Die 11. Weihnachtswoche von Seitenwind

Frohe Weihnachten, Rabenvater!

Jan war tiefgefroren. Sein Atem ließ kleine Eiskristalle an seinem Vollbart wachsen und auch die Haare hatten Reif angesetzt. Heute kamen keine Kunden mehr und es standen auch nur noch zwei unansehnliche Exemplare von Weihnachtsbäumen auf dem Gelände. Es war der 24.12. und sein Job vor dem Discounter war mit Ladenschluss endlich zu Ende.

Der Schotter spritzte, als ein Volvo in scharfer Kurve auf den Parkplatz einbog.

„He, haben Sie noch geöffnet?“ rief der Fahrer aus der halbgeöffneten Autotür bei laufendem Motor. Er stieg aus und musterte das mit dem Bauzaun umfriedete Gelände.

„Oh, ist ja kaum noch was da", war der zweite Satz mit Erkenntnis, dass die Auswahl an Weihnachtsbäumen sehr schlicht war.

Jan ärgerte sich über den Mann, der in seinen Augen ein Blödmann war. Wie kann man so verpeilt sein, Heiligabend kurz vor 14:00 Uhr noch einen Weihnachtsbaum kaufen zu wollen. Sein Geschäft war schon seit vier Wochen geöffnet, ein großes Banner hing über der Straße, das auf den Verkauf hinwies und so ein Baum war schließlich keine verderbliche Ware.

„50 Euro pro Stück, Sonderpreis“, sagte er, fest entschlossen, den Mann nicht so leicht davonkommen zu lassen, der ihn an seinem Feierabend hinderte.

„Was? Für diese Gerippe?“, protestierte der Mann, der ihn konsterniert ansah. Jan konterte: „Sehen Sie es als Schmerzensgeld, mir frieren gerade die Finger ab. Sie können es auch bleiben lassen, mir ist das egal.“

„Sie haben wohl keine Kinder“, maulte der späte Kunde, „die werden traurig sein, wenn ich keinen Baum stelle.“

Schließlich handelte er Jan auf 40 Euro runter und suchte in seinem Portemonnaie nach Geld. „Oh, ich habe kein Bargeld mehr, nehmen sie auch EC-Karte?“

Jan verdrehte die Augen. „Am Ende dieser Straße ist eine Sparkasse, da können Sie Geld abheben, aber ich weiß nicht, ob ich dann noch da bin, ich packe jetzt zusammen, also beeilen Sie sich.“

Der Kunde sprintete davon, während Jan die letzten Werkzeuge in seinen Transporter lud.

Jan besah die letzte beiden Weihnachtsbäume und band sie mit Kabelbinder zusammen. Jetzt sah das Gebinde nach einem anständigen Weihnachtsbaum aus. Er war doch ein Weichei, wenn es um Kinder ging, Die konnten ja nichts dafür. Zufrieden stellte er den Baum vor den Bauzaun und murmelte: „Frohe Weihnachten, Rabenvater!“

Bekannter Text in weihnachtlichem Gewand

Von Talern und von der Liebe

Es war Heiligabend. Lange hatte er es aufgeschoben. Jetzt musste er die Zähne zusammenbeißen. Das Sparschwein gab mit kühlem Klirren drei Münzen frei. Tom steckte sie seufzend ein, warf sich die Jacke um, zog die Skaterschuhe an und los ging es. Im Ort gab es nur ein kleines Kaufhaus, in dem zu dieser Tageszeit am Heiligabend noch Hochbetrieb war. Da waren sie, die Last-Minute-Geschenkekäufer. Tom schaute sich mit gerümpfter Nase um. Die hatten entweder vorher keine Zeit, weil sie selbst zu wichtig waren, oder nahmen Weihnachten nicht so wichtig. Es waren - samt ihm - nur die innerlich und äußerlich Gestressten unterwegs. Total verirrte Gestalten. Familienväter, die leider wenig zu Hause bei der Familie waren, immer unterwegs, sie waren ja woanders so wichtig. Übermütter, die noch das i-Tüpfelchen eines Geschenks in letzter Minute kaufen wollten, weil sie ein schlechtes Gewissen den Kids gegenüber und etwas Angst hatten, dass die Kinder mit der bisherigen Geschenkeauswahl unzufrieden sein könnten. Männer, die aus Ideenlosigkeit doch wieder in der Parfümerie standen und den ewig gleichen Duft einer ehemaligen Kollegin kauften, weil er vor 20 Jahren einmal bei der Ehefrau gut ankam und die Kollegin damals so gut damit roch. Und Teens, die ihr letztes Taschengeld zusammenkratzten, die noch etwas Besonderes für ihre Eltern suchen wollten, weil sie bis jetzt nur etwas Gebasteltes hatten oder sie noch gar nicht an ihre Geschwister gedacht hatten und die Läden ja bald schließen würden. Sie alle regten Tom auf. Es kochte in ihm hoch.

In die teuren Abteilungen brauchte er gar nicht vorzudringen. Er ließ sich eine Pralinenmischung zusammenstellen. „Dann noch eine mit Erdbeercrisp und eine Nuss-Nougat und die weiße mit Cornflakes und Beere.“ beendete Tom die bunte Bestellung. Er konnte sich kaum sattsehen an der Auswahl. Doch als die Verkäuferin den Preis der Schachtel nannte, wurde ihm schwindelig. Nicht einmal die Pralinen würde er bezahlen können. Seine Knie wurden weich, er entschuldigte sich, nuschelte, er habe wohl etwas in der Parfümerie liegenlassen, und huschte davon.

Von der Flut der Lichter und Angebote paralysiert und gleichzeitig den Tränen nahe, setzte er sich vor einen goldumrandeten Spiegel und versuchte nachzudenken, was er nun unternehmen sollte. Er wollte seine Mutter unbedingt glücklich machen, wenigstens an Weihnachten, hatte aber nur die paar Euro zur Verfügung.

Wie er so nachdachte, zwinkerte ihm der Weihnachtsmann im Spiegel zu. Tom drehte sich um. Ein Pappaufsteller zeigte einen weißbärtigen Weihnachtsmann, der mit Geschenkesack und Rentier für die Werbung posierte. Tom rieb sich die Augen. Ein Tagtraum, dachte er. Als er wieder in den Spiegel blickte, wurde er geblendet. Aus den Massen schob sich ein Mädchen wie aus Gold zielsicher zu ihm durch. Sie sah bezaubernd aus, von ihr ging ein Leuchten aus. Tom merkte nicht, wie er sie anstarrte. Ihr Kleid schien aus Leinen mit Goldfäden zersetzt zu sein. „Hallo, hallo, ich bräuchte Hilfe.“ sprach sie ihn an, während sie an ihrer Halskette nestelte. Er war so überrascht, dass sich seine Stimme überschlug: „Na-Na-natürlich, wie kann ich helfen?“ er vermutete, dass sie das Kaufhaus-Christkind oder etwas in der Art war. „Ich muss zurück nach Hause, aber…mein Amulett ist leer. Ohne die richtige Energie kann ich nicht zurück. Ich habe mich quasi…verlaufen.“

Tom starrte auf das Amulett. Es sah nicht so aus, als ob es in irgendeiner Weise mit Strom aufzuladen wäre. Ein roter ovaler Stein umfasst mit Schnörkeln, gedrehtem Silberdraht und kleinen Diamanten, die wiederum in Silber umfasst waren, das vom Alter schwarze Kanten hatte. „Wow, tolles Amulett. Aber wie kann man es aufladen?“ „Vielleicht ein Spaziergang an der frischen Luft?“ schlug das Mödchen vor. „Oh, ich vermute, dass die Kälte vielleicht kontraproduktiv wäre, wenn es entladen ist?“ dachte Tom laut nach. Dann fügte er hinzu „Aber wenn es hilft, ja, gehen wir. Hier ist es mir sowieso zu voll“. Dabei machte sein Herz einen Sprung. Er war schockverliebt.

Draußen angelangt, atmeten beide durch. „Du siehst nicht aus, als wärst du von hier.“ „Ja, das hab ich doch gemeint.“ lachte sie. „Jetzt erzähl mir eine Sache, warum warst du denn da drin?“ „Naja, aus dem Grund, warum alle dort drin sind. Sie suchen Geschenke für Weihnachten. Ich suchte eines für meine Mutter, aber das Geld reicht nicht. Wir sind allein, seit Papa verunglückt ist vor zwei Jahren. Und ich wollte wenigstens irgendwas kaufen für sie. Wenn ich ihr sonst so viel Stress mache….“ „Das tut mir leid. Auch das mit dem Geld.“ das Amulett fing an zu flackern. „Oh, geht es wieder?“ „Es ist auf jeden Fall…auf Empfang…“ grinste das Mädchen. „Erzähl mir mehr von deiner Mutter“ „Naja, wir haben uns in letzter Zeit oft gestritten und ich hab so viel Mist gebaut. Aber ich will das nicht. Ich hab sie doch lieb“. Er fühlte, dass seinem Herz beim Erzählen eine Schwere genommen wurde. War das Mädchen vielleicht eine Art Engel?

„Verstehe. Du machst eine schwierige Zeit durch. Du liebst deine Mutter sehr.“ Das Amulett leuchtete inzwischen. Tom sah dem Mädchen in die Augen. Sie hatte eine sonderbare Art zu sprechen, mit so viel Bedacht und Herz. Sie blickte ihn an und er wusste, dass dies ein Augenblick war, der sich zwischen ihren Seelen abspielte. Ein Augenblick, der sich vielleicht sogar in der Ewigkeit abspielte und nicht im Hier und Jetzt. „Ich kenne deinen Namen noch nicht mal, aber du scheinst mich gerade zu verstehen wie noch nie jemand zuvor.“
Das blondgelockte Mädchen ergriff seine Hand und umarmte Tom, der nun ganz von der Rolle war.
Es wurde derart warm um sein Herz, dass er eine unbändige Energie in jeder Pore seines Körpers ausgehend von seinem Herzen spüren konnte. Alles was vorher festsaß, alle Sorgen und Ängste, alle Trauer, Minderwertigkeitsgefühle, schlechtes Gewissen und Zweifel wurden wie Ketten, die bislang um sein Herz waren aufgebrochen. Tränen kamen und rollten sanft sein Gesicht entlang. Ein kurzer Moment, der ewig dauerte.
„Danke.“ brachte er nur hervor. Tom bemerkte das Glühen des Amuletts, das nun in allen Farben strahlte. „Es…ist aufgeladen?“ „Ja, danke!“ jubelte sie. „Ich kann zurückkehren. Meine Aufgabe ist auch fast erfüllt.“ sagte sie und gab ihm ein Säckchen Geld.

„Wohin wirst du gehen?“ fragte er sie. Doch sie verschwand am nächsten parkenden Auto, der Spiegel blitzte grell im Sonnenlicht und sie war plötzlich weg.
„Ein Engel…oder ein Geist der Weihnacht?“ dachte Tom und schüttelte immer wieder den Kopf.
Mit Liebe aufgefüllt ging er und holte die Pralinen ab. Beim Blick in das gefüllte Säckchen lächelte er. „Und für den Rest gehe ich mit Mama essen. Und… bezahle die offenen Rechnungen.“ Als er hineingriff kamen immer mehr Münzen, es wollte kein Ende nehmen. „Und… wer weiß was noch alles!,“ rief er laut, sodass sich Passanten nach ihm umdrehten.
Er rannte, schnell wie ein Dieb, nach Hause, aufgeladen mit dem Geist der Weihnacht der ursprünglichsten Art: Nächstenliebe. Irgendwie musste er an das Märchen vom Mädchen mit den Sterntalern denken.

Der Denker

Doktor Karoshi saß in seinem Büro und suchte den Fehler. Irgendetwas stimmte nicht mit den letzten Berechnungen und es war nicht die Programmierung. Aber Denken hilft, davon war er überzeugt.
Gestern hatte er bereits den ganzen Tag die Gleichungen und ihre Randbedingungen durchgesehen, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Schon seit sieben Uhr früh war er nun erneut dran.
Das Handy bimmelte kurz und Karoshi schaute gedankenverloren darauf: seine Frau hatte eine Nachricht gesendet. Er ächzte und schob den Apparat zur Seite. Nein, nein, das hielt ihn nur ab vom Denken.
Später kam der Doktor vom Mittagessen, legte das Paper, das er nebenbei gelesen hatte, auf den Schreibtisch und bemerkte, dass sein Handy blinkte. Zwei neue Nachrichten von seiner Frau. Schon wieder! Doch er würde sich nicht ablenken lassen. Das Telefon verschwand in einer Schublade des Schreibtischs.
Nur aufs äußerste konzentriert würde er in der Lage sein, das Problem zu lösen. Er dachte weiter nach.
Zwei Stunden später klingelte das Ding langanhaltend. Erneut seine Frau! Karoshi schüttelte den Kopf und verließ das Büro. Manchmal war es ganz gut, einen kleinen Spaziergang zu machen, um die Gedanken zu ordnen. Ja, Denken hilft, ganz sicher!
In den Nachbarbüros war alles dunkel. Die anderen waren schon gegangen, was ihn dann doch etwas wunderte. Normalerweise war hier mindestens bis 19 Uhr kein Mangel an rauchenden Köpfen.
Das Tablet immer vor sich, schaute er auf seine Notizen und Fragen, während er durch die Flure taperte.
In den nächsten zwei Stunden im Büro probierte er erneut dies und das, kritzelte seine Gedanken ins Gerät und bekam noch immer keine kohärenten Ergebnisse. Denken, denken, denken! – trieb er sich selber an.
Wieder kam eine Nachricht auf dem Handy und dann klingelte sogar das Festnetztelefon – mit der Nummer von zuhause. Er hob nicht ab.
Nach dem nächsten Kaffee atmete Karoshi ein paarmal tief durch und plötzlich, ja, da kam ihm ein Gedanke! Das Bild einer grünen Nordmanntanne!
Wie vom Blitz getroffen setzte er sich aufrecht hin. Er griff nach dem Handy, sein Herz pochte, und in diesem Moment kam erneut eine Nachricht. Diesmal las er sie.
Sitzen jetzt im wohnzimmer mit deinen eltern und machen bescherung. Falls du noch nachkommen möchtest.
Bescherung? Bescherung! Er schaute zum Digitalwecker auf seinem Schreibtisch. „24.12.“ war dort zu lesen. Na klar!
Er musste grinsen. Jetzt hatte er endlich noch einen guten Gedanken gehabt!
„Raus hier und nach Hause!“ sagte er lachend zu sich selbst.
„Ich hab‘ doch heute frei!“

Heiligabend 1961

»Was hast du jetzt schon wieder angestellt?« Die Stimme meiner Frau klingt besorgt, hat aber auch diesen leichten Unterton, den ich im Laufe unserer langen Ehe als bedrohlich bezeichnet habe.
»Nichts«, erwidere ich schnell. »Mir ist nur einer von diesen verdammten Kartons runtergefallen. Hier oben ist aber auch alles vollgepackt. Wenn wir nicht bald mal …«
»Die Weihnachtskugeln sind nicht auf dem Schrank, sondern im Schrank. Das habe ich dir doch gesagt. Warum hast du dir diese teuren Hörgeräte gekauft, wenn du sie doch nicht trägst?« Eine Frage, die durchaus berechtigt ist und auf die ich selbst keine Antwort weiß.
»Schon gut. Ich hab’s gleich.«
»Wir müssen in einer Stunde los, sonst kommen wir mal wieder nicht pünktlich. Du kannst unseren Enkeln dann erklären, warum sich der Weihnachtsmann verspätet.«
Ich seufze und räume die aus dem Karton gefallenen Sachen wieder ein. Warum verwahrt man diesen ganzen Krimskram nur? Irgendwann wirft man ihn sowieso weg. Ich nehme den Karton mit dem alten Weihnachtsschmuck aus dem Schrank und stelle ihn zu den anderen Sachen, die noch ins Auto geräumt werden müssen. Mein Blick fällt auf ein Stück Papier, das unter dem Tisch liegt. Das muss aus dem heruntergefallenen Karton stammen. Ich hebe es auf und betrachte es. Es ist dreimal gefaltet und aus dickem Papier. Bevor ich es auseinanderfalte, gehe ich hinüber zum Sessel und setze mich. Eine kleine Pause wird mir guttun.
Das Papier ist alt und die Falzstellen sind stark aufgeraut. Noch bevor ich es aufgefaltet habe, weiß ich, was es ist. Der Bogen stammt aus einem Malblock, wie wir ihn in der Schule benutzten. In der ungelenken Handschrift eines Kindes steht dort mit rotem Buntstift geschrieben ›mein Wunschzetell Weinachten 1961‹. Es folgt nur eine weitere Zeile, nur ein Wunsch: ›1 groose Tahfel Schockolahde‹.
Ich schließe meine Augen. Weihnachten 1961 war das erste Weihnachtsfest, das wir in unserer neuen Wohnung verbrachten. Vorher hatten wir fast ein Jahr lang bei meinen Großeltern gewohnt. Eine Baracke mit zwei Zimmern, in denen einschließlich der Kinder acht Personen lebten. Die Bezeichnung »DDR-Flüchtling« habe ich erst viel später verstanden. Mein Vater hatte im Sommer endlich Arbeit gefunden und kurz nach meinem siebten Geburtstag, anfang Dezember, sind wir umgezogen.

Die Erinnerungen tragen mich einundsechzig Jahre zurück durch die Zeit. Ich stehe im Flur vor der verschlossenen weißen Wohnzimmertür. Meine Mutter steht neben mir und hält mich an der Hand. Wir haben alle unsere Sonntagssachen an, es ist ja Weihnachten.
»Wie lange noch Mama?«, frage ich aufgeregt und kann kaum stillstehen.
»Es dauert nicht mehr lang, mein Großer.« Ihre Hand drückt die meine ein klein wenig fester.
»Haben wir auch einen Tannenbaum? Einen richtigen? Mit Kugeln und Kerzen?«
»Das wirst du gleich sehen. Aber wenn du weiter so viel redest, hören wir das Glöckchen nicht und dann dauert es noch länger.«
Wenn wir das Glöckchen hören, dürfen wir ins Zimmer, daran erinnere ich mich. Wie gern hätte ich an der Tür gehorcht, um das Klingelingeling nur nicht zu verpassen.
In diesem Moment höre ich es. Erwartungsvoll schaue ich Mama an. Sie nickt mir zu und öffnet die Tür. Das Erste was ich sehe, ist der Weihnachtsbaum. Seine Spitze reicht bis zur Decke. Viele bunte Kugeln hängen an den Zweigen. Goldenes Lametta schmückt den Baum und Kerzen brennen, richtige Kerzen. In diesem Moment weiß ich, dass das der größte und schönste Weihnachtsbaum auf der ganzen Welt ist.
»Schau mal, was unter dem Baum liegt.« Meine Mutter geht in die Hocke und zeigt auf ein in buntes Papier verpacktes Paket. Es ist lang, aber nicht dick. An der Oberseite ist eine kleine Karte befestigt. Auf den Knien rutsche ich darauf zu und nehm es in die Hand.
»Lies mal, was auf der Karte steht«, sagt Mama.
»Für Norbert«, lese ich laut vor. Es ist für mich; nur für mich. Mein Herz klopft so schnell, dass ich gar nicht weiß, was ich tun soll.
»Mach es auf!«, höre ich die Stimme meines Vaters.
»Darf ich wirklich?« Mama nickt mir zu.
Vorsichtig öffne ich das Papier an einer Seite und ziehe langsam mein Geschenk hervor. Im ersten Moment kann ich nicht glauben, was ich da in der Hand halte. Es ist die größte Tafel Schokolade, die ich mir vorstellen kann. Nie hat es eine größere gegeben.
Meine Mutter hat sich neben mich gehockt. »Gefällt dir dein Geschenk?«
Ich nicke. »Das ist das schönste Weihnachten in meinem ganzen Leben.«, dann heule ich los.

Ich öffne die Augen und betrachte den Wunschzettel in meiner Hand. Mit dem Blick auf den Karton auf dem Schrank sage ich leise: »Danke, Mama.«

Unvergessliche Weihnachten

Ein verklärt lächelnder Igel auf einem Ferienhaus, eine verschwitzte Zwiebel vor einer unmöglichen Aufgabe, eine schlecht gelaunte Elster im Anflug und ein verzweifeltes Eichhörnchen … was ist los?
Weihnachten.

Am Nachmittag: Eichhörnchen Ekorre stopft zufrieden eine weitere Eichel in den Spalt zwischen den zwei großen Steinen am See. Er schnuppert bereits nach der nächsten Nuss, als er Stimmen hört. Über die Steinkante spähend lauscht er Folgendem: „Und wann ist das?“ Diese Stimme gehört Igelkott, dem vergesslichen Igel. Auf seinem Kopf sitzt die Zwiebel Lökk, sie antwortet: „Heute! Das sage ich jetzt zum dritten Mal!“
„Wirklich? Und was ist heute?“
„Weihnachten!“
„Ist das was besonderes?“
Ihre Stimmen werden von der Moospolsterung in der Höhle unter dem Felsen geschluckt. Ekorre starrt ihnen nach. Die wollen doch nicht etwa da drinnen bleiben? Ahnungsvoll besieht sich das Eichhörnchen den Spalt voller Baumsamen. Es bleckt seine Nagezähne. Nicht, dass der Spalt unten offen ist und der ganze Segen in den Schoß dieser beiden Taugenichtse kullert!
In der Felsenhöhle, die Lökk für sich und Igelkott als Ferienhaus übernommen hat, beginnt eine Zwiebel zu verzweifeln. „Den Baum habe ich hier hereingestellt“, stöhnt Lökk, weil Igelkott das Gestrüpp argwöhnisch beschnuppert. „Wegen dem Fest!“
Der Igel schaut böse vor lauter Nachdenken. Dann hellt sich seine Miene auf. „Ich habe Geburtstag!“
„Nein!“, ruft Lökk.
„Du hast Geburtstag?“
„Auch nicht. Jemand anderes.“
„Kenne ich den?“
„Nein.“ Lökk seufzt. „Egal. Vielleicht erzähle ich dir nochmal vom Weihnachtsmann, ja?“

In der Zwischenzeit macht sich die Elster fertig für ihren Flug durch die erste deutlich kürzere Nacht nach der Längsten. Wie die Tradition es verlangt, wird sie kleine Gaben an alle Tiere verteilen, die sie findet. Eine schöne, rote Vogelbeere wird sie jedem vor die Tatzen legen und ihnen klar machen, dass der Winter jetzt kommt. Damit alle durchhalten, wenn es kalt wird und die Wärme von innen kommen muss. Gleich an der ersten Tür gibt es ein Missverständnis.
„Davon kriege ich Durchfall.“ Die Eule starrt herablassend, und da ihr kleiner Schnabel ohnehin aussieht, als würde sie ihn dauernd rümpfen, trifft der Blick aus ihren riesigen Pupillen die Elster tief. Beleidigt fliegt sie auf. „Gut“, entscheidet sie, „dann versuche ich es eben beim Wiesel.“

Währenddessen ist Ekorre damit beschäftigt, leise wie ein Dieb seine Nüsse aus dem Versteck zu kramen. So eng ist dieser Spalt! Wie hat er die Eicheln da nur hineingebracht? Endlich bekommt er ein besonders verkeiltes Exemplar frei und kriegt als Quittung die Stimmen der beiden Feriengäste zu hören.
„Durch den Schornstein?“
„Nicht unbedingt direkt durch den Schornstein. Es ist Zauberei, weißt du.“ Lökk hat sich beruhigt. Igelkott hat von dem Baum abgelassen und hört ihm begeistert zu. Es ist das vierte Mal heute, dass Lökk ihm von den Geschenken erzählt, aber das weiß der Igel nicht.
„Zaubert er wie die Elster?“, fragt er hingerissen. Lökk schaut zur Decke. „Du meinst, mit Vogelbeeren? Nein. Ich bin nicht sicher, aber ich habe nie davon gehört.“
„Hm. Ob sie dieses Jahr wieder kommt? Ich will ihr nicht sagen, dass ich ihre Beeren nicht mag. Mein ganzer Bauch gerät durcheinander, wenn …“
„Niemand mag ihre Beeren“, unterbricht Lökk ihn düster. „Bei mir akzeptiert sie es wenigstens, weil ich selbst Gemüse bin. Aber dieses Jahr sind wir schön weit weg von ihrem Nest. Sie hat bestimmt alles aufgebraucht, bis sie uns erreicht.“
„Ein Glück. Die Magenverstimmung vor drei Jahren war unvergesslich“, seufzt Igelkott erleichtert.

„Die Magenverstimmung jedes Jahr ist nicht sehr festlich“, dringt es ekelhaft aus der Behausung der Spitzmaus. Die Elster unterdrückt ein Schluchzen. Sie ist keine einzige Beere losgeworden. „Weihnachten ist besser ohne nervige Leute, die einem irgendeinen Dreck unter den Baum klatschen und dann behaupten, es wäre ein Geschenk und verlangen, dass man sich freut!“, keift eine zweite Stimme hinterher. Mit tränenverschleierten Augen hebt die Elster zu einem Instrumentenflug ab. Blindlings schlägt sie mit ihren Flügeln nach der Luft. „Bei einem Geschenk, das von Herzen kommt, ist der Inhalt doch egal“, keckert sie leise zu sich selbst. „Und das werden die nächsten, die ich treffe, zu schätzen wissen. Oder sie lernen es“, schnieft sie trotzig. Sie blinzelt ihre Augen trocken, zieht den Rotz hoch und hält unter ihren Brauen hindurch Ausschau nach einem Opfer. In der Nähe steigt Rauch aus einem Kamin. Sie hält darauf zu.

Ekorre hat seinen Fuß befreit. Die Eichel ist frei, er strebt den Rückzug an. Als er sich unterdrückt hustend umdreht, steht Igelkott direkt hinter ihm. Er lächelt auf mysteriöse Art. Sie starren sich einen Moment lang an.
„Na?“, fragt Ekorre dann. „Was machst du hier?“
„Hab ich vergessen“, antwortet Igelkott mit merkwürdig hintergründigem Ton. „Und du?“
Ekorre fällt nichts ein.
„Roter Umhang, steigt in unseren Kamin … bist du der Weihnachtsmann?“ Igelkotts Nase zeigt auf ihn. Ekorre will gerade antworten, da schießt die Elster an ihnen vorbei durch den Rauch, steigt auf und landet dramatisch neben ihnen. Während sie aufsetzt, zieht sie bereits ihre Tasche voller Vogelbeeren hervor. Eine ungeschickte Bewegung lässt jedoch alle ihre Mitbringsel in den Kamin fallen. Die Beeren kullern lustig in den Spalt. Kurz darauf hört man Lökk einen entsetzlichen Wutschrei ausstoßen. Verrußt und sauer rollt er aus der Höhle. „Wer war das?“, kreischt er.

Überspringen wir die betroffenen Mienen der Elster, Ekorres und Igelkotts, erzählen wir nichts davon, wie Ekorre betreten seine Eicheln in die Ferienwohnung räumt. Lassen wir es aus zu berichten, wie die Elster beschämt Lökks Suppe zu retten versucht. Betrachten wir nur Igelkotts überraschte Freude, als er Geschenke unter dem Baum entdeckt. Damit hat er nicht gerechnet.
„Das grenzt an Zauberei“, haucht er. „Ich war die ganze Zeit auf dem Dach und habe den Weihnachtsmann nicht gesehen!“
Lökk, der das Vogelbeerenmus zu den gerösteten Eicheln auf den Tisch hebt, an dem schon Elster und Ekorre sitzen, seufzt zufrieden. Für diesen Anblick nimmt er jede Strapaze in Kauf.
„Können wir anfangen?“, fragt Igelkott. Seine Tatzen streicheln ein Päckchen. Die Elster und Ekorre nicken, aber Lökk schaut streng.
„Haben wir nicht was vergessen?“, fragt er.
„Fröhliche Weihnachten!“, rufen alle miteinander.

Pünktlich

Mutter war ein Phänomen. Egal, ob sie viel Arbeit hatte oder wenig; egal, um was es ging, Privates oder Berufliches; egal, was davon abhing, Unangenehmes oder Folgenschweres: Mutter fing für gewöhnlich zu spät an und brach jedenfalls zu spät auf. Situationen, in denen Gelassenheit angemessen und hilfreich gewesen wäre, begannen mit Aufregung und endeten mit Strapazen. So auch dieses Mal.

Um fünf Uhr sollte der Familiengottesdienst zum Heiligen Abend beginnen. Das war Grund genug für sie, mich zwar zeitig anständig anzuziehen, wie sie es nannte, dann jedoch die restliche Zeit mit allerlei Haushaltsverrichtungen zu füllen. Kurz vor fünf brachen wir endlich auf, wie immer im Laufschritt.

Trotzdem kamen wir zuverlässig zu spät. Der Gottesdienst war schon reichlich fortgeschritten, als Mutter mit mir an der Hand den Gemeindesaal betrat. Vorsichtig, um nicht aufzufallen, suchte sie nach freien Sitzplätzen und verschwand eben mit mir in der vorletzten Reihe, in der einige Lücken waren, als der unvergleichliche Pfarrer Busch sich selbst unterbrach und uns laut und vernehmlich, begleitet vom leisen Lachen der Gemeinde, bat, nach vorn zu kommen. Mutter wurde rot, ich wurde noch verlegener als üblich, und wir fädelten uns wieder aus der Reihe heraus, um etwas weiter vorn erneut vor Anker zu gehen. Das misslang gründlich. Der Pfarrer, der bis jetzt nicht weitergesprochen hatte, wendete sich nochmals unmissverständlich an Mutter.

„Nein, nein“ , sagte er, „Sie gehören viel weiter nach vorn. Hier, in der ersten Reihe, sind gerade noch zwei Plätze frei“. Der Gottesdienst wurde erst wieder aufgenommen, als wir vorne angekommen waren.

Mutters Verlegenheit hatte keine nachhaltigen Konsequenzen. Außer, dass sie auf dem Heimweg ein wenig maulte und sich über die Unschicklichkeit des Pfarrers beklagte, änderte sich nichts. Der Erziehungsversuch war zwar recht publikumswirksam, prallte jedoch an ihr ab. Wir erreichten folglich auch danach unser Ziel grundsätzlich im Laufschritt, und Unpünktlichkeit galt bei ihr weiterhin als Zeichen der Vornehmheit.

Die Letzte

Ich bin die Letzte.

Niemals hätte ich gedacht, dass genau das mein Schicksal sein würde. Die vielen Monate in Dunkelheit, eingesperrt im Schrank, sollten sich gelohnt haben.

Heute ist der große Auftritt. Meine Geschwister sind schon vorausgegangen. Alle drei sind kaum noch zu sehen.

Und doch bin ich enttäuscht. Ich hatte eine riesige Halle erwartet, in einem Schloss vielleicht, oder zumindest eine Kirche. Jede Menge Tannengrün, viele Menschen, laute Gesprächsfetzen und Musik.

Stattdessen befinde ich mich in dieser dunklen Hütte. Auf dem harten Holztisch ist nichts zu sehen. Keine Kugeln, Zweige oder Tannenzapfen, nicht einmal ein Metallkranz. Nur ich auf einem alten Bierdeckel.

Was macht es da für einen Sinn, die Letzte zu sein?

Zu Beginn meiner Existenz hatte man mir gesagt: „Es ist nicht wichtig, wo oder wie lange du lebst, entscheidend ist, wie hell du scheinst.“

Schön und gut, aber das hier? So sollte es nicht zu Ende gehen.

Dem Knarzen der Tür folgt ein Luftzug, der mich erschaudern lässt. Meine Güte, ist das eisig hier.

„Mama, ist es jetzt so weit?“, höre ich eine zarte Stimme flüstern.

„Ja, mein Schatz, es ist so weit.“

Zwei Kinderaugen schauen mich ehrfürchtig an. Und als mein Docht zu brennen beginnt, kullert eine Träne über die Wange des kleinen Mädchens.

„Was hast du, meine Süße?“

„Psst Mama, wir müssen leise sein. Dies ist ein ganz besonderer Moment. Darauf habe ich so lange gewartet.“

Gewartet? Auf das hier? Erstaunt lasse ich den Blick durch die Hütte schweifen. Sie sieht in meinem Licht gar nicht so kalt und dunkel aus. Eher gemütlich. Ich friere auch nicht mehr. Und dieses Mädchen schaut mich an, als hätte sie noch nie etwas Schöneres gesehen.

„Die Letzte, Mama. Das ist die letzte Kerze. Ihr Licht ist so strahlend und warm. Jetzt wird das Christkind bestimmt den Weg zu uns finden.“

Und plötzlich wird mir klar, dass ich genau am richtigen Ort bin. Es hätte mich nicht besser treffen können.

Denn entscheidend ist, wie hell du scheinst!

Entschlossen sammle ich alle Kraft, damit mein Licht die Welt des kleinen Mädchens so hell und lange erleuchtet, wie möglich.

Eine besondere Weihnachtsfeier

Es war Dezember und unser Sohn in seinem ersten Jahr im Kindergarten. Und wie überall, es gab eine Weihnachtsfeier. Es war so ein richtiges Winterwetter, kalt, windig, dunkel – eben Glühweinzeit. Aber wir waren in der Kita: kein Glühwein!

Hier war alles etwas kleiner gehalten. Eine Garderobe, die unten bei den Knien angebracht war und Platz für allerlei Kinderklamotten bot. Meine Jacke nebst Mütze und Schal fielen wieder runter – egal.

Überall waren Tische und Sitzmöbel aufgebaut. Eben solche, bei denen man sich gleich beim Setzen das Schienbein stößt und die Knie ganz nah bei den eigenen Ohren sind. Zwischen den Stühlen flitzten Unmengen von Kindern durch die Räume, alle zappelten und schnatterten unaufhörlich. Eine Lautstärke wie bei einem Heavy metal Konzert oder bei einem Handballspiel im Fanblock.

Nach einiger Zeit – ich bekam schon Krämpfe in den Beinen, rutschte hin und her, fiel fast vom Stuhl – da klopfte es laut und die Außentür öffnete sich knarrend. Der kalte Wind fauchte in die Räume und unter Glockenklingen kam der leibhaftige Weihnachtsmann mit einem großen lebendigen Esel herein. Auf seinem Rücken lag ein riesiger Sack.

Ein ohrenbetäubendes Geschrei begann – es war schlimmer als bei einem Handballspiel – und alle Kinder rannten auf den Weihnachtsmann zu. Nur einer nicht: unser Sohn. Er lief in die entgegengesetzte Richtung, direkt auf uns zu.
„Siehst du – siehst du“, rief er mir zu. „Es gibt ihn doch!“. Dann drehte er sich um und flitzte zu den anderen Kindern.

An diesem Tag habe ich gelernt, dass der Glaube etwas Besonderes und Bedeutsames im Leben ist. Und dass es nicht wichtig ist, wie und woran man glaubt, nur dass man glaubt. Das ist wichtig.

Und wenn man dafür die eigenen Knie ganz dicht bei den Ohren halten muss.

Die Sonnenkarawane

„Die Pinguine kommen! Die Pinguine kommen! Die Pingu …“

„Wir haben dich gehört, James Frederic III.“

„Ja, aber …“

Jamie - in Augenblicken, in denen er zur Ordnung gerufen wurde, gerne mit „James Frederic III.“ tituliert - zweifellos, um ihn im Hinblick auf seine künftige Aufgabe innerhalb der Gemeinschaft an die Unangemessenheit gezeigten Verhaltens zu erinnern - konnte einfach nicht begreifen, dass die Ankunft der Pinguine irgend jemanden ruhig bleiben ließ.

Er dachte noch einen winzigen Augenblick über die angebliche Unvereinbarkeit von „Erwachsen sein“ und „Spaß haben“ nach und beschloss, dass das mit dem Erwachsenwerden für ihn noch Zeit haben durfte.

Den Kritiker seiner Freude aufs Respektloseste hinter sich lassend, setzte er mit deutlich hörbarer Begeisterung seinen Dienst als selbsternannter Herold fort - mit einer Stimme, die jedem Marktschreier Ehre gemacht hätte. Auf schmutzigen Sohlen rannte er weiter durch die Gassen der Barackenstadt und schrie, was seine Lungen hergaben: „Die Pinguine kommen!!!“

„Was soll das Geschrei? Jeder weiß doch, dass sie zur Zeit der Sonnenwende bei uns Rast machen - und auch wozu. Jamie, mein Lieber, du predigst Bekehrten.“

Nur das unleugbare Vergnügen in der Stimme des Sprechers hinderte Jamie daran, auch hier seine Nase mit Verachtung zu rümpfen. Sebastian war sechzehn und damit nach allen geltenden Regeln erwachsen. Doch Jamie wusste um ein paar Dinge, erforscht im Zwielicht gelber Nächte auf Streifzügen durch die Außenbezirke der Barackenstadt, die ihn vermuten ließen, dass auch Sebastian noch wusste, wie man Spaß haben kann - sogar als Erwachsener. Und dass Eleanor Fairdagale dabei eine Rolle spielte, störte ihn nicht im mindesten. Erstens war sie neunzehn und damit viel zu alt für Jamie, außerdem war hinwiederum er alt genug, um zu wissen, dass es nicht schaden konnte, sich in Bezug auf die wichtigen Dingen schon mal erste Orientierung zu verschaffen.

Sebastians Aufgabe war die Leitung der Willkommenszeremonie. Gerade saß er am Feuer der Wachbaracke, beäugte sein Konterfei im blankgewienerten Blech von etwas, das zu einer Zeit, die fast schon nicht mehr wahr genannt werden konnte, angeblich „Felgendeckel“ geheißen hatte. Dieser spezielle sollte sich, konnte man Ernie trauen, auf dem rechten „Vorderrad“ eines „Citroen ZX“ befunden haben. Ernie kicherte regelmäßig, wenn er davon erzählte, wie sein eigener Ur-Ur-Urgroßvater sie gefunden hatte, kurz nachdem die letzte der großen „Rallyes“ die Oase mit frischen Vorräten in Richtung der Wanderdünen verlassen hatte. Alleine wie Ernie das Wort „gefunden“ betonte, gab Vermutungen reichlich Raum, dass das glänzende Stück Metall nicht einfach still im Sand gelegen hatte. Andererseits, nach dem vierten Becher Palmwein klang eigentlich jeder Geschichtenerzähler, als würden sich sogar hinter den einfachsten Wörtern schlafraubende Abenteuer mit fleischfressenden Büschen und sternlichtgebärenden Quarztrollen verbergen.

Jamie hatte beizeiten gelernt, geduldig zuzuhören und höflich zu lächeln, wenn nach drei oder vier Geschichten, von denen jede mit einem Becher Palmwein auf ex beschlossen werden musste - so verlangte es die Tradition der Geschichtenerzähler - nicht nur die Wörter etwas schwankend gerieten.

Sebastian jedenfalls ließ sich auch von der renommierten Herkunft seines Spiegels nicht aus der Ruhe bringen. Mit blauem Steinmehl, reichlich Spucke und seinem Zeigefinger zog er sich rechts und links je einen Strich vom Haaransatz über jedes Augenlid bis herunter zum Mundwinkel. Schließlich mussten die Pinguine, wenn sie in die Barackenstadt einmarschierten, auf den ersten Blick erkennen können, wer hier das Sagen hatte, denn die Begrüßung erfolgte traditionell in respektvollem Schweigen mit vielen Verbeugungen und komplizierten Tanzschritten, die dem jeweiligen Zeremonienleiter wochenlanges Einüben abverlangten.

„Und?“ fragte Sebastian. Herausfordernd hielt er sein Gesicht in das bleiche Licht der Mitternachtssonne und schielte dabei zu Jamie.
Jamie nickte überzeugt: „Besser als Ronaldo auf jeden Fall!“

Sebastian verzog den linken Mundwinkel zu einem verräterischen Grinsen, als er daran dachte, wie die Pinguine im vergangenen Jahr Ronaldo mit seiner Frau verwechselt und Ingeborg um Gastfreundschaft gebeten hatten. Es hätte das Kichern der Frauen nicht gebraucht, um jedem klarzumachen, dass der Wettbewerb für die Auswahl des Zeremonienleiters im nächsten Jahr nicht mehr zwischen den Männern alleine ausgetragen werden würde. Zumal auch die Pinguine regelmäßig in fröhliches Schnattern verfielen, wenn sie bei ihrer Durchreise nicht umhin konnten zu bemerken, dass so etwas wie die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ für die Bewohner der Barackenstadt doch eher ungewohnt war - zumindest, soweit es das offizielle Protokoll betraf. Jedenfalls hatte Sebastian sich dieses Jahr gehörig anstrengen müssen. Als geübter Sandroller und bester Pfannkuchenbäcker der Südstadt hatte er sich im Finale gegen Lisalou nur um Haaresbreite behauptet.

Also - Jamie kicherte in sich hinein, zeigte nach außen jedoch eine bewundernswert gefasste Miene - würden die Pinguine auch in diesem Jahr wieder etwas zu schnattern haben.

Immerhin, der zweite Platz im Wettbewerb bedeutete, dass Lisalou al Fanufaresh dieses Jahr das Führungskamel reiten würde, wenn die Pinguine nach Abschluss der Friedenszeremonien zur Überquerung des großen Waldgebirges aufbrachen, ihrer vorletzten Etappe, bevor die Karawane der Schwarzbefrackten sich endlich, wie jedes Jahr, auf den eigenen Bäuchen in die Straße von Gibraltar stürzen konnte. Und das war schließlich auch etwas.

Who is it? – I’m the doctor

Ich bin im Sommer geboren und meine Eltern sind Waldrene. Während Mitzi sich um mich kümmert, ist Donner unterwegs. Die Sami, das sind unsere Hüter, haben mir eine Marke ins Ohr geknipst. Es hat gar nicht weh getan und fast alle aus der Herde haben so ein Ding am Ohr.
Es ist seit einen Monat dunkel, und ich vermag nicht mich sattzusehen, an den Polarlichtern. Dies ist meine erste Polarnacht mit ihrer Aurora Borealis, wie es die Menschen manchmal nennen. Die Abenteuerlust treibt mich von der Herde fort und durch die fein riechende Rentiernase gelange ich an einer Stelle mit köstlichen Islandgras. Das zupfe ich genussvoll und träume vor mich hin. Was für große Abenteuer warten auf mich?
Da kommt mir ein gefährliches Knurren an die Ohren. Ich halte inne und meine Lauscher bewegen sich nervös in verschiedene Richtungen. Dort! Nach rechts wende ich langsam den Kopf und starre in die grünbeleuchtete Dunkelheit. Zwei gelbe Punktpaare. Sie stehen gegen den leichten Wind, deshalb habe ich sie nicht gerochen. Wölfe! Mutter Mitzi hatte mich gewarnt, nicht so weit von der Herde wegzulaufen. Aber jetzt war Reue zu spät.
Plötzlich vernahm ich seltsame Geräusche. Eine Art von asthmatischem Pfeifen, gemischt mit einem metallischen Scharren. Es schwoll an und wieder ab. Ich sah die gelben Wolfsaugen hierhin und dorthin bewegen, dann waren sie verschwunden. Schreckhaft sind sie ja, denke ich.
Die Luft um das Geräusch flimmerte. Erst schwach, dann stärker, dann wurde eine Kiste sichtbar. Sie war etwas höher als der größte der Sami Juhani. Ich hatte inzwischen die Wölfe vergessen (Mutter würde sagen: „Diese Jugendlichen.“), denn die blaue Kiste stand, keine zehn Rentiersprünge entfern. So versteckte ich mich hinter dem nächsten Baum und lugte herum.
Es öffnete sich eine Tür, und ein gelbes Lichtdreieck erschien auf dem Schnee davor. Ein Mann trat wankend daraus hervor, blieb kurz stehen und betrachtete seine Hände, welche in goldenen Dampflicht leuchteten. Er fiel auf die Knie und rammte Beide zu Fäusten geballt in den Schnee. „No, not yet!“
Ich verstand nicht seine Worte, denn es war mir eine unbekannte Sprache.
Dann hörte ich eine andere Stimme: „Who is it?“ Es war wohl dieselbe Sprache.
Der Mann aus der Kiste erhob sich und sagte: „I am the doctor!“
Er bewegte sich in die Richtung der anderen Stimme. Neugierig geworden schlich ich mich auf leisen Hufen zur Kiste. Zwar hörte ich sie reden, aber verstand nichts Genaueres, um es hier weiter zu geben. Ich spähte um die Ecke, sah die Tür, trabte leise zum Licht und streckte meinen Kopf in den Raum dahinter.
„Boah!“, entfuhr es mir staunend. „Größer im Innern als Außen.“
Alles voller Maschinen, Hebel und Knöpfen. Fußböden aus Metall. An den Wänden Krimskrams und Kabels.
Sicherlich hätte meine Neugierde mich tiefer in die blaue Kiste gezogen, aber ich erinnerte mich der Wölfe. Und mein Denken lenkte sich dahin, dass so lange dieses Ding hier stand, sie sich fernhalten. Kurzum, ich verließ den Ort und wusste was zu Erzählen.
Die Kleinen und die Jährlinge hingen förmlich an meinen Lippen. So gab ich noch zusätzliche Ausschmückungen bei. Und es wurde immer wilder, bis Mutter mich zur Seite nahm und sagte: „Hör mir mal zu, junger Mann. Wenn du so weiter lügst, dass sich die Geweihe biegen, dann wird deine Nase röter und röter und zu Letzt, so Rot, dass sie bis zum Himmel leuchtet. Willst du so eine Nase haben, Rudi?“
Ich schluckte vor Charme und sagte kleinlaut: „Nein Mama. Möchte ich nicht.“
„Na, dann ist es ja gut“, sagte sie, „dann weißt du auch, was auf deinem Wunschzettel an Jultomte gehört.“
Nun wendete sie sich der Herde zu.

Die letzte stille Nacht

„Stiiiihiiille Naaaacht, heiiiliigee Naaacht“, tönt es durch die Lautsprecher von Galeria Kaufhof. Im dritten Stock rechts von der Rolltreppe steht eine ergraute, aber gepflegt frisierte Dame an einem Stehtisch neben den Umkleiden. Sie hat sich die Lesebrille mit dem pinkfarbenem Gestell, die ihr mit einem türkisen Band um den Hals hängt, auf die vorderste Nasenspitze platziert und fädelt mit Bedacht einen roten Spitzenschlüpfer zurück auf einen durchsichtigen Kleiderbügel. Auf ihrem rosafarbenen Cashmere-Pullover pinnt ein Schild: Rosemarie Spengler. Rosemarie müsste dieses Schild nicht tragen. Schon vor Jahren wurde das abgeschafft. Doch Rosemarie bestand darauf, es gehörte für sie zum Kundenservice.

Rosemarie hängt den Kleiderbügel zurück zur restlichen roten Damenwäsche, Größe 38, und wirft einen Blick auf die Anzeigetafel über der Rolltreppe: 24.12.2022. 13:18. In einer dreiviertel Stunde war es vorbei. Sie lässt ihren Blick über die leeren Gänge schweifen und seufzt. Am anderen Ende des Ganges Klaus aus der Porzellanabteilung. Ihre Blicke treffen sich, kurzes Nicken. Was sollte man sonst schon tun?

Gedankenverloren zupft Rosemarie an den seidenen Damennachthemden, richtet hier einen Ärmel zurecht oder verdreht ein Preisschild. Sie denkt sich zurück in alte Zeiten. Stellt sich die dicht gedrängten Menschenmassen vor, die sich die Rolltreppen hinaufschieben und sich dabei mit ihren Galeria-Taschen ineinander verhaken. Sie denkt an die vielen schwitzigen Hände, die sich durch Wühltische graben. Und an Kinder, die sich auf den Boden werfen und weinen. Ja, oben in der Spielzeugabteilung ist noch am meisten los. Zehn Kunden. Vielleicht zwölf. So wie unten in der Parfümerie und in der Schmuckabteilung. Naja, die Zeiten ändern sich. Das hatte ihre Tochter gesagt. Die Zeiten ändern sich, Mama.

Der einzige, der heute noch im Stress ist, ist der Amazon-Bote. Sie denkt an den jungen, dunkelhaarigen Mann, den sie jeden Montag, ihrem freien Tag, durch das Fenster beobachten kann. Er steigt aus seinem Laster mit dem Amazon-Logo und lädt Päckchen auf eine Sackkarre. Letzten Montag musste er zweimal gehen. In ihren Wohnungen springen die Eltern mit Headset von ihrem Home Office Schreibtisch auf und nehmen die Geschenke an, die sie dann ihren übergewichtigen Kindern unter den Weihnachtsbaum legen. Die Zeiten ändern sich.

39 Jahre lang hatte Rosemarie bei Galeria Kaufhof gearbeitet. Sie hatte so viel Wäsche verkauft, dass man davon wahrscheinlich ganz Deutschland einmal hätte einkleiden können. Sie fühlt Stolz bei diesem Gedanken. Sie hatte alle Trends der Dessous hautnah miterlebt. Vielleicht ein Stück weit mitgestaltet. Durch ihre Beratung. „Sehen Sie, Madame, heute trägt man einen solchen Wonderbra. Der würde Ihre Form auch ganz wunderbar unterstützen“. Oder: „Ja, nun sehen Sie dieser spitzenbesetzte String… ich hab schon Kinder zur Welt gebracht, ich kann das nicht mehr tragen mit meinem Hintern, aber Sie, ja bei Ihnen würde das phantastisch zur Geltung kommen.“ Nie hätte sie sich ausgemalt, dass ihr letzter Tag vor der Rente so aussehen würde. „Unterhosen und Schuhe – das braucht der Mensch immer!“, hatte Walter immer gesagt, Gott hab ihn selig. Ihr Mann Walter war Schuhverkäufer gewesen. Sie fühlt Erleichterung, dass er das heute nicht miterleben musste.

Rosemarie richtet gerade den Gürtel eines Flanell-Morgenmantels zurecht, als sich plötzlich jemand hinter ihr räuspert. Fast erschrocken dreht Sie sich um.

„Entschuldigen Sie, ich brauche…“, ein Mann vielleicht Anfang 40, steht vor ihr. Seine engen Jeans, sein Vollbart und seine zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare lassen ihn wie einen typischen Mann der heutigen Zeit aussehen. Doch in seinen Augen findet Rosemarie etwas, das sie längst verloren geglaubt hatte. Sie drücken die Dringlichkeit alter Weihnachtstage aus. Die Hektik der letzten Minuten vor Ladenschluss. „Ich brauche…“ hatte er gesagt. Nicht „Ich hätte gern…“ oder „Ich suche…“… Dieser Mann brauchte etwas. Er brauchte ihre Hilfe, ihre Dienste. Und ein Gefühl von tiefster Verbundenheit und Sinnhaftigkeit durchflutet Rosemarie, als sie sagt: „Ja, bitte?“

„…einen Pyjama für meine Mutter. Etwas Bequemes. Aber auch nicht zu bunt. Vielleicht was weißes, schlichtes.“

Und Rosemarie führt ihn zur Nachtwäsche. Zeigt ihm die Baumwollschlafanzüge, die spitzenbesetzten und die bedruckten. Erzählt etwas über die Qualität des Stoffes, darüber wie das Material atmet, wie die Hose fällt. Sie zeigt Exemplare in zartrosa, aprikot und weiß. Und als der Herr seine Wahl getroffen hat, ertönt die Durchsage: „Sehr verehrte Kundinnen und Kunden, unserer Filiale schließt in 15 Minuten. Wir bitten Sie, sich zu den Kassen zu begeben.“

„Mein Gott, ich dachte schon ich krieg gar nichts mehr“, sagt der Mann, als er ihr seine EC-Karte reicht. „Meine Mutter kam erst gestern mit dem Wunsch an. So schnell liefert ja Amazon gar nicht…“ Rosemarie nickt und reicht ihm seine Tüte mit dem Zahlungsbeleg. Ihr Herz klopft ihr bis zum Hals, fast möchte sie ihn umarmen. „Also vielen Dank nochmal…“, sagt der Mann. Und Rosemarie sagt wie immer „Der Dank ist ganz meinerseits.“ Und noch nie hatte sie es so gemeint, wie heute.

Aus den Erinnerungen eines kleinen Rabauken

Nun hatte ich schon seit ein paar Monaten keinen Hund mehr, und es wurde Weihnachten. Ich war zu alt, um noch an den Weihnachtsmann und diesen Kinderkram zu glauben. Spannend war es trotzdem, weil das heimliche Getuschel der Eltern auffällig zunahm, wobei ich immer so tat, als kriegte ich davon nichts mit. In diesen Wochen vermied ich, irgend etwas zu tun, was die Großen verärgern konnte, und ich stellte mir vor, dass mein geheimer Wunsch trotz der finanziellen Not, die Anfang der sechziger Jahre bei uns herrschte, erfüllt würde. Bobbys Tod hatte ich noch längst nicht verwunden, sein Name durfte in meinem Beisein nicht ausgesprochen werden. Dennoch wünschte ich mir wieder einen neuen kleinen Freund.

Nach dem Besuch der Nachmittagsmesse gab es in der guten Stube die große Bescherung. Unter dem geschmückten Weihnachtsbaum fand sich, was man als Kind so brauchte: einen warmen Winterpullover, bunte Strickhandschuhe, einen gestreiften Schlafanzug, in den man noch reinwachsen sollte, und so’n Zeugs. Darüber musste man sich freuen und fertig. Kann sein, dass meine Dankbarkeit etwas dünn rüberkam, was mir mein Vater wohl an meiner verdrießlichen Miene ansah. Er sagte nichts und widmete sich meinem älteren Bruder, der sich wie verrückt über irgendetwas freute, das mich nun gar nicht begeistern konnte. Deswegen kann ich mich auch nicht mehr erinnern, was das überhaupt war.

Während ich lustlos die bunten Strickhandschuhe überstreifte, sagte ich mir: „Kerl, so’n Satan warste doch auch nicht. So schlimm warste doch nicht, dass du nun gar nichts Vernünftiges kriegst.“
Im Kerzenschein wurde die Stille Nacht gesungen, und als es so schien, dass damit der Heilige Abend rum wäre, wandte sich mein Vater mir zu und wies mit einer kurzen Kopfbewegung zur Tür: „Arnie, kannste mal gucken, was da in deiner Kammer los ist? Ich habe da vorhin was gehört.“
Folgsam taperte ich die knarrende steile Holztreppe hinauf, öffnete die Tür zu meiner Kammer, drehte am Lichtschalter, und was ich dort sah, kam mir vor wie ein Wunder: Auf meinem schmalen Bettvorleger lag ein schwarzer wolliger Hundewelpe, der sich freudig aufrichtete, mit zusammengekniffenen Augen blinzelte und erwartungsvoll fiepte, als wollte er sagen: „Wo bleibst du denn den ganzen Abend?“
Jetzt gab’s doch einen Weihnachtsmann!

Sternenfeuer

Er streifte den Pullover über, den Onkel Frederic voriges Jahr gestrickt hatte. Die weißen Einsprengsel in der hellbraunen Wolle verrieten ihre Herkunft aus dem Winterfell eines Jährlings, deshalb war er genau richtig für Helden, die vorhatten, das Zukunftsritual zu vollziehen, wie man es bereits den Allerkleinsten beibrachte. Dieses Jahr zog er zum ersten Mal alleine los.

Jamie warf einen Blick auf die Mütze im Regal, dachte kurz nach, dann ließ er sie liegen. Heute brauchte er einen klaren Kopf, auch wenn es etwas frisch werden sollte. Außerdem … aber das gestand er sich selbst nicht so richtig ein. Er verließ die Baracke und drückte die Tür von außen zu, bis der Riegel einschnappte. Dann wandte er sich um und stapfte los.

So lange er noch im Viertel war, hielt er den Blick beharrlich auf den Weg vor sich gerichtet, was jedem zeigte, dass James Frederic III. heute nicht aus war auf Schwatz und Vergnügen. Zielstrebig durchquerte er das angrenzende Schänkenviertel und folgte dem Bewässerungsgraben entlang des Gartenrings. Endlich passierte er den nördlichen Durchgang über den mit Fettblattsträuchern befestigten Sandwall, der die Stadt vor dem Wüstenwind schützte.

Der war jedoch bereits, wie jeden Abend, eingeschlafen. Jamie richtete den Blick in die Ferne und wanderte hinaus auf die mit Steinbrocken übersäte Hammada. Sorgfältig achtete er darauf, um jede der vereinzelt auftauchenden Sandpfützen einen respektvollen Bogen zu machen. Nach und nach verlor sich der Lärm der Stadt hinter ihm, bis er nur noch die Stille hörte.

Nach einer Weile wurden weit voraus die ersten Ausläufer des Waldgebirges sichtbar. Doch sie waren heute nicht sein Ziel, zumal er für die Reise zu den Bäumen mindestens vier Tagesrationen gebraucht hätte. Seine Wegstrecke war bescheidener.

Weil beide knapp über dem Horizont standen, konnte das fahle Wechselspiel von Mond und Sonne den Augen manchen Streich spielen. Deshalb sah er die großen Felsquader erst, als er auf weniger als vierzig Schritte heran war. Jamie blieb stehen und sah sich um. Dort, diese zwei waren genau richtig. Er ging hinüber und berührte mit der Rechten den nackten Fels. Die Quader strahlten noch Reste der Tageshitze ab, gleichzeitig schützte ihre Größe vor neugierigen Blicken. Er setzte sich mit dem Rücken zu den doppelt mannshohen Quadern, wie er es gelernt hatte.

Nach einer Weile richtete er seinen Blick hinaus in die Wüste und begann, tiefer zu atmen:

Ein - aus - ein - aus - ein - aus.

Jamie spürte, wie er ruhig wurde. Ohne aufsehen zu müssen wusste er, dass die Sterne über ihm zu funkeln begonnen hatten.

Großes Dünenkamel, dachte er,
dieses Jahr wünsche ich mir keine Dinge.

Ich wünsche mir, dass ich genug Liebe aufbringe für die Arbeit in den Gärten.
Ich wünsche mir, dass ich genug Ausdauer aufbringe, wenn die Arbeit mühsam wird.
Ich wünsche mir, dass ich genug Tapferkeit aufbringe, um die Angst vor den Schlangen zu überwinden.
Ich wünsche mir, dass ich genug Beharrlichkeit aufbringe im Erwerb von Geschick mit Spaten, Klinge, Schnur und Bohrer.
Ich wünsche mir, dass ich genug Gelassenheit aufbringe bei allem, was mich von meinem Pfad abbringen könnte.
Ich …

Obwohl Jamie die Schnur seiner Wünsche in den letzten Tagen sorgfältig geknüpft hatte, schob sich ganz plötzlich noch ein anderer hinein. Aber genau diesen getraute er sich nicht, dem großen Dünenkamel zu unterbreiten.
Eigentlich wusste er, dass auch große Dünenkamele einst von dieser Welt gekommen waren und für seinen Wunsch Verständnis haben würden. Aber wie das so ist, wenn man etwas ganz unerwartet braucht …

Ich wünsche …

Es ging nicht.

Jamie spürte einen Knoten im Hals.

Er begann wieder von vorn, tief zu atmen:
Ein - aus - ein - aus - ein - aus.

Ich wünsche mir …

„Jamie?“

Für einen Augenblick glaubte er, sein Herz müsse stehenbleiben.
Natürlich tat sein Herz ihm diesen Gefallen nicht. Es hüpfte ein bisschen, schlug dann aber enfach weiter. Jamie blieb nichts anderes übrig, als aufzuspringen und puterrot anzulaufen.

Den Helden in den Schwänken der Geschichtenerzähler wäre das natürlich nicht passiert - denen fiel in solchen Augenblicken immer etwas Souveränes ein. Schließlich waren es Helden.
Jamie schaffte gerade mal ein „Öh… hm…“. Zur Sicherheit setzte er ein höfliches „… hallo Alima.“ hinterher, und verfärbte sich dann, falls das überhaupt möglich war, ins Purpurne.
Seine Ohren glühten, er spürte es deutlich. Ziemlich praktisch in der Kälte, aber auch nicht wirklich heldenhaft.

In ihren Augen, die aus der halben Dunkelheit heran zu schweben schienen, funkelten Sterne, so geheimnisvoll wie die über der Steinwüste.

Jamie wurde es ungemütlich. Er setzte noch einmal an, aber mehr als ein „Hrchrm“ brachte er nicht zustande.

Zum Glück schien Alima kaum überrascht zu sein. Vermutlich, weil sie ihm gefolgt war. Aha, dachte er in merkwürdig gleichzeitiger Erkenntnis wie irrelevant das war, mein Verstand funktioniert noch.

Als Alima ihre Hand hob, hatte Jamie das deutliche Gefühl, irgend etwas in seinem Kopf müsse gleich „Krk“ machen.

„Dein Haar“, sagte sie, „es leuchtet durch die Nacht wie blaues Feuer. Wie machst du das?“

Jamie hätte ihr erzählen können, dass er viele Tage damit verbracht hatte, in den Wadis genügend der hellblauen Steine zu finden, fünf weitere im Vorgebirge auf der Suche nach Glitzerquarzen, sowie etliche Abende, um alles zu mahlen und einzuschlämmen, bis das Quarzmehl sich in funkelndes Blau verwandelte. Aber um nichts in der Welt hätte er jetzt auch nur ein Augenblinzeln lang aufhören wollen, in diesen beiden Sternenteppichen zu versinken.

Alima schien auch nicht wirklich eine Antwort zu erwarten.

Statt dessen tat sie einen Schritt auf ihn zu.
Und dann noch einen.

Als Aram seinen Glauben fand

Es war der 20 Dezember 1957. Long Island lag unter einer winterlichen Schneedecke. Die Weihnachtsferien hatten begonnen, in der Schule herrschte Hochbetrieb. Die Vorbereitungen für das Krippenspiel lagen in den letzten Zügen und fast jeder meiner Schulfreunde nahm daran teil, außer mir.

Unser Haus war ebenso geschmückt und die Lichterketten funkelten mit denen unserer Nachbarn um die Wette. Meine Freunde konnten den 24 Dezember kaum abwarten. Nach der Weihnachtsfeier würden am nächsten Morgen die Geschenke unter dem Baum liegen.

In unserer Familie war das anders. Wir feierten die Ankunft Jesu am 6. Januar.

Als achtjähriger wurde ich deshalb von meinen Schulkameraden ausgelacht und gehänselt. Da half es auch nichts, dass unser Klassenlehrer von Millionen orthodoxer Christen berichtete, die ebenso wie ich am 6. Januar feierten.

Ich war genervt, denn ich wollte nicht anders sein, als die anderen. Deshalb erklärte ich am Abend des 23. Dezember meinen Eltern, dass ich wie meine Mitschüler und Freunde feiern wollte.

Meine Mutter sah mich eine Weile an und sagte dann zu meinem Vater: „Es wird Zeit für das Gespräch.“

„Welches Gespräch?“, platzte es aus mir heraus.

Vater nickte und ging mit mir in das Kaminzimmer, wo wir es uns gemütlich machten. Das Feuer prasselte und gab seine wohlige Wärme in den Raum ab.

Papa war Architekt und hatte unser Haus selbst entworfen und mit seinem eigenen Bauunternehmen aufgebaut. Er war sehr stolz darauf und erzählte allen unseren Gästen, dass zu jeder Tageszeit und egal wo die Sonne stand, alle Räume lichtbeschienen wären. Bis zu diesem Tag wusste ich nicht, wie privilegiert meine Familie war. Wir konnten uns reich nennen. Für mich war das allerdings normal, denn ich hatte keine Armut kennen gelernt.

„Wir feiern das Weihnachtsfest am 6. Januar, weil wir Armenier und gregorianische Christen sind“, begann er.

Dass wir Armenier waren wusste ich, aber alles andere hatte mich bis dahin nicht interessiert.

„Der heilige Gregor machte uns zu den ersten Christen dieser Welt, aber das ist eine andere Geschichte. Mein Vater Aram.“

„Dede“, unterbrach ich ihn.

Papa nickte. „Ja, dein Dede. Er lebte mit seiner Frau Miriam und seinen Söhnen Hayk und Arman, die zwei und fünf Jahre alt waren, in Ostanatolien. Das ist bis heute die Türkei.“

Mein Interesse war geweckt, denn ich wollte die Geschichte von Dede und meinem Vater, Arman hören. Allerdings kannte ich keinen Onkel Namens Hayk und keine Jaja namens Miriam. Doch bevor ich noch fragen konnte, erzählte der weiter.

„Es war das Jahr des Genozids.“

Ich schaute ihn verständnislos an.

„Genozid bedeutet, die Auslöschung eines Volkes durch ein anderes“, erklärte er.

„Wie die Juden in Deutschland?“ Davon hatte ich in der Schule gehört und mein Freund Isaac war ein Jude.

„Ja, genauso. Die Armenier waren unerwünscht und so hatte man begonnen sie aus ihren Häusern zu holen, Männer, Frauen und Kinder ohne Unterschied.“

„Was ist mit ihnen passiert?“, fragte ich und mir fröstelte dabei.

„Man hat sie von überall her aus dem Land zusammengetrieben und nach Osten in die syrische Wüste geführt. Es war ein Todesmarsch ohne Wiederkehr. Die Schwächsten unter ihnen starben unterwegs an Durst und Hunger, der Rest bei Aleppo.“

Er machte eine Pause, weil ihm die Erzählung sichtlich schwerfiel.

„Weiter, weiter“, drängte ich.

Er schluckte mehrmals, bevor er weitersprach. Seine Stimme brach bei den ersten Worten, aber dann berichtete er flüssig, als ob er es hinter sich bringen wollte.

„Dein Dede kam eines Tages von einer kurzen Handelsreise nach Hause, die er abgebrochen hatte, als er von dem Beginn der Deportationen erfuhr. Die Tür stand offen, das Haus war verwüstet. Türken, die ihm unbekannt waren, gingen ein und aus und schleppten alles weg, was nicht niet und nagelfest war. Dede rannte von Zimmer zu Zimmer und suchte nach Jaja und seinen Söhnen, aber er fand sie nicht. An der Tür traf er einen seiner Nachbarn, der ihm wohlgesonnen war. –Wo ist meine Familie-, fragte er ihn. – Sie wurden abgeholt. Jeder Armenier aus unserer Stadt wurde das. Ali, der Nachbar nahm Dede mit in sein Haus, wo er ihn versteckte.“

Ich saß auf dem Teppich vor dem Kamin und hörte gebannt zu. Ich konnte die Augen nicht von ihm wenden. Papa streckte die Hand aus und strich mir über die Wange.

„Das ist nicht das Ende der Geschichte“, sagte er. „Nach einigen Tagen verabschiedete sich Dede von Ali, um seine Frau und Kinder zu suchen. –Sei vorsichtig, Aram und gib dich nicht zu erkennen- riet ihm sein Nachbar. Ali hatte ihn mit Wasser und Proviant versorgt. Sie umarmten sich zum Abschied, der Türke, der ihn unter seinem Dach aufgenommen und versteckt hatte und der Armenier. Sie sollten sich nie mehr wiedersehen.

Wochenlang lief er Richtung Osten. Unterwegs gab er sich als Ahmet aus. Er ernährte sich von Beeren und Obst, das er sich von den Feldern und Gärten stahl. Manchmal erbettelte er sich etwas Brot in den Dörfern, an denen er vorbeikam. Hier und da hörte er auch von den Menschenkolonnen, die vorbeigezogen waren. Dann kam der Tag, an dem er auf die ersten Toten am Wegesrand stieß. Von weitem schon drang ihm der Gestank verwesenden Fleisches in die Nase. Und dann sah er sie, aufgedunsene Körper. Dort wo sie gestorben waren, hatte man sie liegen lassen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu verscharren. Dein Dede folgte diesem Weg des Todes, Tag um Tag, auf der Suche nach seiner Familie. Am Anfang waren es alte und gebrechliche Menschen, die nicht mehr weitermarschieren konnten. Mit der Zeit wurden sie immer jünger. Jeden Toten schaute Dede sich an, während er zu Gott betete, dass seine Lieben nicht darunter sein mögen.“

Vater hatte aufgehört zu sprechen. Er stand von seinem Sessel auf und legte zwei große Holzscheite in das heruntergebrannte Kaminfeuer nach. Ich saß auf dem Teppich und konnte mich nicht rühren. Papa hatte das bemerkt. Er kniete sich vor mich hin und nahm mich in die Arme.

„Vielleicht bist du noch zu jung für diese Geschichte“, sagte er.

Heftig schüttelte ich den Kopf. „Bin ich nicht. Ich will den Rest wissen. Wie ging es weiter? Hat Dede seine Familie wiedergefunden?“ Das musste er doch, dachte ich bei mir, denn mein Vater stand ja vor mir.

Papa setzte sich wieder in seinen Sessel.

„Ja und nein“, antwortete er. „Nach Tagen des Suchens und Umherirrens, an denen er bei jeder Leiche, die er inspizierte und die nicht seine Lieben waren, ein Dankgebet gen Himmel schickte, kam es wie es kommen musste. Mitten auf der holprigen Straße fiel ihm vom weiten das kaminrote Tuch ins Auge. Als er näherkam, erkannte er die Umrisse eines zarten Körpers und rannte los. Sein Herz klopfte ihm bis zum Halse. Vor der Toten ließ er sich auf die Knie fallen und da lag sie, seine Miriam, in den Armen fest umschlungen, ihr totes Kind, Hayk.“

Ich hielt den Atem an und die Tränen schossen mir in die Augen. Im Zimmer war es still, nur das Prasseln des Feuers drang aus der Ferne an meine Ohren.

„Ein paar Meter entfernt fand er auch seinen zweiten Jungen, Arman. Ihm war der Schädel eingeschlagen worden. Das rote Tuch, das er Miriam zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte, an die Brust gepresst, blickte zornig in den Himmel und rief: „Warum? Warum hast du mir das angetan? Seine Schreie verhallten in der Weite des Landes. Er war allein weit und breit. Dort auf den Knien kauernd beschloss er nicht mehr an seinen Schöpfer zu glauben, an einen Gott der das Geschehene zuließ und der ihm alles genommen hatte. Mit eigenen Händen begrub er seine Frau und Kinder am Wegesrand. Während er das tat, verhärtete sich sein Herz und er weinten keine Träne mehr.“

„Aber“, stotterte ich. „Aber du lebst doch.“

Bevor er antworten konnte öffnete sich die Tür und Mama kam mit einem Tablett herein.

„Ein Becher Kakao wird euch guttun“, sagte sie, setzte die Getränke auf dem Couchtisch ab und ging wieder. Sie hatte Recht. Wir tranken den warmen Kakao, der unserem Gaumen und Seele gleichermaßen nutzte. So gestärkt, erzählte mein Vater weiter.

„Das kaminrote Tuch um den Hals geschlungen, streifte er ziellos umher. In den Dörfern, an denen er vorbeikam, erbettelte er etwas zu Essen und gab sich dabei als Ahmet aus. So vergingen Wochen und sein Weg führte ihn immer weiter nach Westen, Richtung Küste. Umweit des Städtchens Eskisehir, kam er an einem Bauernhof vorbei, dass ihn an sein Zuhause im Osten erinnerte. Die Türen waren eingetreten worden. Lange konnte die Gewalttat nicht her sein. Letzte Habseligkeiten lagen wahllos herum. Dede betrat das Gebäude, auf der Suche nach etwas Essbarem. Wieder ging er von Raum zu Raum, wie damals in seinem Heim in Anatolien. Es war ein armenisches Haus. Kreuze waren umgeworfen worden und im Wohnzimmer fand er eine zerfetzte Bibel, an der er achtlos vorbeiging, ohne sie aufzuheben. Warum sollte er auch. Es gab ja keinen Gott. Er schaute sich weiter um. Alles war durchwühlt, die Schränke von den Wänden gerissen. In ein paar Wochen würde das Haus komplett geplündert worden sein. Nichts würde mehr daran erinnern, dass Armenier hier gewohnt haben. So war es im ganzen Land. Er beeilte sich, bevor weitere Marodeure kamen. Gerade als er das Schlafzimmer verlassen wollte, hörte er ein Piepsen. Er schaute sich um, sah und hörte aber nichts weiter. Wird wohl eine Katze gewesen sein, dachte er bei sich. Doch da war es wieder, schon etwas lauter und jämmerlicher. Es kam von der anderen Seite des Bettes. Er lief hin und sah einen Lumpenhaufen auf dem Boden, der sich bewegte. Dede beugte sich nach unten und räumte alles beiseite. Da sah er es!“

„Was? Was sah er, Papa?“, rief ich aufgeregt dazwischen.

„Mich! Ich muss nur wenige Monate alt gewesen sein und lag da, nackt in Lumpen gehüllt. Dede traute seinen Augen nicht. Vorsichtig hob er mich auf. Er hielt mir seine Hand hin und bis heute schwört er, dass ich danach gegriffen hätte, um seinen Finger nicht wieder loszulassen. Bei der Deportation muss meine Mutter mich unter diesen Lumpen versteckt haben, in der Hoffnung, Gott würde mich retten und das hat er auch getan.

Dedes Herz quoll über vor Glück und er weinte. Bäche von Tränen rannen über seine Wangen und er schaute zur Decke hoch.

Danke Gott, Danke,

murmelte er. Dann wickelte er mich ein und verließ das Haus. Er gab mir den Namen, Hayk.“

Papa lehnte sich in seinen Sessel zurück und atmete tief durch, als ob ihm mit dem Bericht ein Stein vom Herzen gefallen wäre.

„Was ist dann passiert?“

„Dede schlug sich mit mir weiter Richtung Westen durch. Hier und da arbeitete er auf Bauernhöfen, wo er sich als Witwer, Ahmet ausgab, dessen Frau bei der Geburt des Sohnes gestorben sei. Als Tagelöhner sei er dann mit dem Kind weitergezogen. Er sorgte für mich so gut es ging. So gelangten wir, Vater und Sohn, an das Waisenhaus, das durch eine deutsche Organisation gegründet worden war und von einem Theologen Namens Dr. Lepsius geführt wurde. Das war unsere Rettung. Sie nahmen uns auf und als sie Dedes Geschichte hörten, halfen sie uns. Dede verschwieg, dass ich nicht sein leiblicher Sohn war, denn er wollte mich nicht mehr hergeben.

Dr. Lepsius besorgte uns über seine zahlreichen Kontakte die nötigen Papiere und setzte uns in Istanbul auf ein Schiff, dass uns in Sicherheit und Freiheit nach Amerika brachte.“

Papa schwieg. Lange saßen wir beisammen und sprachen nicht. Jeder hing seinen Gedanken nach.

„So hat Dede also Gott gefunden“, sagte ich.

„Ja, das hat er. Eines solltest du noch wissen. Der Tag, an dem er mich in Lumpen versteckt fand, war der 6 Januar 1918.“

Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten. Ich sprang auf und rannte johlend um den Couchtisch herum.

„Ein Christkind. Papa ist ein Christkind“, rief ich immer wieder.

Vater lachte. In diesem Moment ging die Tür auf und Dede kam herein. Ich rannte in seine Arme und unaufhörlich rief ich weiter.

„Papa ist ein Christkind.“

Seither beschwerte ich mich nie wieder, dass wir Armenier das Weihnachtsfest am 6 Januar begingen.

Weihnachten 2022/2023 – Hripsime Rüstemyan

FROHE BOTSCHAFT 2022

Schneeflocken tanzten im Schein der Bremsleuchten. Alwin kniff die Augen zusammen, die Lichter blendeten. „Besetzt!“, warnten rote Lettern rund einhundert Meter vor der Zufahrt zum Parkhaus des Einkaufszentrums „Wunderwelt“. Alwin nahm die Pudelmütze ab, wischte sich mit ihr den Schweiß von der Stirn und warf sie auf den Beifahrersitz. Ein Kombi verließ die Ausfahrt, löste ein grünes „Frei“ aus. Sekunden später bestätigte die Anzeige wieder den Sprecher des Verkehrsfunks, der mit Verzweiflung in der Stimme zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel aufrief.
„Die Verkehrsnachrichten wurden präsentiert vom EKZ Wunderwelt, ihrem Shoppingparadies. Heute, Heiligabend, bis 16:00 Uhr geöffnet!“ Alwin drehte das Radio leiser. Die Instrumententafel zeigte 14:47 Uhr. „Könnte knapp werden, wenn´s so weitergeht“, flüsterte er und zerrte am Reißverschluss seiner Steppjacke. „Ha!“, die Bremsleuchten erloschen, Alwin legte den Gang ein und zockelte fünf Meter weiter. Der Scheibenwischer schabte über die Windschutzscheibe.

Nach vier Runden im Parkdeck U3 öffnete sich endlich eine Lücke. 15:30 Uhr. Waren die Ziffern schon immer so fett? Alwin ruckelte den Schalthebel in den Rückwärtsgang, tuckerte auf das „Bitte vorwärts einparken!“-Schild zu. Reifen quietschten. Eine Hupe bellte. Der Fahrer eines Sportwagens schüttelte die Faust. Sein Bizeps drohte das weiße Maßhemd zu sprengen. Alwin setze vor, zurück, vor, zurück. Geschafft! Unter seinen Achseln war es feucht.

„Mann, Alter!“ Die zum Platzen gefüllte Einkaufstüte eines 1-Euro-Ladens traf Alwins Hüfte und brachte ihn ins Schwanken. „Alter Mann wäre korrekt“, schnaufte Alwin. Er griff nach dem Gummigeländer der Rolltreppe. Seine Nackenhaare stellten sich auf, er wischte sich die Hand an seiner Cordhose ab. Ein blonder Junge mit Undercut drehte sich zu ihm um und verdrehte die Augen, hastete mit seiner Tasche die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Fast im Takt der Weihnachtsliedbeschallung. „Jingle Bell, Jingle Bell, Jingle Bell Rock“ dröhnte es. Im Obergeschoss angekommen, tippelte Alwin drei Schritte zur Seite und atmete tief ein. Hustete, lächelte entschuldigend als Antwort auf den kritischen Blick einer alterslosen Frau. Die Haut ihrer Wangen war so straff wie ein frisch aufgezogenes Spannbettlaken. Sie schlug den Kragen ihres Pelzmantels hoch und stöckelte davon. Unter der Glasdecke des Einkaufszentrums sirrte und brummte es. Schellen klirrten. Weihnachtsmänner leierten ihr Ho-Ho-Ho. Lichterketten blinkten. Deos und Parfums mischten sich mit dem Geruch verbrannter Mandeln. Preisschilder schrien neongrün und pink aus den Schaufenstern. Ein Athlet in Jogginghose hechelte an Alwin vorbei, stolperte, krachte mit ausgestreckten Armen auf den Boden. Mit beiden Händen umklammerte er Taschen, die das Gepäck für eine Reise nach Übersee fassen konnten. Paare, Singles, Kinderhorden wogten. Alwin taumelte, blickte sich um. Da waren sie, die sieben Massagesessel. Alle besetzt, besser: belegt. Leblose Leiber lümmelten sich auf dem geschundenen Kunstleder. Familienväter mit Einkaufstüten von Mode-Discountern zu ihren trommelnden Füßen.
Alwin Blick wanderte über das Weihnachtschaos. Er atmete schwer. Seine Kopfhaut juckte.
„Gehörst Du noch dazu, Alter? Wohl nicht!“, murmelte er, ohne seine eigene Stimme zu hören. „Möchtest Du wieder volles Haar und pralle Tüten tragen?“ Eine Minute stand er so da. Verharrte. Dann schüttelte er den Kopf und ein Lächeln glättete seine Gesichtszüge. Ihm war, als nehme ihn seine Frau in den Arm. Wärme floss in seinen Bauch, es prickelte in seiner Brust. Die Lichter um ihn herum glänzten weihnachtlich, die Musik hüllte ihn ein. Er setzte einen Fuß vor den anderen. Mit ruhigen Schritten schlug er den Weg zum Westflügel ein.

Alwin schob den Jackenärmel höher, sah auf die Armbanduhr. Das Ziffernblatt glänzte im goldenen Licht des Firmenschildes. „Juwelier Christmann“ sparte nicht an Strom. Drei vor vier. „Na, klappt doch!“, dachte Alwin. Die Automatiktüren glitten zur Seite und er betrat den leeren Laden.
„Herr Schubert, stimmt´s?“ Die Dame hinter dem Verkaufstresen räusperte sich mit verkniffenen Lippen.
„Ja, Alwin Schubert. Ist der Ring für meine Frau fertig?“, fragte Alwin mit samtweicher Stimme.
„Wir haben ihn auf Größe 52 gebracht.“ Die Verkäuferin zog die Schublade unter dem Ladentisch auf. Sie wischte den Samthandschuh beiseite, nahm den Ring aus der Schatulle. Er strahlte.
„Ein herrliches Stück, 585er Gold, lupenreiner Stein, 1 Karat. Das muss Liebe sein!“ Alwins Blick funkelte mit dem Brillanten um die Wette. Die geröteten Augen der Verkäuferin schlichen zur Wanduhr.
„Bezahlt ist ja bereits. Sie verpacken das Geschenk selbst?“ Sie reichte ihm den Ring in dem rubinfarbenen Kästchen. „Das ging ja noch einmal gut, so kurz vor Ladenschluss. Ich muss schon sagen, Sie haben Nerven an Heiligabend!“
„Nerven? Erfahrung! Dies ist mein siebzigstes Christfest, da lernt man, wie es im Leben am besten geht: Immer mit der Ruhe. Und Weihnachten ganz besonders!“

Alvin steuerte aufs Treppenhaus zu. Die Massagesessel zitterten. „Freut euch auf Weihnachten 2057! Dann erwartet euch ein schönes Geschenk!“, rief er den Mittdreißigern zu. Leere Blicke trafen ihn. Alwin spitzte die Lippen. „Fröhliche Weihnacht überall“ pfeifend ließ er sich von der Rolltreppe zum Parkdeck tragen.

Eine kleine „nachweihnachts“ Geschichte…

Der kleine Jänwaar…

Jänwaar lief mit schleifenden Füssen durch die Gassen. Er schlenderte richtung Altstadt. Langsam wurde es dunkel und immer mehr Weihnachtslichter erleuchteten seinen Weg. Alles war, wie jedes Jahr, wunderschön geschmückt und die kleinen Kinder klebten ihre Nasen an die Vitrinen der Spielwarengeschäfte.Fasziniert sahen sie dem bunten Treiben der Animationen hinter den Glasscheiben zu…
„Dezember!“ , grummelte Jänwaar vor sich hin…„Dezember Dezember Dezember!Alles dreht sich immer nur um Ihn! Die Menschen freuen sich… Ja! Sie wünschen sich sogar Schnee und Kälte herbei! Es wird gebastelt, gebacken und geschmückt…und kaum sind die Festtage vorbei?
Ja, da schauen sie auf das zurückgelassene Chaos im Wohnzimmer zurück und beginnen zu pusten… Pffff… Oh je … schon vorbei! Die Zeit geht einfach viel zu schnell…
Sie geben sich dann noch etwas Mühe, räumen alles auf, weil ja noch der fröhliche Silvester vor der Tür steht …Aber am ersten Januar … Da ist es definitiv vorbei! Sie sind müde, geschafft und pleite!
Da hocken sie nun, mit vollen Bäuchen auf ihren Sofas und jammern…“Ach es war einfach zu viel…Ach , jetzt kommt ein strenger Monat …Diät, Geld ist alle, wieder arbeiten gehen ,…Sie haben dafür sogar einen Namen: Das JANUAR LOCH!“
….und weiter stöhnen sie: „ach wäre der Schnee doch bloß schon weg! Und jetzt wird’s auch nochmal richtig kalt!“…
Und die gute Vorsätze? Na ja; Ihr kennt das schon…spätestens am Zehnten des Monats, sind sie vergessen …

Jänwaar schaut sich um . Eine kleine Träne kullert wie von selbst seine Wange herunter… Aber trotz dem ganzen Elend das er gerade fühlt, hat er ein Ziel…

Da vorne ist sie: Die Altstadt! Eine kleine Gasse, schlängelt sich, auf der einzigen Wölbung der Stadt, nach oben. Dort, ganz ganz am Ende der Straße die eine Sackgasse ist, befindet sich oben auf dem Hügel ein kleines, uraltes Häuschen. Es thront dort oben, mitten auf der Erhöhung, und ein diskretes schimmerndes Licht scheint aus seinen Altglas Fenstern…

Dort will Jänwaar hin…Plötzlich wird er wieder ein wenig fröhlicher und läuft etwas zügiger …Als er die kleine antike Mercerie erreicht, hält er kurz inne und öffnet dann vorsichtig die Tür …Staunend steht er erst mal da und schaut sich um…: „woaw“ denkt er sich … „ Wunderbar, wie immer“
Der kleine Laden ist vollgepackt mit vielen, wunderschönen Objekten. Da gibt es allerlei, doch jetzt kurz vor Weihnachten sind auch schon viele kleine Lücken auf den Gestellen. Manche Kenner hatten, wie jedes Jahr, das kleine Geschäft regelrecht bestürmt, denn sie wussten, dort gibt es noch das Ursprüngliche, das Schöne, das Handgemachte…
Die nette alte Dame, der dieser kleine Ort gehörte,wusste dass ganz genau. Sie bastelte, nähte und häkelte das ganze Jahr hindurch, für diese eine Zeit, im Dezember…denn nur dann hatte sie geöffnet.
Nicht nur von ihr, selbstgemachtes, fand man dort…Auch viele schöne Objekte aus aller Welt, trug das Weiblein, das ganze Jahr hindurch zusammen. Sie wusste dass die große Stadt, vielen Menschen anderer Kulturen ein Zuhause ist. Sie mochte es, dass jeder sich wohlfühlt und in der Weihnachtszeit ein kleines Stück „Zuhause“ bei ihr finden konnte…

„Aber wo ist sie denn?“ …“Wer? Na die nette alte Dame!"
Jänwaar suchte mit seinen glitzernden kleinen Augen den Raum ab… Da!
Da hinten brennt ein licht. Da sitzt sie, wie immer ganz konzentriert und andächtig vor sich her summend, mit ihrer runden Brille mit dicken Lupengläsern …Sie näht gerade die letzten Stiche eines kleinen Stoffsäckchen zu ende…

„Da bist du ja endlich“…Sie schaute kurz auf und ihre Schalk erfüllten Augen blickten den kleinen Jänwaar direkt an …„Ich hatte dich zwar früher erwartet, war aber schlussendlich froh, dass ich noch die angefangene Arbeit beenden konnte“.

Sie stand auf , öffnete ihre Arme und Jänwaar eilte zu ihr, um sie liebevoll zu umarmen. „Komm“ sagte sie…“gehen wir nach hinten etwas Warmes trinken…Ich denke ich habe dieses Jahr eine kleine Überraschung für dich“.
Jänwaar’s verschmitzter neugieriger Blick, schaute auf sie herauf… Ein breites Lächeln zierte nun sein vorhin noch so trauriges Gesicht, den er freute sich! Die heiße Schokolade und das Weihnachtskonfekt seiner alten Freundin schmeckten einzigartig!

Da saß er wieder, wie an jedem Jahresende, in der warmen alten Küche, ganz hinten im Laden…Er aß, trank, und schüttete dabei sei Herz aus…Er erzählte wie sehr er sich wünschte, dass die Menschen auch einmal ihn anerkannten:
„Auch der Januar kann schön sein“, jammerte Jänwaar… „Wieso sehen das die Menschen nicht? Ich bringe auch warme Suppen und auch oft, viel mehr schöner weißer Schnee! Ich bringe Ruhe und Einkehr in die warmen Häuser …und, ich hab die edlen Drei Könige…Sie sind doch auch nette Gesellen! Kein Geld mehr haben heißt doch schließlich nicht…“

Jänwaar! unterbrach ihn die alte Freundin, freundlich aber resolut…
„Ich weiß das doch Alles…ich kenne dich nur zu gut …Ich weiß wonach du dich sehnst… und deshalb habe ich mir dieses Jahr etwas ausgedacht… Doch du musst mir jetzt noch helfen…Wir beenden das zusammen… Schließlich weißt du am besten, was du alles zu bieten hast“, lächelte sie ihn an.
Sie entnahm aus ihrem Korb eine lange Schlange an kleinen Umschlägen, die sie mit einer Schnur verbunden hatte. „Gefüllt mit kleinen Geschenken sind sie schon“, meinte sie dazu…“Aber ich möchte jetzt, dass du mir zu jedem Tag eine Kleinigkeit nennst, die dich ausmacht…Ich mache mir Notizen dazu…

Jänwaar schaute sie interessiert an ….

„Dann, wirst du dir zwei junge Menschlein aussuchen; ein Junge und ein Mädchen…Wir müssen dieses Jahr herausfinden, ob meine Idee auch gefällt… Zwei sind auch überschaubar, und so kannst du dann in aller Ruhe beobachten, ob mit unserer Überraschung, Freude bei Ihnen einkehrt“

„Ja …! Los!!!“, rief Jänwaar euphorisch…“Ein toller Plan!"

Da saßen sie nun, als die zwei Freunde die sie schon immer waren, und entwarfen ihr neues Projekt im Kerzenlicht…“Denn Kerzen“, sagte die alte Dame immer… „Kerzen , haben eine schöne, sanfte, kreative Kraft …und sie Duften auch so schön nach Honig“…

So meine Lieben…und das, was ihr jetzt vor euch habt, dass kam dabei heraus… Ein „Januar“ Kalender!

Jänwaar wünscht euch viel Freude damit …und dass ihr mir ja eure kindliche Seele mitspielen laßt…Denn die Leichtigkeit und die Freude sind es, was sich der kleine Jänwaar für euch wünscht!

In Liebe…

……Der kleine Jänwaar ……:relaxed:

Der allerletzte Weihnachtsbaum

Ich hatte abgeschworen! Keine Beteiligung am Konsumwahn!
Sollten sich doch alle anderen in die Bresche werfen, sich verausgaben und diesem unsäglichen Kitsch frönen. Ich wollte mich da raushalten. Mein Sohn war erwachsen, der brauchte auch keinen Tannenbaum mit Glöckchen und Kugeln und Kettchen.
Aber manchmal ändert sich alles schlagartig. Kennt man ja. Man fährt einkaufen, sieht den Trubel und denkt: Na, macht mal, viel Spaß beim Stressen.
Wie immer zog ich am letzten Tag vor Heiligabend los, um Lebensmittel zu kaufen. Der Mensch muss essen, auch zu Weihnachten. Mein Sohn wollte mir helfen. Vor dem Supermarkt gab es einen Verkaufsstand für Weihnachtsbäume. Ich grinste. Was da noch lag an Bäumen, sah richtig übel aus.
„Wir könnten noch einen retten!“, sagte mein Sohn.
„Dein Ernst?“, fragte ich.
„Klar! Los, lass uns mal gucken!“
Wir gingen auf den Platz und betrachteten die, die keiner haben wollte.
„Guck mal den, der sieht ja furchtbar aus!“
„Genau! Den nehmen wir mit!“ Mein Sohn hatte schon den Stamm fest gepackt. Wir bezahlten ihn und dann fiel uns ein:
„Upps, haben wir überhaupt Weihnachtsbaumschmuck?“ Mein Sohn sah mich an.
„Komm, lass uns in den Baumarkt gehen. Mal sehen, was die so haben!“ Langsam begann es, Spaß zu machen.
Im Baumarkt war man dabei, die Weihnachtsdekoration ins Lager zu bringen. Wir waren eindeutig zu spät dran. Eine Verkäuferin, die wir nach Kugeln und einer Lichterkette befragten, rief einen Kollegen herbei.
„Ist alles schon im Lager! Na, kommt mal mit, ihr zwei.“
Wir folgten dem Mann. Ohne große Umstände zu machen, wählten wir einen Karton mit blauen Kugeln und eine Lichterkette, bedankten uns, bezahlten und wünschten den Mitarbeitern ein schönes Fest.
Wir mussten lachen auf der Heimfahrt. Ich am meisten über mich. War ich doch schwach geworden!
Das hässliche Bäumchen sah dann geschmückt bezaubernd aus. Wir hatten neben unserem Weihnachtsbaumständer auf dem Dachboden auch noch ein Kästchen mit Strohsternen gefunden.
Ich dachte, dass wir eigentlich ein gutes Werk vollbracht hatten: Ein Bäumchen war nicht umsonst gefällt worden. Das war doch entscheidend, oder?

23.12.2022
© Katrin Streeck

mittwinterstill …

… bin ich zuhaus.

Der Küchenwecker tickt
ganz leise vor sich hin

und ich genieß’ das Grün
der Tannenzweige auf dem Tisch.
Den Glühwein hab’ ich längst entsorgt
vor Jahren schon
die Whiskyflasche weggekorkt,

'ne Tasse Kaffee duftet
zu 'nem Stück Blätterteigkonfekt -
oh Mann, das schmeckt.

Der kleine Paul und der Engel

Mutter rührte Teig.

Sie saß auf ihrem alten Küchenstuhl. Die breite Kittelschürze verhinderte, dass die Schüssel zwischen ihren Beinen durchrutschte. Mehl und Eier waren schon darin und gerade begann sie, einen dicken Würfel Margarine mit dem Rührlöffel zu zerstoßen, um das Fett unter das Mehl zu heben.

Ich saß am Tisch vor einem großen Blatt Papier. Alle meine Buntstifte lagen quer über dem Tisch verteilt.

Es war schwierig, mit einem weißen Stift auf dem hellen Papier zu malen. Es wollte und wollte nicht gut genug gelingen. Also wählte ich ein sehr helles Blau und malte in der weißen Fläche mit dünnen Strichen die Konturen eines Mannes.

Daneben befand sich schon eine Badewanne, aus der ein kleiner runder Kopf mit großen Augen schaute. Die Augen blickten mich an, aber auch diesen hellen Mann. So deutlich war das nicht zu unterscheiden.

Oben im Bild, zwischen dem Mann und der Wanne, war leerer Raum.

»Mama, wie schreibt man ICH?«

Meine Mutter rührte und rührte, und sie antwortete beiläufig, ohne den Blick von der Schüssel zu wenden: »Iii, Cee, Haa. Wozu willst du das wissen?«.
»Mein Bild heißt so,«, antwortete ich, »und ich will das dahin schreiben.«

Ich wusste längst, dass die Erwachsenen Wörter, die sie redeten oder dachten, auch schreiben konnten. Diese Wörter konnte man dann lesen und wieder neu denken oder sprechen. Das faszinierte mich. Ich ärgerte mich darüber, dass mein Vater sich weigerte, mir Lesen und Schreiben beizubringen.
»Du kannst schon rechnen.«, sagte er, wenn ich ihn bat. »Willst du dich in der Schule völlig langweilen, wenn es so weit ist?«.

»Wie schreibt man Iiii, Ceee, Haaaa, Mama? Kannst Du mir es hier aufschreiben?«

Mutter hielt inne. Der Rührlöffel kam zur Ruhe. Sie stellte die Schüssel zur Seite.

»Was malst du denn da?«, fragte sie und beugte sich über mein Bild.
»Einen Engel, Mama.«, sagte ich.
»Einen Engel?«, fragte sie.
»Ja.«, sagte ich.
»Aha!«, sagte sie.
»Und das daneben?«, fragte sie.
»Das bin ich.«, sagte ich. »Ich sitze in der Badewanne.«
»Und was macht der Engel da?«, fragte sie.
»Der hat mich besucht, als ich vorhin gebadet hatte.«, sagte ich.

Kann sein, dass dies in der Adventszeit geschah und der Teig für Weihnachtsplätzchen vorgesehen war, aber vielleicht auch zu Ostern oder Pfingsten – so genau erinnere ich mich nicht. Könnte man annehmen – wegen des Engels. Wichtig ist das allerdings nicht.

Vermutlich war es einfach ein Samstagabend, denn während Mutter die ersten Vorbereitungen für den Sonntag traf, wozu das Backen eines Marmorkuchens oder eines Streuselkuchens gehörte, wurden wir Kinder der Reihe nach in die Badewanne gesteckt. Gerade saß mein Bruder drin. Die Türen standen in der kleinen Wohnung offen und aus dem Badezimmer drangen quietschende, platschende und blubbernde Geräusche.

»Ein Engel hat dich besucht?«, fragte meine Mutter.
»Ja.«, sagte ich.
»Siehst du? Er redet mit mir.« Ich zeigte auf das Bild.
»Und hat der Engel auch einen Namen?«, fragte sie.
»Ja,« sagte ich. »Er heißt ICH.«


Der kleine Paul war ein Träumer.
Paul war neugierig, und Paul wollte so viel wissen. Er ging noch nicht zur Schule, aber er konnte Schach spielen, er konnte rechnen, und er kannte die Uhr. Doch je mehr er lernte, desto mehr Geheimnisse taten sich für ihn auf. Das größte Geheimnis war für ihn in jenen Tagen die Zeit.

Ja, er kannte die Uhr und er konnte zuverlässig ablesen, wie spät es jeweils war. Aber genau das sorgte dafür, dass die Zeit für ihn zu einem großen Geheimnis wurde. Manchmal wollte sie nicht verstreichen, die Zeiger bewegten sich nur langsam und behäbig. Ein anderes Mal müssen sie geradezu gerast sein. Er hatte das zwar nicht beobachten können, aber die Zeit verging so schnell, sie flog nur so dahin.
Was ist es, das die Zeit mal langsam und mal schnell vergehen lässt? Paul wusste keine Antwort.

Paul lag in der Wanne. Das warme Wasser bedeckte ihn fast völlig. Nur sein kleiner Kopf blieb über der Oberfläche. Dicke Schaumkronen trieben auf dem Wasser, deren winzige Bläschen nach und nach mit prickelnden Lauten platzten.

Paul träumte.
Er war weit weg im Land seiner Träume, das er so gerne bereiste. Hier traf er all die Menschen, Tiere und Geister, die Geschöpfe aus den Geschichten und Märchen, die ihm seine Mutter vorlas. Hier segelte er über die Meere und besuchte fremde Länder. Hier konnte er viele Fragen stellen und Dinge entdecken, die er so noch nie gesehen hatte.

Paul döste und träumte.
Auf einmal wurde es sehr hell um ihn herum. Der Raum verschwamm, die Konturen lösten sich auf, der Boden verflüssigte sich und die Wände schmolzen. Pauls Wanne schwamm in einem Meer aus Nichts.

Paul erschrak sehr. Große Furcht überfiel ihn. Ängstlich klammerte er sich an den Rand der Wanne. Mit großen Augen blickte er in die gleißende Helligkeit. Aber er spürte nichts, es tat nicht weh, er hatte keine Schmerzen. Er suchte etwas, woran sich sein Blick festhalten konnte, doch außer endloser Weite und hellem Licht war da nichts.

»Hallo Paul!«, hörte er eine Stimme.

Der kleine Paul erschrak noch mehr. Fast erstarrt, wagte er kaum, zu atmen.

»Hab keine Angst, Paul. Ich bin es nur.«
Die fremde Stimme war ihm plötzlich ganz nah und gar nicht so fremd. Kannte er sie schon aus anderen Träumen?
»Sieh dich um, Paul. Hier ist nichts, wovor du dich fürchten musst.«.

Die Zeit verstrich. Endlich verflog die Starre aus Pauls Gliedern und aus seinem Kopf.

»Wer bist du?«, fragte der kleine Paul.
»Ich bin ICH«, sagte die Stimme.
»Eigentlich bin ich dein ICH.«, fuhr sie fort. »Aber das ist ziemlich kompliziert. Vielleicht ist es einfacher, wenn du dir vorstellst, ich bin ein Engel.«
»Du bist ein Engel?«, fragte der kleine Paul.
»Ja.«, sagte die Stimme.
»Du bist ein Schutzengel wie in den Geschichten, die mir Mama vorgelesen hat?«, fragte Paul.
»Nein.«, sagte die Stimme. »Kein Schutzengel. Ich bin eher, sagen wir mal: ein Begleiter. Und vielleicht bin ich hier und da so etwas wie ein Lehrer.«
»Ein Lehrer?«, fragte Paul.
»Ja.«, sagte die Stimme.
»Aber ich gehe doch noch gar nicht in die Schule!«, rief Paul.
»Ich bin ja auch kein Schullehrer.«, antwortete die Stimme. »Ich lehre dich, zu leben. Ich helfe dir dabei, die Geheimnisse des Lebens zu ergründen. Gemeinsam werden wir rausfinden, was Recht und was Unrecht ist, was Gut und Böse unterscheidet. Ich werde mit dir üben, mit den Fröhlichen zu lachen und mit den Traurigen zu weinen.«

Die Stimme hielt kurz inne und fuhr fort: »Ich werde dir Ruhe geben, wenn du Ruhe brauchst – aber nur, wenn du auf mich hörst. Und ich werde dein Gemüt erhitzen, wenn dein Eifer nötig ist. Ich bin da, immer. Aber ganz besonders dann, wenn du mich brauchst, wenn dein ICH wichtig ist.«

Paul hörte ganz genau zu. Aber so sehr er sich auch mühte, er verstand kaum etwas von dem, was ihm der Engel da erzählte. Aber er spürte wohlige Wärme. Ein unbeschreibliches Gefühl machte sich in ihm breit. Es war eine Mischung aus Glück, Zufriedenheit und Zuversicht.

Der kleine Paul hatte ein neues Geheimnis ergründet: Er fühlte sein ICH. Er ahnte vage, dass er noch vieles erleben, entdecken und ergründen würde, und dass ihn sein ICH dabei stets begleiten würde.

Mutters Stimme drang aus der Küche ins Bad: »Paul! Sitzt du noch immer in der Wanne? Mach hin, dein Bruder muss auch noch rein!«

Paul erwachte aus seinem Traum. Mit prickelnden Geräuschen nahm das Badezimmer wieder seine vertraute Gestalt an. Die weißen Schaumkronen hatten sich fast völlig aufgelöst.

»Das muss ich malen!«, sagte Paul zu sich selbst und beeilte sich, aus der Wanne zu kommen.


Mutter schaute mich mit großen Augen an. Sie hatte den Teig völlig vergessen, während ich ihr von der Begegnung mit dem Engel erzählte, der ICH heißt.

Heute, viele Jahre später, weiß ich, dass sie damals sehr erstaunt darüber war. Sie hörte zu, sie schaute auf das Bild und sie schaute auf mich. Ich bin mir sicher, dass damals diese wenigen Minuten für sie sehr langsam und doch viel zu schnell vergangen sind. Sie fand die Zeit, jede Bewegung meiner kleinen Finger und Hände, mit denen ich auf das Bild deutete, jedes Öffnen und Schließen meiner Lippen, jedes Hin und Her meiner Augen, die euphorisch gestrahlt haben mussten, aufzusaugen und zu genießen. Und doch verging wohl für sie alles viel zu schnell.

»Ja, Paul!«, sagte sie, als ich endlich fertig damit war, zu zeigen, zu erzählen, zu berichten.
»Behüte dein ICH und es wird dich behüten. Gib ihm Raum, sich zu entfalten. Auch ich will dir dabei helfen. Obwohl ich kein Engel bin.« Mutter lächelte.

Sie nahm einen Stift und mit großen Buchstaben schrieb sie für mich zwischen dem Engel und dem kleinen Paul in der Wanne: ICH.

Sie strich mir liebevoll lächelnd mit mehliger Hand übers Haar, bevor sie sich wieder um ihren Teig kümmerte. Ab und zu blickte sie zu mir rüber. Ihr Gesicht war dabei so hell und klar, und wenn sie sprach, war ihre Stimme so ruhig, dass sich das Bild und der Klang dieses Augenblicks für immer in mein Gedächtnis brannten.

Meine Mutter ist längst verstorben. Nun ist es mal wieder Weihnachten und jetzt ist es wichtig. Denn ganz oben an der Spitze unseres Weihnachtsbaums thront ein Engel.

Manchmal, wenn ich auf diesen Engel blicke, kommt ein wenig Wehmut auf. Die Zeit meiner Kindheit, die Zeit mit meiner Mutter, sie raste dahin.
Das Geheimnis der Zeit bleibt ungelöst.

Doch die Wehmut weicht der Dankbarkeit. Denn in einer Sache hatte meine Mutter Unrecht: In meiner Erinnerung war sie ein Engel. Einer jener wichtigen Engel, die mein ICH begleitet haben.
Der Klang ihrer Stimme ist da, immer wenn mein ICH sie braucht.

Und dann höre ich auch die Stimmen aus dem Land meiner Träume wieder. Ab und zu kehre ich dahin zurück, träume und finde die Ruhe, die das Rasen der Zeit ein wenig verlangsamt.