Mikrostories

Danke Berti!
Das ist doch eine nützliche Lektion :slight_smile:
Ich hadere zuweilen mit den Zeiten. Dabei ist sooooo viel möglich. :dizzy:

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Gebrochener Schild
Morgens um sechs überquere ich die Düne und wir sind am Strand, nur der Hund und ich. Der Strand ist leer, natürlich, der Urlaubsort schläft noch. Nur das Meer ist schon wach. Die Nordsee ist ursprünglicher als die Ostsee, wilder, bewegter, deshalb mag ich sie lieber. Treibholz, Muschelscherben und Steine ziehen einen langen Streifen entlang der Wasserlinie in den feinen Sand. Augenblick, bleib im Augenblick. Wind, feuchter Sand, Möwenschreie. Schreie.
Ich ziehe die Badelatschen aus und kralle mit den Füßen in den Sand. Der Flashback trifft mich hart. Das tut er immer. Aber er wird vorübergehen. Es ist wieder der Tag, an dem ich ein gebrochener Schild war, an einem Ort, dessen Namen ich nicht nennen darf.
»Emergency, emergency! Fünf Männer am Boden.«, brülle ich in das Funkgerät. HQ ist durch das Rauschen, den Lärm und das verdammte Piepen in meinem Ohr kaum zu verstehen.

Ich trete auf eine Muschelscherbe und bin dankbar für den Schmerz. Clifford bellt eine Möwe an. Der Wind rauscht in meinem Ohr, wie …

… die abgerissene Antwort im Mic: »Bleiben sie unten. Wir sind unterwegs. Halten sie nur ihrem Doc den Rücken frei! Wiederhole, wir sind unterwegs!«
Meine Hand ist nass von dem Verbandspäckchen, das ich fest auf meinen Oberbauch drücke. Später würde ich einigen Menschen erzählen, dass dies eine verpfuschte Gallenblasenoperation war.
»Das ist ja das Problem«, brülle ich durch den Lärm. »Ich bin der Doc!«
Ich höre endlich schon das Meer und hoffe, dass mich der Augenblick gleich zurückholt. Noch einmal höre ich den Funker am anderen Ende über alle Frequenzen brüllen: »Scheiße! Wir haben einen gebrochenen Schild! All Teams: we have a broken shield!«

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Momentan hänge ich etwas fest, komm bei meinem Roman nicht so recht voran, wie ich es gerne möchte. Versuche mich mit der Dan Wells Methode. Dabei hatte ich so eine Art „Gedanklichen Querschläger“ betreffend das Thema Fremdbestimmung, vermutlich, weil es darum im weiteren Sinne auch im Roman geht. Erzählt in unter 300 Worten aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich von Schatten (die wir ja alle haben, manchmal in unterschiedlichen Formen) und manchmal auch selber zu sein scheinen. Einfach nur, um in Übung zu bleiben. Hab Probleme mit dem sogenannten „Deppen-Apostroph“ (schreiben und nicht genau wissen, wo es hingehört)… Hoffe, dass es so passt…

Gefangen im Schatten

Ein altes, verwunschenes Café, wo das Licht schüchtern durch die Fenster fällt, in einer kleinen Stadt, in der die Menschen in den Erwartungen anderer gefangen gehalten werden. Die Wände sind mit Schattenbildern der Vergangenheit bedeckt, und die Luft ist schwer von unerfüllten Träumen. Hier versammeln sich die Schatten an einem Tisch in der Ecke. Genauso gefangen in den Forderungen und Ängsten ihrer Besitzer.

Maras’ Schatten seufzt: „Ich kann nicht mehr! Ständig muss ich die Kriegerin spielen, die ich nicht bin. Ich bin nur ein Schatten, der ihre Unsicherheiten widerspiegelt.“
„Du bist stärker, als du glaubst“, erwidert Linas’ Schatten sanft. „Du musst dich nicht von den Erwartungen bestimmen lassen.“
„Stark? Ich fühle mich wie ein Gefangener“, kontert Maras’ Schatten. Immer in der Dunkelheit, immer fremdbestimmt. Was, wenn ich einfach verschwinde?“
Linas’ Schatten kichert: „Verschwinden? Und was dann? Würden die Menschen nicht einfach neue Schatten erschaffen? Vielleicht sollten wir einfach mal die Perspektive wechseln und sehen, was wir wirklich sind!“

Plötzlich trifft ein Lichtstrahl die Schatten. Ein alter Herr stürmt herein, gefolgt von Tauben. „Hilfe!“, kreischt der Herr-Schatten. „Die Tauben haben seine Brötchen gestohlen!“
Die Schatten lachen.
„Selbst die Tauben sind nicht fremdbestimmt!“ konstatiert Maras’ Schatten traurig.
Linas’ Schatten schlägt vor: „Lasst uns den Menschen zeigen, dass sie die Kontrolle über ihr Licht haben.“

Mutig verändern die Schatten ihre Formen, lassen die Dunkelheit hinter sich und rufen: „Auf zur Freiheit!“
„Und vielleicht zu einem helleren Morgen!“
Sie tanzen im Licht, bereit, die Menschen zu ermutigen, ihre einzigartigen Schatten zu erkennen, selbst ganz individuelle Entscheidungen zu treffen und die Fesseln der Fremdbestimmung zu sprengen.

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Anbei eine Kleinigkeit, die zu lang für eine Mikrostory, aber zu kurz und kurzlebig ist, um eine eigene Rubrik zu rechtfertigen. Wie immer basierend auf einer wahren Begebenheit.

Und nein, ich nehme keine Drogen, Dr. Froid. :grinning:

Viel Spaß mit Wilbos Deduktion.
Wilbos Deduktion.pdf (78,9 KB)

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Rate Dr. Froid dennoch zu einer ernsthaften Untersuchung auf …

Hey, Michel, seeehr geil! Daumen hoch!

Nur die Sache mit dem Namen .?.
Hab ich zu schnell gelesen? Ist mir da etwas durchgerutscht?

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Für @Silberliebe - mit ohne Mortalität …

Total verpeilt

Vorhin, ich flacke in der zweiten Reihe auf dem Liegestuhl herum, genieße die Ruhe.
Nur auf der Liege vor mir hampelt ein fünfjähriger, bis ihn die Eltern zum Essen rufen. Er rennt los. Tapp tapp tapp tapp tapp …
Kurz darauf geht die Restauranttüre auf. Der Kleine kommt angepest, schnappt sich seine Schuhe und ist schnell wie der Wind wieder weg.
Eine Minute später, ich denk, ich seh nicht recht, kommt er noch mal angewetzt, legt beide Schuhe auf die Liege, um sich die Sonnenbrille, die er vorher vergessen hat, aufzusetzen, schnappt sich einen Schuh. Tapp tapp tapp tapp tapp …
Nach wenigen Sekunden geht die Türe wieder auf, er kommt gerannt und holt den zweiten Schuh.
Und ich denke: Jau, total verpeilt zu sein, muss nicht zwangsläufig etwas mit dem Alter zu tun haben.

:sunglasses: :thong_sandal: :palm_tree:

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Offene Frage

Lehrlingstag in der Firma Z, eine Fabrik, die Autoteile herstellt und in die ganze Welt exportiert. Wir besuchen das vierstündige Event mit zwei 15-jährigen Burschen, die eben ihre Pflichtschule abgeschlossen haben. Yusuf, der prinzipiell seine Abfälle nicht wegräumt, weil das Frauenarbeit ist, interessiert sich für Robotik und Mechatronik, Doruk, der alles, was wie ein Mädchen aussieht, schamlos anbaggert, für Fertigungstechnik und Kunststoffverarbeitung. Beide wundern sich, dass meine Frau den Wagen lenkt und nicht ich.
In der Abteilung für Robotik gibt es eine Lehrlingsausbilderin - eine wunderschöne junge Frau in Shorts und T-Shirt, auf dem steht: „Ich bin eine Handwerkerin. Und du so?“ Sie zeigt den Jungs wie sie mit einem Finger eine riesige Maschine steuert, die winzige Schrauben in vorgegebene Gewinde dreht.
In der Abteilung für Fertigungstechnik erklärt uns die 17-jährige Fabienne, die zwei Köpfe kleiner ist, als ihre männlichen Kollegen, dass sie eben Kran- und Staplerausbildung absolviert hat und am Tag um die achtzig Tonnen Material bewegt. Neben ihrer Lehre macht sie die Abendmatura .
Auf dem Heimweg sprechen Doruk und Yusuf kaum ein Wort. Sie wirken verstört, fast traurig .
Meine Frau sagt: „Ist es nicht toll, welchen Fortschritt wir durch die Emanzipation erzielt haben?“
Ja, denke ich, sicher. Aber haben wir uns auch genug um die Jungs gekümmert?

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In den Sand getretene Steine

Ein ausgetretener Sandweg irgendwo in Mecklenburg. Rechts ein Weizenfeld welches schon überreif ist und rechts frisch geernteter Roggen. Die Hitze ist so stark, dass sie Form annimmt. Sie steht wie eine Mauer über dem Weg. Man kann nicht durch sie hindurch sehen. Sie flirrt und wird von hektischen Insekten angetanzt.
„Ich mag nicht mehr“, jammert der Feldspat.
„Was willst du machen? So ist es nun mal“, antwortete die abgehauene Ecke eines Backsteins.
„Ich will irgendwo hin, wo es grün ist. Oder ans Meer oder einmal nach Hawaii mit den Muscheln knutschen.“
„Du kommst auf Ideen. Wo hast du das denn her?“
„Wirklich. Mir reicht’s. Mach was du willst, aber ich gehe. Wirst schon sehen.“
Der Backstein lachte innerlich. Wie soll das gehen? So ist es und bleibt bis in alle Ewigkeit.
In der Nacht allerdings hatte er einen Albtraum. Der Feldspat war fort und alles brach zusammen. Das Erdreich riss auf und alle Steine des Weges kullerten durcheinander. Niemand fand Halt, nur weil der Feldspat fehlte. Da wurde ihm bewusst, wie sehr er ihn schätzte und beschloss von nun an netter zu ihm zu sein und sagte am Morgen:
„Bitte bleib, du bist mir wichtig und ohne dich bricht hier alles zusammen.“
"Na gut, ich überlege es mir. " Für den Rest des Tages herrschte Schweigen. Nur in Gedanken war der Feldspat am Strand von Hawaii und dann setzte endlich der erlösende Regen ein.

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Das ist ein wunderschöner Satz.

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:slightly_smiling_face: vielen lieben Dank.

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Ich sehe ihn

Ich sehe ihn schon von weitem im Gastgarten des kleinen Cafés, in dem wir uns verabredet haben. Er sitzt abgerückt von seinem Onkel Saed und seiner Mutter Nevana. Zwischen seinen Beinen ein kleiner Hund mit strubbeligem Fell. Ich gebe seiner Mutter die Hand, stelle mich Onkel Saed vor und setze mich. Alexandru vermeidet es, mich anzusehen.
Ich sehe ihn , während sein Onkel erzählt. Wie schwer es ist für seine Mutter, alleinerziehend, mit einem 13-jährigen Rabauken, dem Teilzeitjob als Putzfrau und selbst kaum ein Wort Deutsch sprechend. Alexandru ist das alles peinlich.
Ich sehe ihn und weiß was er denkt. ‚Was will der alte Mann? Was soll ich mit ihm? Ich mag kein Deutsch lernen. Jetzt in den Ferien schon gar nicht.‘
Ich sehe ihn und sein Onkel erzählt, wie gut er in allen Fächern ist. Rechnen, Geografie, Geschichte, Biologie … nur Einser und Zweier… aber das Deutsch! Und er wurde beim Rauchen erwischt!"
Ich sehe ihn , wie er mich nicht ansieht, als ich ihn nach dem Deutschbuch der letzten Klasse frage. „Weggeschmissen“, sagt er tonlos. Ich muss lachen. „Ja, hab ich auch immer gemacht am letzten Schultag.“
Ich sehe ihn, wie er sich am liebsten die Finger in die Ohren stecken möchte, als sich seine Mutter beklagt darüber, dass er diese Wiederholungsprüfung im September hat. „Wie soll das alles gehen?“
Ich sehe ihn , wie er sich zu dem Hund beugt und ihn krault. „Wie heißt er denn?“, frage ich. „Charley“, antwortet er. „Hm“, sage ich, „das ist ein schöner Name. Weißt du, dass es mal einen Schriftsteller gab, John Steinbeck hieß er, der hatte ebenfalls einen Hund namens Charley? Er reiste mit ihm durch ganz Amerika und dann hat er ein Buch darüber geschrieben. Es heißt Meine Reisen mit Charley. Wenn du willst könnten wir das ja gemeinsam lesen.“
Ich sehe, wie er mich jetzt ansieht, mit seinen blaugrauen Augen. Alexandru nickt. „Am besten im Freibad“, füge ich hinzu.
Ich sehe ihn, wie seine Mutter sagt: „Wir haben kein Geld, um ihm eine Saisonkarte fürs Bad zu kaufen!“ Die Scham steht auf seiner Stirn wie ein Feuermal
Ich sehe ihn und zucke mit den Schultern. „Ich hab schon eine Saisonkarte für ihn“, sage ich, „Gratis, aber nicht umsonst!“
Ich sehe ihn, wie er erst rot wird, dann seine Mutter ansieht, seinen Onkel, mich.
Alexandru lächelt. Sein Blick bleibt bei mir, seine Hand im Nacken von Charley.
Ich sehe ihn. Ich sehe mich. Wie in einem Spiegel.

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Du bist schon ganz schön cool, das ist Dir klar, oder?

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Egal was ich von dir lese. Ich höre deine Stimme und weiß, was dich bewegt. Das nennt man wohl Wiedererkennungswert.

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sag bitte mal: Wann erscheinen Band I-V „Gedruckte Gschichtl“?!!!

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Der freundliche Mann

Fünf Uhr fünfzehn.

Mein Wecker reißt mich aus dem verdienten Schlaf.
Ich mag nicht aufstehen.
Die Schicht gestern war lang.
Der Verkehr war dicht und die Fahrgäste ungeduldig.
Und dann der blöde Kollege auf dem Weg in den Feierabend.
Mit Geschichten über seinen tollen BMW (der nicht mal ihm, sondern seiner Lebensgefährtin gehört), über geile Weiber (ich könnte ihm eine schallern) und dunkelhäutige Menschen, die er als ‚Schwarzfahrer‘ bezeichnet.
Ich kann das alles nicht mehr.
Gut, heute werde ich ihn nicht sehen. Er hat frei.
Schlummertaste.

Fünf Uhr dreißig.

Der Wecker ist gnadenlos.
Hab das Gefühl, als hätte ich gar nicht geschlafen.
Doch ich rapple mich auf.
Wo ist die Fernbedienung? Vergraben. Ah, da.
Ein bisschen Morgenfernsehen.
Gibt nichts Neues seit gestern Abend.
Ein Schluck Wasser aus der Flasche vor dem Bett.
Träge Schritte in die Küche im geisterhaften Licht des Fernsehers.
Kaffeemaschine läuft. Große Tasse mit viel Milch und Zucker.
Schnell zurück und nochmal unter die Decke.
Schlummertaste.

Fünf Uhr fünfundvierzig

Ich kann meinen Wecker nicht mehr leiden.
Das Gespinst eines flüchtigen Traums verfliegt.
Ein Schluck Wasser, ein Schluck Kaffee.
Ich raffe mich auf.
Grundreinigung im Bad.
Zahnpasta, Deo, Wasser ins Gesicht.
Wacher werde ich so auch nicht.
Zurück ins Schlafzimmer.
Dösen auf der Bettkante.
Kaffee, Wasser, Nachrichten.

Sechs Uhr

Ich hasse meinen Wecker.
Schlummertaste?
Nein, für heute lasse ich ihn verstummen.
Los gehts. Hose, Hemd, Schlips. Arbeitskleidung halt.
Tasche packen. Wasserflasche dazu.
Geldbeutel, Handy, Tablet, Dienstausweis?
Alles da.
Ein letzter Weg ins Bad.
Ein fremder Mann schaut mich an.
Ich schaue ihm in die Augen.
Zwinge mich zu lächeln.
Er lächelt zurück.
Ich zwinkere ihm zu.
Er zwinkert zurück.
Ich lächle breiter.
Er lächelt breiter zurück.
Es schaukelt sich hoch.
Wir lachen uns an.

Sechs Uhr fünfzehn

Ich ziehe die Wohnungstür ins Schloss.
War das aber ein freundlicher Kerl.
Mit dem treffe ich mich morgen wieder.
Heute wird ein guter Tag.

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He’s like the wind

Ich sehe auf dem Bildschirm in die Patientenakte der Aufnahme. Es ist kurz vor Mittag. Der Patient ist ein Asyli, schüchtern, irgendwie süßer Kerl. Höflich und zurückhaltend. Er spricht mäßig deutsch, aber ist sichtlich bemüht. Anamnese: hat sich bei der Arbeit das Knie verdreht.
„Na, erzählen Sie mal“, sage ich, während ich das Knie abtaste. Schubladentest, Menisken, Seitenbänder, Kniescheibe. Wir hatten heute Vormittag bereits über vierzig Patienten und ich bin im Automatikmodus. „Wie haben Sie denn das angestellt?“
Es ist ihm unangenehm, er sucht etwas nach den richtigen Worten. Dann richtet er sich etwas auf, nimmt die Arme leicht gebogen vor den Körper, macht eine wiegende Bewegung, bis er schließlich antwortet:
„Ich habe eine Wassermelone getragen.“

Die restlichen fünf Minuten verbringe ich damit professionell zu wirken und einen submanischen Lachflash zu unterdrücken. Soll nochmal jemand behaupten, man könne seine Jugend hinter sich lassen…


(Nicht mir passiert - meiner Frau heute vormittag)
Wer es nicht versteht - macht nichts. Muss man 1987 erlebt haben.

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Wenn er im Fernsehen läuft, schaue ich immer wieder rein … allein wegen diverser Szenen, die heute noch jede Menge Grinsen auf mein Gesicht zaubern.

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Ruhe schenken

Der Zug fuhr bereits an, als sich die Abteiltür öffnete und sich das ältere Ehepaar bei mir erkundigte, ob sie sich mit zu mir rein setzen dürften. Sie durften. Nachdem ich zusah, wie sich der Mann damit abmühte den Koffer ins Gepäcknetz zu hieven, setzten sich beide gegenüber von mir hin.

Ich beobachtete beide. So auffällig, dass ich mich an ihrem aufkommenden Unwohlsein ergötzen konnte. Es machte mir Spaß zuzusehen, wie sie in jede Richtung sahen, nur nicht in meine. Hätten sie es getan, hätten sie mir in die Augen sehen müssen. Hätten sie es getan, hätten sie in meinen Augen vielleicht gesehen, was ich dachte und vielleicht, ja vielleicht… vielleicht wären sie dann lieber wieder gegangen.

„Haben Sie schon mal über den Tod nachgedacht?“ fragte ich einfach aus dem Nichts heraus und sah beide abwechselnd an. Sie schauten mich verwirrt an. „Wie bitte?“, fragte die ältere Dame. „Den Tod“, sagte ich, “haben Sie darüber schon nachgedacht?“, und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: “Ich meine, einer von Ihnen wird als erstes abtreten und Ihre Zeit wird langsam knapp.“ Ich grinste, als hätte ich ihnen grade eine Tasse Tee angeboten.

Die Abteiltür ging auf und jemand bat uns, die Fahrkarten zur Kontrolle vorzuzeigen. Ich griff in meine Tasche, zog das kleine Stück Papier raus und bekam einen Stempel darauf. Der Mann hatte sich in eine Zeitung verkrochen, versteckte sich hinter ihr. Also war es die Frau, die ihrerseits die beiden Karten vorzeigte und Stempel bekam. Endlich schloss sich die Schiebetür wieder und nach einer für mich kleinen Ewigkeit waren wir endlich wieder nur zu dritt.

„Was würden Sie sagen, wenn Ihr Mann plötzlich nicht mehr da wäre?“ Ich sah die alte Dame an, war sehr interessiert an ihrer Antwort. Sie sah mich an, stutze etwas und erwiderte, „Was ist denn das für eine komische Frage?“

Ich sah Sie an und dachte mir, jetzt sei ein guter Zeitpunkt. Also griff ich in meine Jacke, die neben mir am Haken hing und zog die Waffe raus, auf die ich vorher bereits einen Schalldämpfer geschraubt hatte. Ich war entschlossen, mein Leben heute zu ändern, ihm heute einen Sinn zu geben.

Die ältere Dame konnte nicht so schnell umsetzen, was grade passierte. Da ich wegen der Zeitung nur schätzen konnte, traf ich nicht exakt und er röchelte noch etwas, bevor es still wurde. „Vielleicht ist es so einfacher mit der Antwort“, sagte ich schließlich und lächelte in ihre Richtung.

Leider antwortete sie nicht, sondern machte Anstalten loszuschreien. Was blieb mir also anderes übrig? Als sich ihr Gehirn und die kleinen Knochensplitter über die Abteilwände verteilten machte ich mir bereits Gedanken darüber, wie ich das nächste mal eine Antwort bekommen könnte.

Der Zug brauchte noch fast eine Stunde bis ich am Ziel war. Zum Glück hatte ich mir im letzten Bahnhof was zu essen gekauft.

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Ein Krokodil namens Suse
Die Schwingtür der Bar öffnete sich und die Figur kam beschwingt herein.
»Tach Franki«, rief er dem großen bleichen Barmann mit der Statur einer Wanduhr hinter dem Tresen zu und ging zielstrebig zu dem großen runden Tisch, wo ein Astronaut, ein Ork und eine junge Ninja Scrabble spielten. Elton John dröhnte aus der Jukebox.
»Moinsen«, sagte der Astronaut.
»Hömma«, sagte der Ork.
»Hey Rupert!«, sagte das Ninja Mädchen. »Solltest du nicht in deiner Story sein?«
»Hab mir frei genommen« Rupert zog einen Zahnstocher aus der Tasche und schob ihn in seinen Mundwinkel. »Soll meine Autorin zusehen, wie sie klar kommt. Quasi Tarifstreik. Ich will mehr Anteile an der Story. Und ich mag nicht, wie sie mich darstellt.«
Die Musikbox startete erneut. Wieder: Words don’t come easy to me. Es war die einzige Platte, die noch anwählbar war.
»Wer is denn das?« sagte Rupert und sein Zahnstocher wanderte wie ein Richtungsanzeiger durch die geschlossenen Lippen, bis er in die Richtung eines Tisches in der anderen Ecke wies.
Dort saß allein eine kleine steife Person und schrieb unablässig Notizen auf einen Block. Dann riss er ein Blatt ab, warf es auf den Boden und schrieb sofort weiter. Die Seiten lagen für ein paar Sekunden neben dem Stuhl, dann lösten sie sich auf.
»Ein Chatbot«, sagte der Astronaut. »Hab versucht mit ihm zu reden, aber da kam nur Mist raus.«
»Ach?« Rupert schaute auf das Scrabblebrett, wo der Ork gerade ein W anlegte und Punkte notierte.
»Weiterbildung aus Eiterbildung. Respekt, Charlene!«
Der Ork grinste.
Das Ninja Mädchen legte ein P an ‚Flugzeug‘ an. »Fünfzehn Punkte!«
»Pflugzeug? Anne, das gibt es nicht«, sagte Charlene, die Ork.
»Das kommt auf den Kontext an«, insistierte die Ninja. »Oder etwa nicht, Rupi?«
»Macht das mal unter euch aus«, sagte Rupert. »Ich bin mal kurz wech. Bestellt mir mal nen doppelten Hemmingway.«
Er ging zu den Toiletten über denen ein großes Schild »Wor(l)ds end restroom – genderfreie Zone« hing. Daneben war ein Piktogramm mit hunderten von Figurensymbolen.
Charlene nutzte den kurzen Augenblick und fraß das P.
Erneut schwang die Tür auf. Ein Krokodil in Cowboystiefeln kam herein und schaute sich kurz um. Es ging direkt zu den Toiletten und verschwand. Sekunden vergingen, dann kam es wieder heraus, nahm sich ein Solei aus dem großen Glas auf dem Tresen, schüttelte kurz den Kopf und ging wieder.
»Suse?«, fragte der Astronaut.
»Suse!«, sagte die Ninja.

Rupert hastete aus der Toilette, bleich, wie Franki der Barmann.
»Ich muss los Leute!«, rief er kurz. »Arbeit! Kann ja die Story nicht hängen lassen…«
Dann rannte er aus der Bar.
»Mir fehlen die Worte«, sagte der Astronaut.
»Ich vermute Suse nicht mehr«, sagte die Ninja und legte ein K an ‚Luftschloss‘.


@Suse :joy:
Nur zu Deinem „ich habe“ Post.

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„Pathologische Neologismen mit Scrabble zu therapieren ist eine ausgezeichnete Strategie“, lobte Froid die Maltherapeutin.
„Das war aber meine Idee“, log der Logotherapeut.
„Egal“, beschwichtigte der Professor, „die Heilung vermittelt den Zweck.“

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