben, um eine neue Dose zu öffnen. Mit wunderbaren Gedanken an saftiges Fleisch schlief sie leise schnurrend ein.
Otmar saß mehr oder weniger locker in seinem geliebten Sessel, von welchem er direkt auf die herrlichen Pappeln sehen konnte, die ihn immer an seine glückliche Kindheit erinnert hatten. Bis vor kurzem zumindest. Jetzt war es anders. Die Leichenstarre war noch nicht eingetreten, seine Hände hingen schlaff herunter, sein Kopf neigte sich in unnatürlicher Schieflage. Er war keineswegs in seinem Sessel gestorben. Jemand hatte ihn absichtlich dort platziert und dabei das Risiko, unendlich viele Spuren zu verteilen, in Kauf genommen.
„Du hast selbst schuld", dachte er. „Du allein. Ich habe Dir helfen wollen. Nun ist es verdammt noch mal zu spät." Er machte die Tür hinter sich zu. Er hatte es geschafft, sein Ziel erreicht. Er konnte ruhigen Gewissens sein Leben fortsetzen, ein Leben, das in geregelten Bahnen verlaufen würde, nun, da alles erledigt war. Er ging durch den Flur zur Haustüre, als sei nichts weiter geschehen. Seine Schuhe hinterließen eindeutige Flecken auf dem alten Dielenboden. Es war ihm egal. Wer sollte schon darauf kommen, dass ausgerechnet er der Mörder war? Nur wegen der Schuhe? Sicher nicht, denn die hatte er gerade erst ganz neu gekauft. Zusammen mit den Müllbeuteln und den Handschuhen. Er verstaute die verdächtigen Utensilien behutsam in seinem Kofferraum und würde sie gleich bei Morgengrauen zum alten See fahren, sie dort versenken und wäre dann endgültig fertig.
Zu Hause angekommen, kochte er sich einen Kaffee, setzte sich damit an den Küchentisch und wartete. Die Uhr tickte. Er fragte sich, ob er sich nicht doch jetzt schon auf den Weg zum See machen sollte, entschied sich aber, erst einmal seinen Kaffee trinken. Er dachte an die alten Pappeln, die nicht nur bei seinem Bruder immer wieder glückliche Erinnerungen an die Kindheit hervorbrachten. Er wusste noch ganz genau, wie er zusammen mit ihm auf der Schaukel saß, über endlos scheinende Wiesen blickte, an deren Ende eine ganze Allee voller Pappeln stand und einfach nur glücklich war. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter aus dem Haus nach ihnen rief, weil sie gerade Kekse gebacken hatte. Otmar und er waren gern an der Schaukel hinter dem Haus. Stundenlang hatten sie da gesessen und auf die Pappeln gesehen. Das alles kam ihm vor wie gestern. Wie schnell doch die Zeit verging. Schon damals hatte er sich gewünscht, die Zeit wäre einfach stehen geblieben. Aber sie lief weiter und weiter, unaufhaltsam. Damals und jetzt. „Bald wird die Leichenstarre eintreten", dachte er und schlürfte weiter an seinem heißen Kaffee. Dabei konnte er den Duft von Mutters frisch gebackenen Plätzchen riechen. „Mutti! Mutti!" Hatte er diese Worte tatsächlich gerade von sich gegeben? Wut stieg in ihm hoch. „Mein Bruder hat Schande über uns gebracht! Wie konnte er mir das nur antun? Wie konnte er es nur unserer geliebten Mutter antun?"
Er erinnerte sich daran, wie er versucht hatte, mit seinem Bruder zu reden. Nicht einmal, hundertmal, tausendfach. Er hatte nun wirklich ausreichend Geduld aufgebracht, aber Otmar konnte einfach nicht die Finger von den Männern lassen.
In seinem Leben kamen und gingen die Mädchen. Eines war süßer als das andere. Jedes Mal hatte er geglaubt, sie sei die Liebe seines Lebens. Diese großartige Liebe war dann immer spätestens nach zwei Wochen vorbei. Bei Otmar war es ganz anders. Er saß immer nur da und sah verträumt auf die Pappeln. Bis auch er die vermeintliche Liebe seines Lebens entdeckt hatte, waren Jahre vergangen. Trotzdem war auch bei Otmar die erste Verliebtheit schnell vorüber, doch fand er niemanden mehr, der ihm gleich gesinnt war. Zu dieser Zeit hatte sein Bruder noch Hoffnung, alles würde sich zum Guten wenden. Weit gefehlt. Irgendwann fing Otmar an, sich mit Männern zu treffen, Männer, denen er nichts bedeutete, ihm aber wenigstens kurzfristig das Gefühl gaben, eine Daseinsberechtigung zu haben. So, wie er nun einmal war und nicht so, wie Otmars Bruder es gern gesehen hätte.
Seinen Kaffee hatte er ausgetrunken. Sollte er wirklich jetzt noch zum See fahren? Bald würde seine Frau nach Hause kommen und unangenehme Fragen stellen, wo er denn gewesen sei. Nein, die Idee, die Müllbeutel mit den Handschuhen und den Schuhen erst im Morgengrauen zu entsorgen, war weitaus unauffälliger. Er überlegte, ob er sich noch eine Tasse Kaffee einschütten solle.
Die Küchenuhr tickte. Es war das erste Mal, dass er diese Uhr wirklich wahrnahm. Erst jetzt wurde er sich seiner Tat bewusst. Dennoch, er fühlte sich vollkommen im Recht. Er starrte auf die Uhr. Vier Stunden waren vergangen. Die Leichenstarre würde vermutlich bald einsetzen. Noch einmal erlebte er seine konsequente Handlung. Noch einmal sah er seinem Bruder in die Augen, sah, wie sie langsam hervorquollen, wie sich die Tränensäcke mit Blut füllten, wie der Lebenssaft allmählich begann, hinab zu rinnen. Erst da wich Otmars erstaunter Gesichtsausdruck der unwiederbringlichen Erkenntnis, dass seine Uhr abgelaufen war. Otmar sackte in sich zusammen. Der Kopf schlug auf den Boden auf, der Schädel brach mit einem unverwechselbaren Geräusch. Er zögerte nicht, sondern schleppte den gerade getöteten Körper durch den Flur in das Zimmer mit dem Blick auf die Pappeln. Otmar war schwer.
Er bemerkte gar nicht, wie der Füller aus seinem Hemd rutschte, so sehr war er mit dem Leichnam beschäftigt. Endlich in den Sessel gewuchtet, war er zufrieden mit seinem Werk. Jetzt wollte er nicht länger daran denken.
Seine zweite Tasse Kaffee hatte er ausgetrunken, sah noch ein wenig fern und ging dann zu Bett. Seine Frau stellte keine Fragen.
Hermann Lotse war noch nicht sehr lange bei der Mordkommission, umso schlimmer war für ihn der Anblick Otmars, der in seinem Magen eine Schlacht wie bei Trafalgar auslöste. Es nutzte nichts. Er musste schließlich seine Arbeit zu tun. In dem kleinen Zimmer mit Blick auf die Pappeln tummelten sich hunderte von Fliegen. Der Raum war mit einem unerträglichen Summen erfüllt. Zunächst konnte Hermann den Blick von der im Sessel sitzenden Leiche nicht abwenden. Dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit, das er zunächst nur mit einem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Es war Magda, die Katze. Sie saß sehr interessiert vor der Anrichte. Ihre Pfoten angelten aufgeregt nach einem Teil, das bis jetzt noch nicht sichtbar war. Dazu tickte die Uhr an der Wand. Ob Magda unter der Anrichte wohl den Zeiger gefunden hatte, der an der Wanduhr fehlte? Hermann kniete sich nieder. Für einen kurzen Augenblick war die Katze abgelenkt. Sie wendete sich von ihrer vermeintlichen Beute ab und sah Hermann direkt in die Augen. Langweilig. Interessiert wendete sie sich wieder der Anrichte und dem darunter befindlichen Geheimnis zu. Hermann wartete. Magda fischte unermüdlich weiter. Ihr Schwanz wedelte ruhelos hin und her. Dann hatte einer ihrer Samtpfoten etwas erwischt. Der Schwanz zeigte nach oben wie ein Spazierstock. Die Katze regte sich nicht. Doch. Langsam kam der Gegenstand hervor. Kaum, dass er zu sehen war, wurde er uninteressant. Magda sprang auf die Anrichte. Hermann hob das soeben erbeutete Teil auf. Mittlerweile war das Blut, das sich darauf befand, angetrocknet. Ob der Füller, den er nun in seinen Händen hielt, ihn zu Otmars Mörder führen würde? Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Es klingelte.
Der Kommissar legte den Füller auf die Anrichte, ging durch den Flur, in Richtung Haustür und öffnete.
„Wer sind Sie denn?", fragte er.
„Das Gleiche könnte ich Sie auch fragen." entgegnete der Andere.
„Ich will zu meinem Bruder."
„Das geht nicht."
„Nun werden Sie mal nicht unverschämt!" Der Besucher schien ausgesprochen selbstbewusst. „Sie werden mich nicht daran hindern!"
„Ihr Bruder ist tot", entgegnet der Kommissar in äußerst neutralem Ton.
„So ein Unsinn. Woher wollen Sie das denn wissen? Wer sind Sie überhaupt? Was machen Sie in dieser Wohnung?" Er fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum.
Hermann Lotse war geneigt, unprofessionell zu reagieren. Wie konnte jemand, dem man gerade sagte, sein Bruder sei verstorben, in einer solch dreisten Weise auftreten? Da war kein Gefühl der Trauer, des Entsetzens, keine Nachfrage, lediglich die trockene Reaktion, den Tod als solches in Frage zu stellen. Gerne hätte er ihm auf den Kopf zugesagt, was er davon hielt, konnte sich aber gerade noch beherrschen und sagte nur: „Kommen Sie bitte herein. Gehen wir in die Küche. Dieses Zimmer", er deutete mit dem Kopf auf die verschlossene Tür, „sollten wir momentan nicht betreten."
„Sie meinen es also ernst?"
„Warten Sie bitte einen Augenblick hier." Hermann Lotse kam mit dem Füller zurück: „Gehört der Ihnen?"
Ihm wurde heiß. Ihm wurde kalt. Die Hände zitterten. Die Füße zuckten in den Schuhen. Seine Knie bebten. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Fehlende Zeiger wurden unwichtig. Er glaubte, die Zeit würde ihn einholen. Noch einmal sah er vor seinem geistigen Auge, wie sein Bruder zu Boden stürzte. Noch einmal erlebte er die gemeinsame Kindheit. Noch einmal fühlte er sich wie ein kleiner Junge auf der Schaukel. Noch einmal spürte er die Enttäuschung, die blanke Wut, als er Zeuge wurde, wie Otmar seinen ersten Freund geküsst hatte. Er wollte es nicht, aber ein weiteres Mal zog ihn die Vergangenheit in seinen Bann. Er fand es beschämend, wie sein Bruder uneingeschränkt zu seiner sexuellen Neigung zu Männern stand. Fast hätte er Otmar sogar für diese Ehrlichkeit bewundert. Stattdessen meinte er nur: „Nein." Dabei sah er zu Boden. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Die einzigen Beweisstücke, die ihm zum Verhängnis hätten werden können, hatte er erfolgreich in dem See versenkt, an dem niemals jemand vorbei kam. Beweise gab es nun keine mehr, nicht an diesem Ort. Bis auf den verdammten Füller. Eigentlich war er nur an den Ort der Schande zurückgekommen, um noch das Fotoalbum abzuholen. Ein Album voller Bilder, wie sie schlimmer nicht hätten sein können. Und Otmar war auch noch stolz darauf gewesen, auf all’ diese Männerfotos von eindeutiger Natur. Grausig.
„Woher haben Sie den Füller überhaupt? Hat mein Bruder ihn etwa in der Hand gehabt, als sie ihn gefunden haben? Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl? Wer hat Sie verständigt? Das wird dann ja wohl der Mörder gewesen sein oder? Warum sagen Sie nichts?" Hermann Lotse sah ihn lange an. Magda durchbrach schließlich die Stille. Sie kletterte auf dem Toten unter lautem Maunzen herum. Ihre Geduld war am Ende. Sie wollte nun endlich gefüttert werden.
„Der Uhrmacher hat die Polizei verständigt."
„Der Uhrmacher? Welcher Uhrmacher?!"
Lotse zeigte auf die Wanduhr: „Offenbar wollte Ihr Bruder, dass der Uhrmacher vorbei kommt, um einen neuen Zeiger anzubringen. Als er zu der verabredeten Zeit hier erschienen ist, hat ihm aber niemand geöffnet. Er hat jedoch noch gesehen, dass gerade ein Auto die Auffahrt verlassen hatte."
„Wieso erzählen Sie mir das?"
„Vielleicht wissen Sie ja, wer das gewesen sein könnte."
„Ich!?"
Seine Hände wurden plötzlich genauso nass wie das Regenwasser, das die Straße vor dem Haus hinunter lief. „Aha, der Uhrmacher also auch", dachte er. Warum musste er mit einfach jedem etwas anfangen? Wenn ich doch bloß vorher an das Album gedacht hätte. Mist."
„Und? Äußern Sie sich bitte!"
Aggression war das Einzige, das ihm noch sinnvoll erschien, um seine Schuld erfolgreich zu verbergen. Die Flucht nach vorn war seine letzte Chance: „Woher wissen Sie das eigentlich alles? Und was habe ich mit diesem idiotischen Uhrmacher zu tun? Die blöde Uhr war schon jahrelang kaputt. Auf einmal soll das alles wichtig sein? Machen Sie sich doch nicht lächerlich!"
„Wo waren Sie zum Tatzeitpunkt?"
„Wenn Sie die Güte hätten, mir zu sagen, wann das gewesen sein soll …!"
Klischeehafter konnte der Dialog nicht ablaufen. Die Kenntnis um diese Tatsache brachte Kommissar Lotse leider keinen winzigen Schritt weiter. Also versuchte er, an einem anderen Punkt anzuknüpfen: „Sind Sie sicher, dass Sie den Füller nicht kennen?" Hermann Lotse war ein wenig hilflos.
„Herr Gott noch mal! Ich gehe jetzt nach Hause. Sie können mir ja sagen, wenn Sie einen Verdächtigen verhaftet haben."
„Würden Sie mir dennoch bitte eine Frage beantworten?" Die beiden Personen standen immer noch in der Küche.
„Wenn es unbedingt sein muss." Er wollte nun endlich diesen Ort und seine Geschehnisse einfach verlassen. Ein Problem hatte er allerdings noch zu lösen: Wie sollte er an das schändliche Fotoalbum herankommen? „Darf ich nicht vielleicht doch in den Raum da?" Mit dem Kopf deutete er eindeutig in Richtung Leichenzimmer.
„Ich glaube wirklich nicht, dass Sie da hinein sollten. Es ist kein schöner Anblick."
„Ich möchte mich gerne von meinem Bruder verabschieden, bevor ihn irgendwelche Balsamierfritzen in die Finger bekommen."
Der Ermittler sah ihn fragend an. Welchen Sinn sollte das ergeben? Die Nervosität des Mörders war auf einem Höhepunkt angekommen, der nicht mehr kontrollierbar war. Das Fotoalbum war für ihn momentan das wichtigste auf der Welt, ein Gegenstand, der störte, das Beweisstück eines impertinenten Lebenswandels, momentan der Mittelpunkt seiner Gedanken und des daraus folgenden Handelns. Wären ihm die Fotos nicht derart wichtig gewesen, wäre er sicherlich ungeschoren davon gekommen. Die beiden Männer sahen sich an. „Wo ist Magda?", fragte der nervöse Bruder.
„Magda?"
„Ja, dieses Katzenvieh."
„Warum interessiert Sie das?"
„Die muss ja irgendwo hin. Ich nehme sie mit nach Hause."
Endlich sah der Kommissar seine Chance. Beinahe alle Mörder verrieten sich, wenn man sie nur lange genug in ein belangloses Gespräch verwickelte. Die Versuchung zu plaudern oder besser: sich zu verplaudern, wurde dann schlichtweg zu groß. Daher lächelte Lotse überlegen: „Sie müsste da in dem Zimmer sein."
Die ersehnte Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. „Wie ich dieses blöde Vieh kenne, sitzt sie bestimmt bei meinem Bruder auf dem Schoß und wartet auf ihr Fressen."
„Wie kommen Sie denn darauf, dass Ihr Bruder irgendwo sitzen könnte?"
Er sah wieder zu Boden. Er fühlte sich erwischt. Er ärgerte sich über sich selbst.
„Äh. Was?"
Zeitgleich mit seiner Äußerung erkannte er den verheerenden Fehler, den er soeben begangen hatte. Es machte wohl keinen Sinn mehr, noch nach Ausflüchten zu suchen. Trotzdem musste er der Situation entrinnen. Zumindest musste er es versuchen. Lotse bewegte sich auf die Zimmertür zu. „Nur jetzt niemanden in Panik versetzen, nur jetzt nicht versagen. Du bist ein Profi", dachte er sich. Langsam öffnete er die Tür. Seitlich sah man auf den Toten. Magda stapfte auf dem leblosen Körper herum. Die Pfoten bewegte sie rhythmisch auf und ab, wobei ihre Krallen hervorkamen und wieder verschwanden. Sie rollte ihre Ballen ab wie ein sportlicher Geher. Sie bettelte um Futter. Es war schon so lange Zeit dafür, aber nichts tat sich. Er ging auf die Katze zu. Am liebsten hätte er ihr den Hals umgedreht. Letztendlich war sie schuld an seiner momentanen Misere. Sie allein. Ohne Magda hätte er sich nicht zu der schwachsinnigen Bemerkung hinreißen lassen, die ihn verraten hatte. Er war nicht dumm. Er wusste, dass der Kommissar in seinem Verdacht bestätigt worden war. Er machte wieder kehrt. Das Album lag unbeachtet an seiner Stelle. Er drehte seinen Kopf und warf noch einmal einen letzten Blick auf seinen toten Bruder. Als er sich zurückgedreht hatte, fand er Lotse regungslos und dennoch entschlossen im Flur vor. Sein Blick war eindeutig.
Langsam ging er durch den Flur. Die quadratischen Bodenfliesen verformten sich zu rechteckigen Gebilden bis sie zu eigenen kleinen Fluren wurden. Dann schaffte er es, seine Fluchtgeschwindigkeit zu erhöhen, aber der Flur schien dennoch endlos lang zu werden. Er rannte. Er kam nicht voran. Er war mittendrin in einer Zeitlupenaufnahme. Raum und Zeit passten nicht mehr zusammen. Endlich näherte er sich der rettenden Tür. Es war nur noch ein kleiner Absatz zu überwinden, dann wäre er dem Arm des Gesetzes endgültig entflohen. Wäre. Der Konjunktiv war an dieser Stelle durchaus berechtigt. Der Weg in die Freiheit war noch länger, als ihm vor nur einigen Sekunden der Flur vorgekommen war. Trotzdem erreichte er den Treppenabsatz. Seine Schuhe hatten Ledersohlen, denn auf Qualität hatte er immer schon Wert gelegt. Das sollte ihm nun zum Verhängnis werden. Es regnete immer noch. Direkt nach dem Überwinden des Absatzes glitt er auf der ersten Stufe aus. Seine Hacke rutschte weg. Der Schwerpunkt seines Körpers verlagerte sich in eine äußerst ungünstige Position. Die Beine schnellten nach vorn, der Oberkörper raste dem Boden entgegen. Sein Kopf schlug auf.
Auch Hermann Lotse war mittlerweile am Ende des Ganges angekommen. Aus Otmars Zimmer hörte er leise die Uhr ticken, die wohl niemand mehr reparieren würde. Ja, sie tickte. Die Zeit des Mörders hingegen war abgelaufen. Endgültig. Er lag in einer Pfütze von Blut, das sich mit dem Regenwasser vermischte. Die Augen stierten Richtung Himmel. Hätte der Kommissar von den Pappeln gewusst, hätte er sicher den Eindruck bekommen, der Mörder, der nun Opfer seiner Selbst war, sei auf der Suche nach seiner Kindheit, einer glücklichen Kindheit, die geprägt war von einer Schaukel und Pappelzweigen im Wind.