Hier kommt die 18. Adventskalendergeschichte (18.12.2025):
Wunder
Mildreth Hargrove hatte ihr gesamtes Leben in London verbracht. In einem kleinen Haus, gegenüber dem Hydepark war sie geboren, in diesem Haus wollte sie auch sterben. Genau wie ihre Eltern vor ihr. Mit ihren 70 Jahren war sie nicht mehr die jüngste. Das Leben war nicht immer freundlich zu ihr gewesen, voller Arbeit und Entbehrung. Kinder waren ihr nicht vergönnt, genauso wenig wie ein Ehemann. Alles, was ihr geblieben war, war ihre Bleibe und Myrtel, ihre schwarze Hauskatze.
Es schneite schon seit Tagen, die Temperaturen sanken in der Nacht unter den Gefrierpunkt. Mildreth kämpfte mit ihrer Arthrose, die bei Kälte doppelt so schmerzhaft war. Besonders ihre Finger pochten, sie konnte kaum etwas greifen, ohne dass es auf dem Boden landete. Zu allem Übel war die Heizung seit Tagen ausgefallen und ihr fehlte das nötige Geld für die Reparatur. Sie liebte das alte Haus so sehr, dass sie sich jeden Pfennig für die Instandhaltung vom Mund absparte. Lieber aß sie nichts. Hauptsache, die Katze hatte genug zu fressen und ihr Refugium brach nicht über ihrem Kopf zusammen.
»Es gibt Leute, denen es viel schlechter geht, Myrtel. Denk an die Wohnungslosen, die bei diesem Wetter draußen übernachten müssen. Immerhin haben wir ein Dach über dem Kopf. Und morgen ist Heiligabend, nicht auszudenken, wie es für diese Menschen sein musste, Weihnachten in Kälte und Armut zu verbringen. Ja, ich weiß, wir sitzen auch im Kalten und sind nicht reich, aber wir werden überleben.«
Die Katze streckte sich und nahm ihren Platz neben dem warmen Ofen ein. Mildreth versuchte trotz ihrer schmerzenden Finger, Plätzchen zu backen. Zimt, Mandel, Marzipan und Schokoladenduft vermischten sich zu einer wahren Duftexplosion. Das ganze Haus roch wie in einer Weihnachtsbäckerei. Dazu machte sie in einem 5-Liter-Topf Glühwein.
»Und wenn ich fertig bin, bringen wir das alles, zu den Obdachlosen in den Hydepark.«
Die Bürgersteige waren mit Eis überzogen, eine wahre Rutschpartie. Es schneite noch immer und war bitterkalt. Mildreth zog ihren mit Leckereien bepackten Einkaufstrolley hinter sich her. Gott sei Dank hatte sie einen dicken Schal. Mütze und Fellfäustlinge angezogen. Myrtel zog es vor, im Haus zu bleiben. Wer konnte es ihr verdenken?
»Guten Abend, Miss Hargrove, was machen Sie bei diesem Wetter draußen?«, fragte eine dunkle Stimme hinter ihr.
»Herr Pfarrer, dasselbe könnte ich Sie fragen.« Mildreth lächelte verschmitzt. Pfarrer John war ein guter Mann. Er kümmerte sich hervorragend um seine Gemeinde.
»Ich gehe in die Kirche, zur Armenspeisung.«
»Das ist schön. Ich spaziere ein wenig im Hydepark und vertrete mir die Beine.« Warum sie log? Pfarrer John würde sie von ihrem Vorhaben abhalten, das nicht ganz ungefährlich war. Unter den Wohnungslosen gab es nicht nur dankbare Menschen, sondern leider auch viele Kriminelle. Vor allem harte Drogen und Alkohol waren ein großes Problem.
»Dann seien Sie vorsichtig, es ist wirklich extrem glatt.« Er tippte sich kurz an den schwarzen Hut und verschwand nach links in einer Seitenstraße.
Nur wenige Meter weiter, befand sich der Parkeingang. Salz hatte hier niemand gestreut. Die Wiesen und Wege waren zugeschneit, die Bäume weiß und strahlend. Sie mühte sich mit ihrem Trolley, der im Schnee stecken blieb, und plötzlich wäre sie fast über einen Baumstamm gestürzt. Nein, das war kein Baumstamm, es war ein junger Mann, der bewegungslos im Schnee lag. »Um Gottes willen, können Sie mich hören?« Mildreth beugte sich über den Mann und rüttelte an seiner Schulter.
»Ich höre Sie, mein Bein …Ich kann nicht aufstehen«, flüsterte er kraftlos.
»Kommen Sie. Ich helfe Ihnen. Sie sind ja schon fast erfroren.« Das Weihnachtsgebäck und der Glühwein waren vergessen. Mit aller Kraft, die in ihren alten Knochen steckte, hievte sie den Mann so weit nach oben, dass er aus eigener Kraft in den Stand kam.
»Kommen Sie … Ich wohne gleich da drüben, da können Sie sich am Ofen aufwärmen. Meine Heizung ist leider kaputt.«
»Vielen Dank. Mein Name ist Michael, und wie heißen Sie?«
»Nennen Sie mich einfach Milli von Mildreth.«
»Nochmals, vielen, vielen Dank, Milli, ohne sie wäre ich dort gestorben.«
»Wie ist das denn passiert?«
»Ich wurde ausgeraubt und dann zusammengeschlagen.«
»Dann müssen wir Sie zur Polizei bringen. Sie müssen diese Verbrecher anzeigen!«
»Nein, das nützt doch nichts. Die trugen Masken. Ich würde sie nicht wiedererkennen.«
Mildreth war da anderer Meinung, erwiderte jedoch nichts.
In ihrem Haus angekommen, reichte sie dem halb Erfrorenen eine warme Decke aus feinster Wolle, eine trockene Strickjacke und eine Jogginghose mit einem dicken Innenfutter aus Plüsch. Sie wärmte eine Suppe auf, die eigentlich für den nächsten Tag gedacht war, teilte ihr letztes Stück Brot und reichte es dem jungen Mann. Zu guter Letzt kramte sie eine alte blecherne Wärmflasche hervor und füllte sie mit heißem Wasser. Michael nahm sie dankbar an und legte sie auf seinen Schoß.
»Es tut mir leid, dass es hier so kalt ist, aber meine Heizung …, sagte ich ja schon.«
»Ihr Dach ist auch undicht.«
»Ich weiß.« Milli seufzte. »Was soll man machen, wenn alles so teuer geworden ist und die Rente knapp zum Überleben reicht.«
»Es sind harte Zeiten, für einige von uns. Deshalb bin ich Ihnen unendlich dankbar, dass Sie hingesehen und mich nicht einfach haben liegen lassen. Immerhin könnte ich ein Dieb sein, der alles nur vorgetäuscht hat.«
»Das ist wahr. Aber das Risiko nehme ich gerne in Kauf.«
»Danke, Milli.« Er drückte vorsichtig ihre Hand und lächelte.
»Sie können auf der Couch schlafen, wenn Sie möchten. Ich hole ihnen ein Kissen.«
Michael nahm den Vorschlag mit Freude an und Milli musste sich eingestehen, dass sie es genoss, einmal nicht alleine zu sein.
Am nächsten Morgen war er verschwunden. Sang und klanglos. Ein bisschen enttäuscht stellte Mildreth den Kessel mit Wasser auf den Herd. »So ist das eben, Myrtel. Die jungen Leute haben keine Zeit. Heute ist Heiligabend, da will er bestimmt schnell zu seiner Familie. Verstehe ich. Nach einer heißen Tasse Tee sieht die Welt schon wieder besser aus. Wirst du sehen.«
Die Tür Schelle riss sie aus ihren Gedanken. »Oh, vielleicht kommt er zurück.«
Vor der Tür stand ein Mann in einem teuren schwarzen Anzug. Auf seinen glatt polierten Schuhen fingen sich die ersten Sonnenstrahlen. Es hatte aufgehört zu schneien.
»Miss Hargrove?«
»Die bin ich.«
»Ich habe eine dringende Sendung für Sie.«
Er überreichte ihr einen Aluminiumkoffer mit Zahlenschloss.
»Die Zahlenkombination lautet 1111.«
»Das muss ein Irrtum sein, ich erwarte nichts.«
»Nein, das ist kein Irrtum, Miss Hargrove. Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Fest.« Der Mann ging ohne ein weiteres Wort.
In dem Koffer befand sich Bargeld. Eine halbe Million Pfund Sterling, um genau zu sein.
Anbei ein Brief:
Meine liebe Millie. Sie haben mich gerettet, selbstlos aufgenommen und mit mir das wenige geteilt, dass Sie besitzen. Gott sorgt für seine Erdenengel. Ein gesegnetes Fest und von nun an ein leichteres Leben. Bewahren Sie ihr gutes Herz.
In Liebe, Michael-Erzengel
Himmelsstraße 500
008000 Im Gefilde der Seligen