Mikrostories

Mikrostories sind Stories, die nicht länger als 300 Wörter sind. Sagt mein Schreibcoach. Die sollen Effizienz und Effektivität von Texten trainieren. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber irgendwie macht das Spaß und ich stell das hier mal als Challenge rein. Wer mag, kanns ja auch probieren. Hier ist meine:

Equal Play

Leonie legt den Ball genau auf den Elferpunkt. Sie geht sieben Schritte zurück und konzentriert sich auf ihren Atem. Langsam wandert ihr Blick die Flugbahn entlang, die sie plant. Ihr Herz pumpt Blut ins Gehirn.

Paul steht im Tor. Breitbeinige Hocke, Ellbögen knapp über den Oberschenkeln, die Fingerspitzen der Lederhandschuhe berühren sich fast. Die Muskeln am Schultergürtel sind gespannt, die der Beine ebenfalls. Sprungbereitschaft. Die ist immer da, egal wer da am Elfer steht. Es zählt der Ball, nicht wer ihn abschießt. Meistens halt. Aber das ist ein Mädchen.

Leonie mag Paul. Er ist hübsch. Manchmal auch nett. Wenn er nicht mit seinen Freunden abhängt. Dann wird er richtig blöd. Am Heimweg von der Schule hat er noch gesagt: „Ein Spiel des Mädchenteams gegen das der Jungen? Klar, warum nicht!" Aber als Tommi und die anderen da waren, machte er sich nur lustig darüber.

Paul denkt an Papa. Der hat nur gelacht, als er von der Idee hörte. „Blödsinn“, hat er gesagt. Und ob sie denn keine ernsthaften Gegner hätten.

Leonie spielt, seit sie acht ist. Also seit fünf Jahren. Es war das Nationalteam, das sie dazu brachte. Das der Frauen. „Geh!“, hat Mama gesagt, „Besser als Boxen.“ Das wäre die Alternative gewesen. Aber Fußball war die richtige Wahl. Auch wenn kein Sponsor gefunden wurde, der den Mädchen die Dressen kaufte, so wie den Jungs. Mama hat das dann gemacht.

Ja, war nicht meine Idee, denkt Paul, sondern die der Lehrer. Egal. Leonie mag er. Irgendwie. Auch dass sie Fußball spielt, mag er. Tommi würde er das nie sagen, der zuckt dann gleich aus. Darf er vielleicht auch, als Kapitän. Oder? Auch egal.

Noch einmal holt Leonie tief Luft, dann läuft sie los, legt ihr ganzes Gewicht in den Kick, der Ball fliegt.

Und Paul springt.

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Ich liebe diese Art zu schreiben. Kennengelernt habe ich sie in einem Literaturkreis, den ich einmal im Monat besuche. Dort läuft das ganze unter dem Titel „Impulse“. Ein Thema wird vorgegeben und man soll in 20 Minuten dazu eine kleine Geschichte schreiben. Für das folgende Beispiel erhielten wir drei Vorgaben: Sieben Jahre, in einer Großstadt und die Zahl 45. Das habe ich daraus gemacht:

Sieben Jahre

Er schaute aus dem Fenster. Er tat dies nicht oft, doch an guten Tagen wagte er es und fühlte sich danach, als habe er den Mount Everest erklommen. Sein Blick versank für einen Moment in den tiefen Schluchten der Stadt. Es war ein unbeschreibliches Hochgefühl. Dennoch brauchte er diesen Kick nicht häufiger. Denn er ging stets mit einer Beklommenheit einher, die ihm den Brustkorb zuschnürte. Sein Blick fiel auf den Kalender, den er auf seinem Computer ständig eingeblendet hatte, wenn er gerade nicht schrieb. Sieben Jahre! Heute war Jubiläum. Sieben Jahre seines Lebens hatte er keinen Fuß mehr über die Schwelle dieser vier Wände getan. Anfangs hielt er noch regelmäßigen Kontakt zu Freunden, Nachbarn oder seinem jüngeren Bruder. Doch nach und nach wurde es weniger, bis eines Tages sein Handy den Dienst quittierte. Er hatte keine Ahnung, ob es der Akku war oder irgendetwas anderes, aber es funktionierte nicht mehr. Seitdem lag es vergessen auf der alten Anrichte neben seinem Schreibtisch. Das Interesse an einer Reparatur hatte er längst verloren.

Was hatten diese sieben Jahre mit ihm gemacht. Ja, er schrieb. Mehr denn je. Wie unter einem Zwang. Doch niemand bekam seine Worte zu lesen. Niemand wusste, dass er schrieb, und es war ihm egal. Er las zum wiederholten Male die letzten Sätze auf dem weißen Display und ihm wurde erstmals bewusst, dass sieben Jahre Isolation eine lange Zeit waren. Er spürte, wie er die Verbindung zum Leben verloren hatte. Heute war sein 45. Geburtstag und der 7. Jahrestag, an dem niemand kam, niemand gratulierte, niemand ein Lied sang.

Das Leben hatte ihn vergessen.

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Ich habe letztes Jahr bei einem Wettbewerb mitgemacht. Die dortigen Mikrostories durften nicht länger als 500 Zeichen (!) sein.

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Eine schöne Übung für zwischendurch. Ich bin mir unsicherr mit dem Text. Er kam düsterer raus, als ich anfangs geplant hatte, aber manchmal müssen Dinge einfach raus, ohne sich groß einen Kopf darüber zu machen.


Freiheit

Es waren nur wenige Sekunden zwischen dem Aufheulen der Sirenen und dem Dröhnen der ersten Einschläge. Sie hatten uns gewarnt, über das Notfallprogramm im Fernsehen und im Radio. Doch wir hatten keine Zeit zu reagieren. Vielleicht waren wir auch einfach naiv genug zu hoffen, dass es nicht passieren würde.

Flugzeuge in der Luft, Panzer auf den Straßen und zwischendrin die Naiven, die wie Hühner mit abgeschlagenen Köpfen durch die zerklüfteten Straßen eilten. Ich war eine von ihnen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen habe ich es geschafft, aus der Stadt zu flüchten. Allein und nur mit meinem Rucksack ausgestattet, der den winzigen Funken Hoffnung zu überleben, aufrechterhielt.
Es dauerte einen schmerzhaft langen Moment, bis mir klar wurde, dass die Bedrohung nicht nur von den fremden Eindringlingen, sondern auch aus den eigenen Reihen kam. Gesetze und Moral gab es nicht mehr, und die Hoffnung, es zu schaffen, war längst mit meinem alten Leben gestorben.

Meine langen schwarzen Haare fielen einem Teppichmesser zum Opfer, und meine Figur hatte ich hinter weiten Klamotten versteckt. Blut und Dreck im Gesicht, um jeden weiblichen Zug zu überdecken, die Stimme tief gestellt, um mich nicht zu verraten. Das war die neue Realität, und niemandem zu vertrauen das einzige Motto, das mich am Leben erhielt.

„Du brauchst einen Mann, der dich beschützt“, sagte einmal jemand zu mir, bevor er mich im nächsten Moment nicht einmal vor sich selbst beschützen konnte. Er war nur einer von vielen auf meinem Weg, eine weitere Zahl in einer Statistik, die wir alle kannten und der Grund, weshalb ich nun hier auf den Klippen stehe und meine Zehenspitzen über den Rand halte.

Ich habe es geschafft vor einem Krieg zu flüchten, und doch werde ich nie sicher sein. Ein tiefer Atemzug füllt meine Lungen mit kalter, erdiger Luft.

Das Leben war schön.

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Boah. Gänsehaut am ganzen Körper. So realistisch.

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@Gschichtldrucker
Sehr lebendig geschriebene Szene. Ich fühle mich, als hätte ich mitgekickt. Kannte auch solche Jungs…

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Selbstbestimmung

Lange Beine, durchtrainiert, gebräunte Haut, leuchtende Augen, Grübchen um den verschmitzten Mund und einen Pferdeschwanz. Daher wurde sie von ihren wenigen Freunden Clara Soft genannt. Wenige? Ja. Weshalb? Weil sie anders war. Sie wollte nicht zum Jagen gezwungen werden. Und sicher nicht zum Fußballspielen oder Fan sein zu müssen. Hausfrau genügte ihr vollkommen. Weshalb schmälerte das ihren Wert?
Natürlich hatte sie Begabungen, war leistungswillig. Und eben dies setzte sie daheim ein. Jeden Tag. Ganztags. Am Wochenende; inklusive Nachtdienst.
Wenn sie Kinder hätte, wäre sie für ein paar Jahre auf der sicheren Seite. Aber nein … Nicht mal das. Aus Gründen.
Mit der Schwiegerfamilie war seit fünf Jahren Funkstille. Vorher hatte sie alles versucht. Gespräche, die keine waren, liebe Aufmerksamkeiten, Einladungen mit selbst gebackenen Plätzchen in Herzform, fünfgängige Menüs, aufwendige Geschenke für zehn Nichten und Neffen, gemeinsame Kinobesuche und Ausflüge ins Schwimmbad.
Doch sie wurde weiterhin nur an einem einzigen Punkt gemessen - bezahlte Arbeit.
Eines Tages erkrankte ihr Mann und erholte sich nur langsam. Deswegen zog sie los, bewarb sich in Supermärkten, Bäckereien, Boutiquen. Es dauerte nicht lange, Hilfskräfte waren willkommen und sie fing an. In der Mittagspause erfuhr sie von den männlichen Kollegen, dass ihr Einstiegsgehalt niedriger war als das von ihnen.
Am nächsten Tag saß Clara beim Chef, trug die Bitte um gleiche Bezahlung für dieselbe Arbeit vor. Der lächelte überlegen. „Wollen Sie arbeiten?“
Clara musterte ihn verwundert, stand auf, suchte einen neuen Job. Allerdings: Auch hier war die Vergütung geringer als die der Männer. Die Kolleginnen waren zu müde, um Gerechtigkeit einzufordern. Vielleicht weil sie daheim noch die Hausarbeit übernahmen? Clara fand sich damit ab, die Welt nicht zu verstehen, und war überglücklich, als ihr Superheld wieder obenauf war und sie sich wieder der Hausarbeit widmen durfte. Jetzt war ihr Leben wieder im grünen Bereich.

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Mich hat dein sehr emotionaler Text,den du sehr bildhaft geschrieben hast sehr berührt. Ich finde ihn Von A- Z sehr gelungen. Dickes Kompliment und danke dafür.

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Ich öffnete die Tür zur Umkleide.
An mehr erinnere ich mich nicht. Jetzt ist es dunkel. Bin ich wieder zu Hause? Aufgewacht aus einem Traum? Ich suche den schmalen Streifen Licht, der jede Nacht durch die Gardine blinzelt. Nichts.
Warum sehe ich nichts? Sind meine Augen geschlossen? Meine Finger tasten nach den Lidern.
Nein. Tun sie nicht. Sie sind nicht da.
Nichts ist mehr da.
Nur Dunkelheit und betäubende Stille und Gedanken in meinem Kopf.
Ein Gedanke.
Bin ich tot?
Vorher schlug mein Herz immer ganz schnell, wenn ich an den Tod dachte.
Es ist auch weg.
Aber ich denke.
Also bin ich.
Bin ich lebendig begraben?
Dunkelheit umschließt mich, wie ein schwarzer öliger See. Sie durchdringt mich, senkt sich auf mein Gesicht, erdrückt mich, erstickt mich.
Ich reiße den Mund auf, pumpe mit aller Kraft Luft in meine Lungen. Sie sind zum Bersten angefüllt und entladen sich in einem Schrei.
Geblendet schließe ich die Augen.
Ich sitze auf dem Boden in einer klebrigen Pfütze. Es riecht nach Eisen.
Plötzlich fällt mir wieder ein, was in der Umkleide passiert ist.

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Wahnsinn, wie gut ihr Frauen schreiben könnt.
Ich bin völlig sprachlos. Beschämt und begeistert zugleich.

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Das erste Mal begegnete sie ihm in der Johanniskirche. Er war gerade beim Studium eines alten Manuskriptes in lateinischer Sprache. Diese Aufgabe hatte er von Michael erhalten. Er stand an einem Holzpult nahe an der Wand,er brauchte das Fensterlicht. Vertieft in den Text hatte er keine Ohren für die Nebengeräusche des Tages. Er hörte nicht, wie sich die Seitentür öffnete. Seine Augen registrierten aber das Licht. Instinktiv schaute er auf. Im Augenwinkel, nur als Schatten, sah er sie. Blitzschnell huschte sie hinein, um gleich unter einer Kirchenbank zu verschwinden.
Er räusperte sich hörbar und sprach leise:
„Da werden sie dich finden. Da schauen sie als Erstes. Mein Rat lautet, versteck dich hinter dem Fastentuch, da trauen sie sich nicht hin. Links neben dem Altar ist eine kleine Nische.”
Wie eine Maus huschte der Schatten hinter das große Laken,welches den Altar verhüllte. Es dauerte nur kurz und die Wellen, die das Tuch bauschten waren verebbt. Er hörte sie schon, bevor sie das Gotteshaus betraten. Soldaten können nie leise sein. Gestüm traten sie ein. Zwei Stadtwächter auf der Jagd nach einem Mädchen. Diese Stadt ist ein Narrenhaus. Langsam, aber nicht unauffällig, schritten sie die Bankreihen ab. Suchende Blicke. Jetzt erst räusperte er sich das zweite Mal.
„Gott zum Gruße, die Herren. Kann ich Ihnen zu Diensten sein?”
Eine Scherge blickte ihm tief und böse in die Augen.
„Wo hat sie sich versteckt?”
„Ihr seid in einem Gotteshaus, die Wahrheit liegt nirgends auf der Welt offener vor einem, als an diesem heiligen Ort.”
Der Soldat trat näher.
„Hast du sie gesehen?”
Er antwortete nur:
„Nein, dafür bin ich nicht gläubig genug, ich bete aber jeden Abend zu ihr.”
Mürrisch verließen die Wächter das Gotteshaus durch das Hauptportal.
Er hörte die Maus, das war noch zu früh.
„Bleib, wo du bist, die kommen wieder.”

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Nie zuvor hatte sie eine Leiche gesehen. Der Anblick war seltsam entrückt, doch zugleich schonungslos real. Gänzlich anders als im Film oder ihrer Vorstellung. Der Unterkiefer der jungen Frau schmerzte im krampfhaften Versuch, das Zähneklappern zu unterdrücken, doch den Rest ihres zierlichen, fast noch kindlichen Körpers hatte sie nicht unter Kontrolle. Wie Ebbe und Flut liefen wiederkehrende Wellen des Bebens durch sie hindurch. Schock im Doppelpack.

Am Spülsaum hatte die Spurensicherung ein Areal mit Flatterband abgesteckt. Im Zentrum knatterte ein weißes Zeltdach im Wind. Darunter lag die weihnachtliche Bescherung: eine Frau und ein Mann. Beide nicht mehr jung, beide unbekleidet und durch etwas Rotes an jeweils einem Handgelenk miteinander verbunden. Bis dass der Tod, nicht das Wasser, sie geschieden hatte. Das eisige Dezembermeer hatte sie gnädig konserviert und ihre blaugraue Haut sah aus wie die eines aufgetauten Hühnchens. Gewaltsam muss ihr Tod gewesen sein, doch ob Fremdverschulden, ein Verbrechen, vorlag, bedurfte routinierter Ermittlungsarbeit.

Die sichtlich erschütterte Studentin hatte die Toten am späten Morgen nach der Flut gefunden und bezeugt, dass sie den beiden netten Senioren erst gestern eine Schlüsselkarte für den angemieteten Strandbungalow ausgehändigt hatte. Aber sie würde niemals verraten, dass sie dem Paar auf Wunsch ein starkes Barbiturat und eine Rolle rotes Geschenkband besorgt hatte. Scherereien mit der Polizei konnte sie in ihrem Ferienjob wirklich nicht gebrauchen. Außerdem hatte sie es geschworen. Auf Ehre und Gewissen. Und sechshundert Euro bar auf die Hand.

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