Verrehrte Mitstreiter im Namen des Wortes; ich bedanke mich für Eure Kritiken. Ich weiss, dass meine Sicht auf die Welt vielleicht etwas anders ist und diese nicht von Jedem gemocht oder verstanden wird. Din-Norm - siehe oben. Aber ihr habt mir Mut gemacht, deshalb will ich Euch noch einen markanten Text nachschiessen:
*Kalle
Kalle Brodersen war ein Schwein, ein gigantisch egoistisches, immer auf seinen Vorteil bedachtes Schwein. Das Problem war, dass er überhaupt nicht so aussah. Kalle hatte das gut geschnittene Gesicht des ewigen Bengels mit hohen Wangenknochen und einer markanten Nase mittendrin, strahlendweißen, ebenmäßigen Zähnen und das ganze Ensemble war von einem Wust schwarz-brauner Haare perfekt eingerahmt. Diesen Haarschnitt kannte Bruno nur von Pastorensöhnen, die komischerweise immer Matthias hießen. Ohne Zweifel, Kalle war ein gutaussehender Mann und mit diesem dentalen Strahlen konnte er einen Ballsaal erleuchten. Oder eben das Hinterzimmer einer Kneipe. Und wer würde Jemandem mit so dermaßen perfekten Zähnen nicht vertrauen? Eben.
Bruno vermutete, dass Kalle bereits als Spermie allen anderen Mitbewerbern im Kampf um das eine, verheißungsvolle Ei Beine gestellt und sie abgezockt hatte, noch bevor das eigentliche Rennen überhaupt begonnen hatte. Schon seine Zeugung auf einem alten Sofa, dass in seinem morbiden Charme eher zu einem Besäufnis, einem Schlaganfall oder einem erweiterten Suizid einlud, war ein Akt des Ego zwischen Bügelwäsche und gebratenem Schweinehirn mit Spiegelei. Kalles Vater, ein schwerer, kantiger Mann mit großem Alkoholproblem, hatte ihm bereits in jungen Jahren beigepult, dass mit Arbeit nichts zu erreichen sei. Der alte Brodersen war seiner eigenen Philosophie allerdings nur insoweit entsprochen, als dass er Kalles verhärmte, gehetzte Mutter zur Frühschicht in die Fischkonservenfabrik schickte, während er selbst die meiste Zeit seines Lebens in seinen geliebten Fernsehsessel furzte und sich volltrunken in die Hosen pisste. Alle dachten, dort, in diesem Fernsehsessel, würde der alte Brodersen auch in die ewigen Jagdgründe eingehen, aber in dem Frühjahr, in dem Kalle fünfzehn Jahre alt werden sollte, wurde sein Vater von einem ALDI-Laster überfahren, der mit Gläsern voller abgelaufenem Apfelmus auf dem Rückweg in die Zentrale war und einem Hartz-4-Empfänger ausweichen musste, der um diese Uhrzeit auf der Straße eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatte. Kalles Karriere begann in der dritten Klasse mit kleinen Diebstählen im Supermarkt: Kaugummi, Zigaretten und Schnaps, den er bei den Pennern am Bahnhof für den unschlagbaren Preis von einer Mark pro Flasche vertickte, hatte sich bei den Diebstählen aber so offensichtlich blöde angestellt und wurde ergo vom Filialleiter erwischt. Die darauffolgenden Strafen und Standpauken, die ihm die jeweiligen Erwachsenen verpassten, waren ihm nach dem dritten und vierten Male so unangenehm, dass er sich schnell einer anderen Art der Geldgewinnung zuwandte. In der sechsten Klasse steckte in seiner Dino-Brotdose ein Butterfly-Messer, er hatte bereits zum zweiten Male erfolgsarm das Rauchen aufgegeben und ein Jahr darauf war er zum Drogendealer der Schule avanciert. Als das nach seinem jämmerlichen Schulabschluss nicht mehr so lief, begann Kalle mit irrwitzigen Ideen, anderen Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Eine dieser Ideen, die unter Kripobeamten immer noch gern erzählt wurde, war die Gründung der Selbsthilfegruppe „Schwule Analphabeten“. Durch Zufall hatte Kalle auf dem Flohmarkt einen großen Karton voller Lesebücher aus den sechziger Jahren erstanden – „Willi und Dora aus Fischbach“ – und einen wegen Sodomie abgehalfterten Zoo-Tierarzt engagiert, der im Hinterzimmer einer Kneipe hübschen, schwulen, jungen Männern das Lesen und Schreiben lehrte. Und es war kaum zu glauben, wie viele schwule Männer in dieser Stadt nicht lesen und schreiben konnten! Jedem der Jungs hatte Kalle ein knallbuntes, absolut zweckfreies Diplom versprochen, jeweils 999,- € kassiert und war zudem an den verzehrten Speisen und Getränken prozentual beteiligt. Der ganze Schwindel flog auf, als sich der Tierarzt, der eigentlich nur auf Frauen, Ziegen und Esel stand, in einen der Jungs hoffnungslos verknallte und diesem nach einer Nacht voller Sex, Alk, Sperma und Tränen gestand, dass er gar kein Lehrer sei und es die wissenschaftliche Lehrmethode „Clap, stump and read“ aus Oakwood, Wisconsin gar nicht gab. Kalle musste damals in einer Nacht- und Nebel-Aktion die Stadt verlassen, weil eine Truppe wütender, modisch gekleideter, hübscher Jungs tagelang auf der Suche nach ihm die Straßen durchkämmte. Und Kalle Brodersen war zwar auf der Flucht, jedoch mit rund 40000,- € in der Tasche, mit denen er begann, weniger kriminelle oder wenigstens weniger durchschaubare Geschäfte zu machen. *