Liebe Alex,
es mag dir vielleicht ein bißchen spinnert vorkommen, wenn ich mit so viel Insistenz an der purpurnen Zunge Melissas “herummache”, aber es ist mir ein Bedürfnis, hier mitzuteilen, was mich umgetrieben hat, als ich deine Einlassung dazu las. Womöglich ist’s ja ein Lehrbeispiel für gewisse “inner-author”-Zustände (wenn das jetzt mal so heißen darf) – und vielleicht bin ich gar nicht so allein damit …
Es ist so, daß mein virtueller Schreibgriffel diese Zueignung mehr oder weniger “ohne Kopf” ins elektronische Papier gegraben hat, was ich im Schreibvorgang öfters erlebe. Will sagen: Wenn ich nachlese, was notiert wurde – das kann kurz danach sein oder auch Stunden später (manchmal sogar erst nach Tagen) --, passiert es gelegentlich, daß mich dann so eine Fügung gewissermaßen “anspringt”, als laufe gerade eine sinnliche Affektion ab (wie zumeist “draußen”, “in der Welt”), wie etwas, das “einen packt” und Eindrücke hinterläßt, die nicht nur am Bewußtsein “vorüberplätschern” wie das Meiste, was uns begegnet (andernfalls würden wir ja auch irre werden wegen Reizüberflutung), sondern “sich darin eingraben” …
Nebenbei bemerkt: Nach meine Überzeugung ist das ein fundamentaler Vorgang der Bildung von ‘Erinnerung’ (jedenfalls von bestimmten Erinnerungen), worüber ich mir auch in theoretischen Zusammenhängen etliche Gedanken mache, weil dieser scheinbar lapidare Vorgang unter analytischen Aspekten eines der schwer zu fassendsten Phänomene überhaupt ist – es gibt bis heute keine epistemisch überzeugende Theorie des Erinnerungsvorganges; wir wissen also gar nicht, was dabei (mit uns) passiert, wenn es passiert … obwohl es beinahe unablässig vor sich geht!
Aber davon abgesehen: Für mich war beim nachlesenden “Identifizieren” von ‘Purpur’ klar, daß es eine gelungene Wendung sein müßte. Denn: Mich sprangen während der unnennbaren Zeit eines einzigen Wimpernschlages zahllose Assoziationen an, optische, auch olfaktorische und taktile, die ein “ganzes Bild” evozierten, also ein Ensemble von Wahrnehmungen im Zusammenspiel mit inneren Zuständen, aus denen sich binnen kürzester Zeit auch Gedankenketten formten, die schließlich in einem Vorstellungsszenario zusammenliefen, dessen Kern ich zwar nicht annähernd umreißen könnte – dazu war er viel zu komplex --, doch weiß ich noch heute, daß mich damals z.B. auch “königliche” Assoziationen umspülten. Immerhin: Purpur ist seit Unzeiten die Farbe der irdischen Herrlichkeit – und wer oder was in sie gekleidet wurde, galt als von einer Aura umzüngelt [sic], die Exorbitanz implizierte, Begnadung und Heil.
Die Gedankenkette – das Assoziationsknäuel – ließ die Icherzählering von Melissas purpurner Zunge umschmeichelt erscheinen und damit an ihrer symbolischen [sic] Glorie partizipierend. Die Begriffe ‘Exorbitanz’ und 'Ekstase" weisen in der ersten Silbe nicht nur phonetische Ähnlichkeit auf, sondern an beiden kondensiert auch semantisch Verwandtes i.S. eines “Herausstehens” bzw. “Herausgeschleudert-Seins” (aus dem sog. “Normalen”), was mir gut auf die Assoziationen der Namenlosen zu passen schien, auch im Kontext ihrer Sehnsucht infolge eines Desiderats (auf Alleinsein und Lustabsenz gleichermaßen bezogen); weil ja etwa die berührende, küssende und leckende Zunge Melissas sie, die Sehnsüchtige, gewissermaßen in deren Purpurschleier hineinholen würde, wenn wir einen imaginären “Abfärbeprozeß” (also in der symbolischen Dimension) mitunterstellen.
All das und noch viel mehr wurde während des Wieder-Lesens im andenkenden (vgl. dazu Hölderlins wunderbares Gedicht!) Bewußtsein virulent; und es schien mir, nichts, gar nichts – kein Ausdruck (und nicht etwa ‘Wort’) – könne all das so in sich schließen wie ‘Purpur’.
Vielleicht ist das jenem Signifikationsprozeß nicht unähnlich gewesen, der bei @Buchling abgelaufen sein mag, als ihre Finger die symbolische Konfiguration mit den Großvaterhänden und Pfannkuchenbacken über die Tastatur aufs virtuelle Blatt Papier schickten. Bei der Besprechung hatten einige verehrte Forenmitglieder angemerkt, das passe nicht, während etwa meine Wenigkeit es geradezu großartig fand: Mir scheint, solche Dinge seien ein Musterbeispiel für vollkommen unterschiedliche Assoziationsmuster diverser Leser trotz gleichen Signifikantenbestandes. Und damit läßt sich der Kreis schließen zum Anfang dieser kleinen Meditation: Denn was wir je assoziieren, wenn wir lesen, hängt maßgeblich an Erinnerungen, deren Bestand aber bei jedem Leser anders ist. Folglich gibt es DEN LESER überhaupt nicht; und – nur auf den ersten Blick sollte das jetzt noch paradox klingen, dann aber nicht mehr – folglich gibt es auch DEN ROMAN (etwa über die Namenlose Tagebuchschreiberin oder über Buchlings Mizú) nicht, sondern dieser Roman konstituiert sich überhaupt je erst, sobald der Blick eines interessierten Leserauges darauf fällt, wodurch dann logischerweise auch immer nur eine je individuelle Lektüre angeregt wird, bei welcher die Großvaterhände oder die purpurne Zunge Melissas einmal diese Assoziationen “aufpoppen” lassen können und einmal jene.
Du verstehst jetzt vielleicht, nach dieser kleinen meta-literarischen Reflexion, liebe Alex, warum ich im erstern Augenblick … ähm … geschockt war (natürlich hab ich’s so gut wie möglich zu kaschieren versucht ), als du meiner geliebten Purpurzunge Melissas das placet verweigertest. Und es hat mich so umgetrieben (weil ich nicht wollte – nicht einfach so “wahrhaben” konnte --, daß mein ganzes damals entstandenes Assoziations-Universum gegenstandlos werde), daß ich mich dann letztlich gezwungen sah, den “empirischen” proof zu machen, wobei sich – wem oder was auch immer sei Dank! – Beispiele fanden, die mit der innerlich vorgestellten Zungenfarbe in Einklang kamen, ohne daß man Heidelbeermus in Anspruch nehmen müßte.
Mein Punkt ist: Die hier angesprochenen symbolischen Konnotationen – also etwa die “Adelung” des einsam-sehnenden Körpers der Ich-Erzählerin (durch Melissas ihn abschleckende purpurne Zunge) – wären im Fall der Fälle mindestens als schief, wenn nicht gar verfehlt – falsch plaziert – anzusehen gewesen. Wobei mir’s nicht um die narzißtische Kränkung zu tun ist, gestümpert zu haben (das passiert sowieso immer wieder), sondern tatsächlich um das “schöne semantische Feld” dieses Ausdrucks, das dann natürlich im Meer der Irrelevanz versunken wäre …
Hab ich mich verständlich machen können?
Viele Grüße von Palinurus