So geht das nicht, Leute, das kann ich nicht so stehen lassen. Der arme Matthäi, lebend in einem Pestsarg auf dem Weg ins Ungewisse - nein. Daher nun doch noch ein letztes Stück, womit ich dann aber das erste Kapitel eines völlig ungeplanten, spontanen Romanes (welches Genres auch immer) mit dem vorläufigen Arbeitstitel Die Geschichte des Schreibers beende. Ohne Garantie, ob und wann und wenn, wie sie weitergehen wird. (Bis jetzt hat es allerdings großen Spaß gemacht.)
Noch ein Wort zur Sprache darin, die schon recht auffällig, um nicht zu sagen manieriert gehalten ist: Das ist reine Absicht. Zum einen, weil ich mich aus meinem üblichen Gemisch aus sarkastischem Slang und wissenschaftlichem Gewäsch entfernen wollte, zum anderen aber auch, weil ich dachte, damit diese mittelalterliche Stimmung in die Story bringen zu können. Sagt mir, ob das gelungen ist, oder doch nur - vor allem im kursiven Teil (den Brief, den Miriam an Matthäi schreibt) - zu übertrieben rüberkommt. Danke euch allen. Und hier nun der Text:
Der Karren holperte über das schlechte Pflaster der Suburbia und rüttelte mich in meiner Kiste ordentlich durcheinander. Mein ganzer Körper schmerzte, fast so sehr wie meine Seele, die in Sorge um Miriam und die Kinder war. Welchen Weg sie wohl aus der Stadt genommen hatten mit dieser fremden Frau, die an Blutdurst, schien es, den Wachen nicht im Geringsten ferne stand? Und welchen Weg wohl Gebhart Stahl mit seiner Fracht nahm? Ich wusste es ein wenig später, als jemand gegen meinen Sarg schlug und meinen Kutscher fragte: »Wohin des Weges, Leichenhans?«
»Wohin wohl wird die Fracht auf meinem Karren gehen?«, fragte Stahl zurück. Seine Stimme unter der Krähenmaske hörte sich seltsam heiser an. »Oder willst du erst kontrollieren, ob sich in diesen Särgen das befindet, was du denkst?«
In diesen Särgen?, dachte ich. Ach ja, er hatte noch eine der schwarzen Kisten aufgeladen, als ich schon in der meinen lag. Darin hatte er seine Waffen und das Sattelzeug der falben Stute versteckt, wie er mir gestand, als ich ihn danach fragte.
»Nein, kein Bedarf«, lachte die raue Stimme des Fragenden. Und dann: »Öffnet die Schranken zu der Brücke. Der Tod will zu den Toten!«
Die Brücke also. Stahl brachte seine Fracht nach Norden in den Bezirk der Irren und Aussätzigen. Dort lagen die Pestgruben, klar, wohin auch sonst. Ich hörte das Knarren des Schranken, Rufen, Klirren von Eisen, dann setzte sich die falbe Stute in Bewegung und zog uns auf die Brücke, die letzte über den Griseos, die noch stand. Alle anderen waren abgetragen worden, als die Ruus vor den Toren standen, so dass der Fluss die letzte Barriere war, vor der die Feinde Reichsburgs im großen Krieg, kurz vor dem Umbruch, zum Stehen kamen. Die Steppenvölker misstrauten dem reißenden Wasser, das es in ihrer Heimat nur selten gab und die Kunst, Boote zu bauen und damit überzusetzen, beherrschten sie nicht. Später wurde viel darüber im Senat gesprochen, die Brücken wieder aufzubauen, doch schließlich entschied man sich dafür, es nur bei einer zu belassen. Als die Seuchen kamen, erst die Lepra, dann die Cholera und zu schlechter letzt der massenhafte Wahnsinn, den die Kriegstränke verursachten, die man den Soldaten gab, damit sie ihre Angst verlieren, da brachte man alle Kranken an das andere Ufer und konnte durch diese eine Brücke nun sicher sein, dass sie nicht mehr in die Stadt zurückkamen. Der Vogt verlieh sich selbst für diese Tat dann einen Orden.
Auf der anderen Seite gab es keinen Schranken und wir passierten, ohne weiter aufgehalten zu werden, die Uferböschung. Durch die Ritzen zwischen den Brettern drang Licht in meinen Sarg, tröstete mich aber nicht. Ich wollte endlich raus hier. So schlecht konnte die Luft da draußen nicht sein, als dass ich weiterhin in dieser Enge bleiben wollte.
Endlich hielt Stahl an und stieg ab. Mit seinem Dolch zwängte er den vernagelten Sargdeckel auf (»Wir müssen glaubhaft bleiben, Schreiber!«, hatte er noch grinsend meine Bedenken fortgewischt) und ich kletterte heraus.
Wir standen in einem Pappelwäldchen nahe am Ufer, die Sonne war im Zenit und irgendwo über uns schrie ein Bussard. Stahl hielt mir den Wasserschlauch hin. Ich trank erst, dann wusch ich mir den Schweiß aus dem Gesicht.
»Verschwende nicht zuviel«, mahnte er ein, »das Wasser des Griseos ist nicht trinkbar.«
»Ich weiß«, sagte ich. Das Gift, das Reichsburgs Soldaten in den Boden legten, damit die Ruus daran verrecken sollten, als sie die Stadt belagerten, sonderte sich seit Kriegsende vor mehr als zwanzig Jahren unvermindert in den Fluss ab. Wie die Bewohner der Nordstadt hier dennoch überleben konnten, war allen ein Rätsel.
Stahl hatte nun auch die andere Kiste geöffnet und einen Ranzen hervorgeholt. Er hielt mir einen Fladen Weißbrot hin und ein Stück Käse. Ich nahm es dankbar an.
»Haben mein Weibund meine Kinder auch diesen Weg genommen?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete mein Begleiter, »sie sind durchs Westtor raus.«
»Durchs Westtor? Dann mussten sie ja durch die Oberstadt! Quer durch das Villenviertel von den Reichen. Seid Ihr verrückt?«
»Nein gar nicht«, grinste er, »Wenn du was verstecken willst, dann stell es auf den Domplatz. Dort sieht es keiner jemals an!«
»Der Satz ist nicht von euch«, bemerkte ich.
»Ich weiß, Matthäi. Dein Vater sagte solches. Und traf damit die Sache auf den Punkt.«
»Dennoch, Gebhart Stahl. Mag man auch Miriam und die Kinder übersehen, die Kriegerin, die sie begleitet, wird dort auffallen, glaubt Ihr nicht? Ein Weib in Waffen – wie hieß sie doch gleich?«
»Antinome«, antworte er knapp.
»Antinome. Ein Name aus der alten Sprache. Wisst ihr, was er bedeutet?«
»Die gegen die Regeln verstößt.«
»Ein Henker, der die alten Sprachen kennt. Ihr überrascht mich.«
»Nicht alle alten Sprachen. Und nicht so gut wie Markus Weissblatt und sein Sohn! Doch du unterschätzt Antinome. Sie kann nicht nur mit Waffen umgehen. Und sie ist keine blindwütige Mörderin.«
Ein plötzliches Knacken im Unterholz riss uns aus dem Gespräch. Ich fuhr herum und sah einen Mann aus dem Unterholz treten, eine Axt über der Schulter. An seiner Seite ein Junge, der ein Bündel Reisig trug, im Alter meines Sohnes, und ein hässlicher Hund, der sofort zu knurren begann, als er uns sah. Stahl schob den Deckel des zweiten Sarges zur Seite und griff nach seinem Schwert. Der Mann blieb stehen, ein Zischen aus seinem Mundwinkel brachte die Töle zum Schweigen. Langsam kamen die beiden auf uns zu.
»Ihr seid nicht von hier!«, war das Erste, was der Mann sagte.
»Sind wir nicht, stimmt«, antwortete Stahl, »Wir kommen aus der Stadt jenseits des Flusses.«
»Ihr seht aber nicht aus, als stündet ihr im Sold des Magistrates!«
»Tun wir auch nicht. Wir sind nur auf der Durchreise.«
»Mit zwei Särgen, soso«, bemerkte der Mann, setzte die Axt ab und stützte sich darauf. Erst jetzt fiel mir auf, dass sein linker Ärmel lose von der Schulter hing. »Die Pestgruben sind in der anderen Richtung« fügte er hinzu.
»Wir wollen aber nach Westen«, sagte Stahl. Der Fremde nickte. Sein Sohn sah auf das Brot in meiner Hand, hungrigen Blickes. Ich hielt es ihm hin. Er sah erst zu seinem Vater, dann nahm er es. Als er danach griff, merkte ich, dass ihm Daumen und drei Finger fehlten. Am Handgelenk und Unterarm hatten sich dicke rotbraune Geschwüre gebildet. Er hatte die Lepra. Unwillkürlich zuckte ich zurück. Auch er trat einen Schritt nach hinten und ass gierig das Brot. Wie gerne hätte ich ihn jetzt an den Tisch des Stadtvogts gesetzt, damit er sich von dessen Obst bedienen könnte.
Stahl hielt dem Mann den Wasserschlauch hin, doch der lehnte ab. Er hatte Durst, man sah es ihm an, aber wir fragten nicht, warum er das Wasser verweigerte. Ich ahnte es dennoch und schämte mich und wusste nicht wofür.
»Haltet euch im Schatten«, sagte er, »man kann nie wissen, wer sich hier herumtreibt.« Dann schulterte er seine Axt und ging, sein Sohn und der Hund folgten ihm.
Was wir dann auch taten, uns im Schatten zu halten. Zumindest über die Mittagszeit, hatte Stahl das beschlossen. Der Mann mit der Axt habe recht, es sei zu gefährlich, tagsüber zu reisen, man könne niemand trauen. Dass es in der Nacht nicht minder gefährlich sei, wie ich einwendete, ignorierte er und machte sich schweigend daran, das Pferd vom Karren abzuschirren und aufzusatteln, denn auch den Wagen wollte er nicht mehr benutzen. Ich bot ihm meine Hilfe an, doch er lächelte nur müde. Etwas wie Trauer schien sich in ihm breitgemacht zu haben.
Ich setzte mich in den Schatten einer Pappel und schlief ein. Doch mein Schlaf war nicht erholsam, denn ein böser Traum suchte mich heim. Huldbrandt hielt mich in seinem Verlies gefangen, schnitt meine Finger Glied für Glied ab und verfütterte sie an den Raben des Stadtvogts, während Miriam und die Kinder in dem Vogelbauer eingesperrt waren und dabei zusehen mussten. Schreiend wachte ich auf und sah Stahl vor mir, der mir eine Flasche Schnaps hinhielt. Ich lehnte ab.
»Nun laß uns weiterziehen«, sagt er, »wir haben heut noch einen langen Marsch vor uns.«
»Wohin?«, fragte ich.
»Nach Westen, den Fluss hinauf. Noch gute dreissig Meilen. Dann setzen wir ans andre Ufer über und kommen direkt in den Finsterwald.«
Mir war nicht wohl bei dem Gedanken an den sagenumwobenen Urwald, der sich von der westlichen Stadtgrenze aus zweihundert Meilen ins Unbekannte zog. Stahl erriet meine Ängste und lachte. »Ja, Matthäi, es gibt dort jede Menge wilde Tiere, Räuber auch und Hexen und vielerlei Gefahr, doch halte dir vor Augen: Wir werden deine Frau und deine Kinder dort wiedersehen. Und deinen Vater.«
»Und dann?«, fragte ich. Er gab mir keine Antwort.
Als ich mich erhob, schoss mir ein heisser Schmerz durch meinen linken Fuß und ich schrie auf. Stahl kam und zog mir den Schuh aus, eine tiefe Wunde, die ich mir bei einem meiner Stürze auf der Flucht aus dem Palast zugezogen hatte, schwärte dort. Stahl ging zu seinem Packzeug und holte eine Salbe, die er mir auftrug und die brannte wie Feuer. »Setz dich aufs Pferd«, bot er mir an, »ich laufe.«
»Zu zweit geht nicht?«, fragte ich.
»Nur wenn du es zu Tode schinden willst«, lautete seine Antwort.
Matthäi, mein geliebter Mann!
Wo immer du auch sein magst jetzt, wisse, ich bin dir dankbar, dass du mich schreiben lehrtest. Denn bist du auch nicht bei mir in dieser schweren Stunde, um mich zu trösten, mich zu halten oder dich von mir zumindest schelten zu lassen, so kann ich wenigstens auf dem Papier, dass ich aus deinem Schreibtisch mitnahm, dir schildern, wie es uns erging, seit dich die Büttel holten. Ich kenne nicht den Ort, an dem du dich gerad befindest, und es ist ungewiss, ob wir uns jemals wiedersehen, so tröstet mich doch jene Tinte, mit der ich dir dies schreibe.
Ich hoffe nur, dass du der Strengen Kammer noch entkommen konntest, dass Stahl dich fand und dich an jenen Ort bringt, zu dem uns auch die Frau führt, die mich und unsre Kinder vor der Wache Willkür schützte. Ach diese Frau, Antinome, was heißt hier Frau, ich bin mir nicht gewiss, ob sie ein Mensch ist oder ein Dämon. Wie eine Furie sprang sie in unsre Kemenate, als mich die Büttel nehmen wollten, und metzelte sie alle hin. Noch eh aus ihren Kehlen ein Schrei entfleuchen konnte, spritzte ihr Blut daraus – ich hoffe doch, du hast das alles nicht gesehen. Ich hielt den Mädchen noch die Augen zu, Lukas jedoch war baß erstaunt. »So will ich einmal kämpfen können«, sprach der Knabe heut zu ihr, und sie: »Du lerne schreiben, Sohn des Schreibers, das Töten ist dein Handwerk nicht und auch nicht jenes deines Vaters!«
Nun haben wir das Westtor schon passiert. In Fässern gut versteckt auf einem Karren, stell dir vor. Nur ich und Lukas, die Mädchen sassen auf dem Bock neben Antinome, die sich als Bäuerin verkleidete. Und als die Wächter an dem Tore wissen wollten, was sie da transportiere, sagte sie nur: »Jauche!« Ich musste an mir halten, dass ich nicht lauthals lachte, in meinem Fass. Sie ließen uns passieren, als wäre nichts an diesem Morgen je geschehen, was von Belang gewesen wäre.
Die Stadt liegt hinter uns, entschwindet langsam in den Nebeln und vor uns steht der Finsterwald. Ich habe Angst. Um dich mehr als um mich und unsre Kinder. Was wollen diese Menschen bloß von dir – der Vogt, die Wachen, Stahl? Und stimmt es, was Antinome mir sagte – dein Vater lebt?
Ach Matthäi, was soll aus uns nur werden, was haben bloß die Götter mit uns vor? Und wann werde ich dich wiedersehen? Pass bitte auf dich auf! Den Brief hier, den bewahre ich für dich. Und täglich will ich einen Neuen schreiben, bis ich dich alle selber lesen sehe, in meinem Schoß. Du fehlst mir so, geliebter Narr.
Ich harre deiner fürderhin. In Liebe und in brennender Geduld.
Miriam, dein treues Weib.