Hier kommt die 20. Adventskalendergeschichte (20.12.2025):
Lauras Weihnachtsfest
Es war einmal ein armes Waisenkind, welches nie wusste, was für ein Tag heute war. Obwohl Laura vorhin erst gefragt hatte, vergaß sie es gleich wieder. Das Mädchen wuchs heran, ward freundlich, ansehnlich und klug. Nur die Sache mit der verflixten Zeit änderte sich nie. Weil sich die Menschen darüber wunderten, hörte Laura als junge Frau auf, sich nach dem Datum und dem Wochentag zu erkundigen, und bekam daher nicht mit, dass abends in allen Familien Weihnachten gefeiert würde.
Erst als sie das Radiogerät anschaltete, ward ihr gewahr, dass sie in der Heiligen Nacht wieder alleine bliebe. Ohne Liebe, Geborgenheit, Geschenke und allem, was die Menschen mögen. Laura beschloss, es heute anders zu halten. Daher zog sie ihr schneeweißes Kleid an, setzte sich ihre einzige Mütze auf, schlüpfte in die weißen Pantoffeln und lief hinaus in die Nacht.
Eine Duftwolke lag festlich über dem ganzen Dorf. Laura roch Zimtsterne, Vanilleplätzchen und abgebrannte Kerzendochte. Die Nacht ward mild und sie schlich von einem Fenster zum nächsten. Sie beobachtete Familien, die gemeinsam am Tisch saßen, beteten, aßen und sich unter dem Weihnachtsbaum mit bunten Schleifen umwickelte Päckchen schenkten. Wie gerne würde sie dazugehören. Laura schniefte, wischte sich über die Nase.
Im Waisenhaus hatte sie für andere gebastelt und sogar Geschenke bekommen. Aber das war lange her. Seit sie die geschützten Räume verlassen hatte, fühlte sie sich vergessen und das schmerzte sie am vierundzwanzigsten Dezember arg. Ihre Tränen hatte sie schon als Mädchen verweint. Dieses Jahr würde sie fröhlich sein und bestimmt nicht alleine feiern.
So machte sie sich auf und lief zum Haus ihres ehemaligen Lehrers. Sein Anwesen ward auffällig schön geschmückt. Überall prangten Holzfiguren im Garten und der einstöckige Bau ward von oben bis unten eingehüllt in Lichterketten; wie ein wärmender Mantel.
Ohne zu zögern, drückte sie mit dem Daumen auf den Klingelknopf und wartete ab. Schritte. Die Türe öffnete sich weit und ihr alter Lehrer stand im gepflegten Anzug vor ihr, musterte sie und fragte endlich: „Ja, was kann ich denn für dich tun? Sammelst du Geld für einen guten Zweck?“
Laura schüttelte verneinend den Kopf, streckte ihm die zarte Hand entgegen, sagte freundlich: „Grüß Gott Herr Lehrer“, und schob leise aber ohne Umschweife hinterher: „Darf ich mit euch Weihnachten feiern?“
Erstaunt drehte sich der Lehrer um, als müsse er Rücksprache halten. Dann sah er wieder zu Laura und sagte: „Tut mir leid, aber das geht nicht. Die ganze Familie ist hier. Wir haben keinen freien Stuhl. Warum feierst du denn nicht mit deiner Familie?“
Laura schluckte. Ihr Lehrer hatte wohl vergessen, dass es die gar nicht gab? Oder fragte er das nur, um von sich abzulenken; sodass sie gleich gehen würde? Laura wünschte frohe Weihnachten, entschuldigte sich für die Störung. Der Lehrer schloss zufrieden die Türe und sie lief wieder in die Nacht hinaus.
Sie strolchte vorbei am Gemeindezentrum, wo sie wöchentlich im Chor sang. Auf der anderen Straßenseite lag das schwach beleuchtete Seniorenheim. Dort besuchte sie einsame Alte, las vor, hörte Musik, spielte und redete mit ihnen.
Meistens hatte sie das Gefühl, dass die Dorfbewohner sich freuten, sie zu sehen. Dennoch war da immer eine unsichtbare Barriere. Eine Hürde, die sie niemals überschreiten durfte. Und die lag genau da, wo das ureigene Familienleben begann. Laura seufzte, lief weiter.
Wenn sie der Lehrer schon nicht mitfeiern ließ, wer dann? Laura schob die Mütze hin und her, bis ihr der Bürgermeister einfiel. Gehörte es nicht zu seinen Aufgaben, dafür zu sorgen, dass seine Bewohner am Weihnachtsabend Freude empfänden?
So machte sie sich auf den Weg in die neue Siedlung, spitzte kurz durchs Fenster, erspähte pausbäckige Kindergesichter, zufriedene Eltern und Großeltern. Laura umrundete das Haus und klingelte. Als sie Schritte hörte, stolperte sie rückwärts und wartete lieber drei Stufen tiefer.
Mindestens so erstaunt wie der Lehrer zuvor, blickte der Bürgermeister, in der Hand eine dampfende Pfeife, auf den ungebetenen Gast herab. An ihm vorbei strömte Laura der Duft von gebratener Gans, Klößen und blauem Kraut in die Nase. Schließlich fragte das Oberhaupt des Dorfes: „Weißt du denn nicht mal heute was wir für ein Tag haben? Warum bist du nicht zuhause?“
Die junge Frau senkte kurz den Kopf, zog die Mütze ein Stück über die Ohren, schaute hoch und sagte voller Hoffnung: „Darf ich Weihnachten mit euch feiern?“
„Was?“, fragte der Bürgermeister ungläubig und winkte ab. „Laura, wir feiern mit der ganzen Familie. Es ist kein einziger Stuhl frei und gegessen haben wir auch schon.“
Die junge Frau nickte verständnisvoll, wünschte ein frohes Fest und lief abermals hinaus in die dunkle Nacht.
Gestern oder war es vorgestern, hatte sie eine Sendung im Radio verfolgt, in der Kinder zu Wort kamen. Die Moderatorin hatte gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, Weihnachten mit einer fremden Person zu feiern. Die Antwort aller Kinder war: „Nein, bestimmt nicht!“
Jetzt lief Laura doch eine Träne über die Wange. Sie wischte sie mit dem Ärmel ihres Kleides fort und nahm sich vor, nicht aufzugeben.
Nur wo, bei wem sollte sie es jetzt noch versuchen? Wenn sie sich nicht beeilte, wäre das Fest vorüber. Laura dachte an Pfarrer Alfred, doch der verstarb im letzten Sommer und es war noch kein neuer da. Sie hatte früher oft daran gedacht, mit dem gütigen Pfarrer ihre Sorgen und Ängste zu besprechen, es aber nie gemacht. Schließlich klagten ihm so viele Bewohner ihr Leid, da wollte sie den armen Mann nicht auch noch belasten.
Laura stand auf dem schräg ansteigenden Marktplatz, vor der mächtigen Kirche, hörte die Orgel, die die Christmette begleitete und setzte sich auf die oberste Stufe neben den breiten Eingang. Genau hier war sie kurz nach ihrer Geburt von einer Fremden, die nie ausfindig gemacht werden konnte, abgelegt, und vom Mesner gefunden worden. Laura zog die Knie an, betrachtete ihre Pantoffeln, ließ die helle Spitze ihres Kleides durch die Finger gleiten und wischte sich zwei Tränen von den Wangen. Weiß war ihre Lieblingsfarbe. Weiß wie der Schnee, der das Dorf auch diese Weihnachten vergessen hatte; weiß wie blumige Sommerwolken im Himmel; weiß wie die Zuckerwatte, für die sie meistens kein Geld hatte; weiß wie das Hochzeitskleid, das sie eines Tages tragen würde. Und weiß, wie die Schneebälle, mit denen ihre Mitschüler sie früher an der Bushaltestelle begrüßten.
Laura zuckte, als die Kirchenglocken über ihr zusammenschlugen. Der alte Mesner zwinkerte ihr zu, hielt die Türe auf, verabschiedete jeden und wünschte frohe Weihnachten. An den Festtagsschuhen vorbei, waberte eine Weihrauchwolke ins Freie. Laura umschlang ihr Kleid, zog es enger an sich und sah zu, wie die Kirchgänger an ihr vorbeiströmten. Nur wenige schauten runter.
Die Frau des Lehrers fragte im Vorbeigehen: „Mensch Laura, was machst du denn hier auf der kalten Treppe?“
Des Bürgermeisters Frau sagte: „Ich habe dich drinnen gar nicht gesehen. Fröhliche Weihnachten Laura!“
Ein ehemaliger Mitschüler blieb stehen. „Hey Laura, alles klar bei dir? Frohe Weihnachten!“ Er bückte sich, berührte kurz ihre Schulter und lief schnell weiter.
Laura nickte jedes Mal, wünschte frohe Weihnachten zurück und fragte sich, wer wohl den Gottesdienst geleitet hat? Wahrscheinlich wieder ein Pfarrer aus dem Nachbardorf oder einer aus Indien oder aus Südamerika?
Plötzlich stand die achtjährige Anni neben Laura, ließ sich von den Eltern nicht einfach weiterschieben. Laura schaute das Mädchen freundlich an und fragte: „Hast du alles bekommen, was du dir gewünscht hast?“
Anni nickte zufrieden, zeigte mit dem ausgestreckten Arm über den Marktplatz und schob hinterher: „Na ja, fast.“
„Huch“, erwiderte Laura überrascht und fragte das Mädchen: „Was fehlt dir denn?“
Anni setzte sich neben sie und flüsterte ihr ins Ohr: „Nur Schnee!“
„Oh“, entfuhr es Laura, „tut mir leid. Vielleicht nächstes Jahr? Na ja, ich schaue mal, ob ich da was machen kann.“
Anni lächelte, sagte zuversichtlich: „Bestimmt! Machs gut Laura!“, und folgte den Eltern, die unten an der Treppe auf sie warteten.
Als die letzten Schritte verklungen waren, fiel ihr wieder die unbekannte Mutter ein. Lediglich mit einem weißen Spitzendeckchen, so wurde es ihr erzählt, habe sie sie hier abgelegt. Laura lehnte sich zurück, schloss die Augen und begann zu träumen. Von dem Deckchen. Von Frau Holle. Von Weihnachtsplätzchen und Stollen. Schokolade, Nougat und Marzipan. Geschmückten Tannenbäumen und buntem Geschenkpapier.
Plötzlich spürte sie ein Kitzeln auf den eiskalten Wangen. Es hatte begonnen zu schneien. Also doch noch. Beinahe sogar pünktlich. Anni würde sich freuen.
Laura blinzelte durch die dicken Flocken, rieb sich über die Beine, fror entsetzlich. So sehr, dass sie nicht aufstehen mochte, konnte. Ihre Füße fühlten sich lahm an, als seien sie nie einen einzigen Schritt gegangen. Ihr fiel das Märchen ein von dem Mädchen mit den Zündhölzern. Ja, so ein Zündholz hätte sie jetzt auch gerne. Wenigstens eines.
Ob ein Gebet half? Mit Pfarrer Alfred zusammen hätte sie das getan. Aber so ganz alleine? Das fühlte sich unvollständig an. Sie vermisste ihn so sehr, dass sie nicht mehr gebetet hatte, seit er sie verlassen hatte. Einfach so. Gestorben. Ohne sich zu verabschieden.
Laura senkte den Blick, betrachtete die ineinandergelegten Hände. In dem Moment, als sie spürte, dass sie beinahe gefroren waren und sie sie nicht bewegen konnte, segelte wie aus dem Nichts, ein weißes Spitzendeckchen an ihrem Gesicht vorbei. Laura gab einen erschrockenen Laut von sich. Dann beobachtete sie, wie sich das Deckchen über die eiskalten Hände legte, sich von ganz alleine anschmiegte. Wohlige Wärme breitete sich spürbar aus, von den Fingern über die Arme, die Schultern, den Kopf, samt Ohren, von dort runter in den Bauch und weiter in die Beine, bis in die Fußspitzen.
Das tat gut. Laura gähnte, blinzelte dankbar und schloss die Augen.
Am frühen Morgen sprach sich in Windeseile herum, dass der Mesner Laura unter einer dichten Schneedecke auf der Eingangstreppe der Kirche gefunden hatte. Erfroren.
Der Lehrer beteuerte: „Sie sah aber doch gestern Abend aus, als sei sie bei bester Gesundheit.“
Der Bürgermeister sagte: „Also mit dem Wetter konnte ja wirklich niemand rechnen. Armes Mädchen. Ausgerechnet an Weihnachten!“
Seltsam fand der Mesner, dass Laura ein weißes Spitzendeckchen in den Händen hielt. Er würde einen Meineid schwören, dass es die Decke war, in der er sie, eingewickelt als Säugling, hier gefunden hatte. Er war sicher, dass sie das Deckchen der Mutter mit ins Grab gelegt hatten. Wie also sollte das Mädchen an sie gekommen sein?
Dass es in der Heiligen Nacht doch noch schneite, fanden alle Dorfbewohner sonderbar.
Nur Anni, die nicht mitbekommen hatte, was passiert war, rannte von einer Haustüre zur nächsten, klingelte, klopfte und verkündete strahlend: „Den Schnee haben wir Laura zu verdanken. Ist das nicht großartig?“