The Dream Before -- Leseprobe aus dem Tagebuch einer Namenlosen

Guten Morgen zusammen,

ich stelle eine neue Leseprobe ein, aus einem Konvolut von Einzelkapiteln, die bisher (noch) nicht in eine endgültige Ordnung gebracht wurden und den Arbeitstitel Tagebuch einer Namenlosen tragen.

THE DREAM BEFORE

Das hier präsentierte Kapitel aus den Tagebüchern einer Namenlosen setzt die Kenntnis dreier Lieder und das Stück Walter Benjamins über den Angelus Novus von Paul Klee voraus; außerdem soll noch darauf hingewiesen werden, daß Walter Benjamin in seinem Sterbeort Portbou an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich beigesetzt wurde, nachdem er den Freitod gewählt hatte, als er keine Aussicht mehr sah, den Nazis zu entkommen, weil ihm die spanischen Behörden die Einreise nach Spanien auf der Flucht im Spätsommer 1940 verweigerten.

Laurie Anderson - The Dream Before
https://www.youtube.com/watch?v=3-E16QcVe6k

Janis Joplin - Little Girl Blue
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Leonard Cohen - Last Year’s Man
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Der Text zum [I]Angelus Novus:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
[Walter Benjamin: [I]Über den Begriff der Geschichte; These IX]

Vielleicht hilft es weiters noch fürs Verständnis einiger Passagen des letzten Abschnittes (weil dabei auf Dinge rekurriert wird, die nicht unbedingt allgemein bekannt sind), daß die dort erwähnte und damals noch blutjunge Anna Maria Blaupot ten Cate die letzte (große) Liebe Walter Benjamins war, als sie sich auf Ibiza trafen. Die Insel war während der Nazi-Zeit Zufluchtsort vieler Exilanten gewesen, weil man dort sehr billig leben konnte …

Der in diesem Zusammenhang auch erwähnte hieros gamos ist die Heilige Hochzeit der Alten Völker, bei der über einen öffentlich zelebrierten Geschlechtsakt zwischen dem König und der Priesterkönigin (als Vertreterin der Großen Göttin) die Fruchtbarkeit der Erde jährlich gesichert wurde und auch Tote aufzuerstehen vermochten.

TheDreamBefore.pap (86.3 KB)

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Lieber Palinurus,

ich habe deinen Text gelesen und will angesichts vorheriger Kommentare Anderer nicht unerwähnt lassen, dass es mir ausgesprochen schwer fällt, dir zu folgen.
Es ist mir dann auch nur in Teilen gelungen, unter Einsatz von Hilfsmitteln wie Google und Wikipedia auf einem zweiten Bildschirm und schließlich Balabolka, was vorliest, während ich selber Subjekt, Prädikat und Objekt im Auge zu behalten versuche. Schließlich habe ich dann schmerzlich erkannt, dass mir zum wirklichen Textverständnis mindestens 6 Semester „Philosophie und linguistische Theorie“ fehlen.

Ich halte es allerdings für unangemessen, mich darüber zu ärgern. Es ist deine Sache, deine Sprache zu wählen, aber auch deine Aufgabe (m.E.), dich deiner Klientel verständlich zu machen. Erwähnenswert scheint mir das, weil ich durchaus (gerade jetzt) bedeutsam finde, was du zu sagen hast und bedauerlich, wenn dir nicht die nötige Aufmerksamkeit zuteil wird.

Ab Seite 10 wird es dann deutlich besser. Dir gelingt es plötzlich, mich zu entführen in eine Welt, die mir neu ist, mich tief bewegt und neugierig macht, mehr darüber zu erfahren. So soll es sein…

Mit freundlichen Grüßen
os|<ar

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Lieber Oskar,

zunächst möchte ich mich bei dir wirklich herzlich für deinen offenen Kommentar bedanken. Mir ist es sehr wichtig, response zu bekommen, denn ich bin deshalb hier – abgesehen von möglichen technischen Fragen die formale P10-Funktionalität betreffend --; und absolut nicht ohne triftigen Grund gerade hier! – Das soll heißen: Bevor ich aktiv in dieses Forum eingestiegen bin, habe ich mir eine Zeit lang angesehen, welche Art von Literatur darin hauptsächlich verhandelt wird und “was für Menschen” das hier tun, sowohl Texte einstellend als auch sie kritisierend.

Mein Interesse an genau diesem – für mich nicht sehr vertrauten – Milieu speist sich hauptsächlich aus dem Umstand, daß ich “normalerweise”, was Genres wie auch Ausdrucksformen betrifft, in etwas andere Milieus “eingepaßt” bin (womit aber jetzt bitte kein Werturteil verbunden werden sollte). Wie in diesen Milieus mit meiner Art zu schreiben umgegangen wird, ist mir bekannt. Ich kann dort diesbezüglich nichts mehr lernen. – Etwas anderes ist mir allerdings viel wichtiger: Ich frage mich nämlich längers schon, ob es möglich wäre, mehr Verbindung herzustellen zwischen diesen verschiedenen Arten, sich literarisch auszudrücken, also in Form wie Inhalt. – Wenn du so willst: Ich starte hier – nicht nur, aber auch – “Testballons”, mit denen ich probieren möchte, auf welche Weise so eine Annäherung bewerkstelligt werden könnte, wobei ich bitte nicht so verstanden werden möchte, daß ich die werten Forenmitglieder als “Versuchskarnickel” mißbrauchen möchte, sondern ich mache mich dabei ja – jedenfalls in meinem Selbstverständnis – ebenfalls zu einem “Testfall”, wobei ich mögliche Risiken in dieser Procedur für mich selbst sogar etwas höher einschätze denn für die anderen, weil ich finde (bitte opponieren, wenn ich da etwas falsch sehe), für sie ist es durchaus absehbar, was es für Konsequenzen zeitigen könnte, sich auf einen Text von mir einzulassen. Ich weiß, was mich selbst betrifft und mein Schreiben, allerdings nicht so genau, was beim oben angedeuteten “Terrainwechsel” herauskommen wird, wobei ich allerdings gestehe, schon mein Leben lang gewisse Risiken nicht zu scheuen, wenn es dabei absehbar ist, neue Erfahrungen machen zu können, die das Leben interessant(er als bisher) werden lassen könnten.

Nun zu deiner konkreten Kritik am Text selbst. Ob du es glauben wirst oder nicht: Ich habe lange “mit mir gerungen”, ob ich die ersten zehn Seiten mit einstellen oder das lieber bleiben lassen sollte, denn daß sie nicht gerade “fastfood für den Geist” sind, ist mir klar! Es wäre nicht so arg schwierig gewesen, diesem schon etliche Jahre alten Text noch schnell ein kurzes “leichteres”, mehr erzählendes Intro voranzustellen und das “andere” einfach wegzulassen. Ich habe mich aus zwei Gründen nicht so entschieden: Einmal, weil ich ja gerade eine gewisse “Schreibe mit intellektuell höherem Anspruch” auf ihre Wirkung erproben möchte (wozu noch ein Extra-Aspekt kommt, den ich weiter unten benennen werde) und außerdem wegen des m.E. für Schriftsteller doch ziemlich relevanten Themas der Reflexion diverser Erinnerungsweisen. Deshalb wollte ich darauf dann doch nicht verzichten.
Wahrscheinlich ist es so, daß ich dabei – mal wieder – viel zu voraussetzungsreich an die Sache herangegangen bin und sicher auch zu spezial-jargon-mäßig und -lastig darüber schwadroniert habe. Das liegt an der oben bereits erwähnten Schwäche, herrührend aus meiner bisherigen Milieu-Verankerung, woraus sich zu lösen wesentlich schwieriger ist, als ich bisher immer gedacht habe. Aber natürlich ist das auch der Effekt dabei: Nur durch solche responses wie jetzt die deinige kann ich in diesem Bereich besser werden – und das möchte ich gerne, weil es nämlich so ist, daß es mir nicht darum zu tun ist, alle Welt wissen zu lassen, was ich alles weiß, sondern mir geht es darum, einige Partikel jenes Wissens, das v.a. in sog. Expertenkulturen gepflegt wird, etwas populärer zu machen, wozu mich – ich komme nun zum o.e. Zusatzaspekt – die Literatur durchaus geeignet dünkt.
Um es kurz zu machen: Ich hege die Absicht, neben einigen anderen Dingen, die ganz modernen Formen des Erzählens betreffend (bisher wird damit allerdings einzig in der sog. “Hochliteratur” herumexperimentiert), das Essayistische stärker als bisher gemeinhin geschehen darein zu integrieren; und daneben suche ich auch nach Ausdrucksmöglichkeiten in der Erzählerperspektivik, die die bisherigen Formen mehr ineinander übergehen lassen sollen (hier steht v.a. das Ich-Erzähler-Paradigma zur Disposition [was ich jetzt aber nicht näher erläutern möchte, gleichwohl auch der vorliegende Text ein paar “Testfälle” dazu enthält]).
Mir ist vollkommen klar, daß das hier nicht zwangsläufig auf Resonanz stoßen muß und vielleicht sogar Ärger provoziert, sofern sich dabei jemand einfach als “mißbraucht” ansehen würde. Mir geht es allerdings nicht um Instrumentalisierung, sondern um Möglichkeiten, mit eventuell doch irgendwie Interessierten in Austausch zu kommen, womit ich nicht auf endlose Theorie-Diskussionen abheben möchte, sondern durchaus meine ab und an eingestellten Textauszuüge im Sinn habe. Es würde mich freuen, wenn ich dazu ein wenig feedback bekäme – ich hoffe, die Gründe dafür jetzt etwas klarer umrissen zu haben.

Daß du nach dem ersten Drittel der Geschichte dann noch noch von Interesse berührt wurdest, freut mich natürlich sehr. Wenn ich die wenigen zu anderen – früher eingestellten – Stücken geäußerten Ansichten mit dazu hernehme, scheint sich ein Muster abzuzeichnen: Man nimmt mir hier im Forum wohl eher die erzählenden Teile ab: Vielleicht treffe ich damit bisher eher den Nerv der hier versammelten Rezipientenschaft als in essayistisch angehauchten Parts meines Geschreibsels. Dazu werde ich mir Gedanken machen. – Daß du solche anregen konntest, dessen möchte ich dich versichern und dir nochmals Dank dafür zollen, lieber Oskar.

Viele Grüße von Palinurus

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Lieber Palinurus

Mein lieber Herr Gesangsverein, das ist wahrlich schwere Kost. Es ist schon fast bewundernswert, wie man so etwas überhaupt schreiben kann! Hut ab.
Also mich hat dein Schreibstil stark an Hermes Trismegisto, mit seinen Traktaten, oder Dantes “Göttlicher Komödie” erinnert. Faust möchte ich gar nicht erwähnen, denn das war dagegen Kinderlektüre. Ich wusste nicht, dass man Heute noch so schreiben kann. Wo lernt man das?

Dennoch habe ich bis zur Seite 12 gelesen und war überrascht, dass der Erzähler eine Frau ist. Ich hätte auf einen gebildeten Mann getippt, der irgendwo in einem leeren, unbelebten Raum sitzt und seine unschönen Erlebnisse aufsteigen lässt, dabei jedoch immer wieder abschweift. Doch zugegeben, der Schreibstil ändert sich, als es um das eigentliche Drama geht. Es wird leichter zu lesen, man benötigt nicht stets den Duden nebenbei. Fraglich ist nur, ob Leser sich bis zur Seite 10 durchkämpfen?

Alles Liebe und Respekt

Urmel

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Ach und noch etwas, das bezieht sich eher auf den Inhalt, als auf den Stil.

Wie schon erwähnt, war ich sehr überrascht, dass eine Frau die Geschichte erzählt. Ich glaube nicht, dass eine Frau sich so kompliziert ausdrücken würde. Ich hab nie eine Schrift in den Händen gehalten, die in dieser Weise geschrieben war, und der Verfasser eine Frau war.
Und dann meine ich, dass kein Mann über das schreiben sollte, was einer Frau auf dieser Art und Weise widerfahren ist. Selbst wenn es dem männlichen Autor selbst so ergangen ist, und er aus eigener Erfahrung weiß, wie es sich anfühlt. Jedoch was Frau fühlt und empfindet, dass kann kein Mann nachvollziehen und anders herum gilt natürlich das selbe.

Tschuldigung, aber als Frau wollt ich das nur mal so angemerkt haben :smirk:.

Liebe Grüße, Urmel

Liebe Urmel,

es freut mich sehr, daß du mir ein Statement gönnst; und ehrlich gesagt – der Dante-Vergleich schmeichelt mir sehr, wogegen ich deine Goethe-Einwendung etwas “abgefahren” finde, denn Johann Wolfi hat zumindest im *Zweiten Teil *des Faust in noch ein paar durchaus komplexere Register gegriffen als meine Wenigkeit (und ist außerdem auch sprachlich viel souveräner damit umgegangen). Daneben hat es auch mit dem “Geschmeicheltsein” ein Genügen, denn Dantes und Goethes Werke sind ganz, ganz andere Kaliber als mein Geschreibsel … und das sage ich nicht bloß so dahin, um den Bescheidenen zu geben, sondern das ist so!

Was ich ein bißchen schade finde: daß du nach S. 12 aufgehört hast. Ich habe nach der Kritik vom verehrten @oskar21 nämlich noch mal konzentriert nachgelesen und bin zu dem Befund gekommen, daß – von einigen kürzeren “intellektuell” sich gebenden Ausrutschern abgesehen – der Text dann tatsächlich “lesbarer” wird. Und wie ich meine, nicht nur, weil dann der narrative Teil einsetzt (also eine story entfaltet wird), sondern auch mit Blick auf formale Kriterien wie u.a. auch Satzbau, Wortwahl und allgemein … ähm … “Verständlichkeit”.
Vielleicht kannst du dich ja irgendwann noch aufraffen, ein bißchen weiterzulesen. U.U. würde dir dann vielleicht sogar der anfängliche Irrtum wegen des Geschlechts der Ich-Erzählerin mehr durchsichtig werden; denn ich gebe gern zu, daß ichs am Anfang geradezu darauf angelegt habe, diese Frage im Vagen zu halten: Dabei habe ich mich natürlich eines weitverbreiteten Klischees bedient, das den in sein Gehäus eingeschlossenen und mit (vorgeblich) abseitigen Gedankengängen beschäftigten Gelehrten natürlich immerzu als Mann assoziiert. Dabei ist das keinesfalls richtig: Denn es gibt – zunehmend übrigens in den vergangenen zweihundert, v.a. aber letzten hundert Jahren – auch Frauen, die mit derlei Dingen beschäftigt sind. Einige solche Frauen kenne ich selbst, andere sind mir zumindest über entsprechende Medien bekannt. Und folglich hat das Klischee längst Brüche.

Ich kann dir versichern, daß es solche Leser gibt (es existieren sogar Leser – glaub’s mir --, die besonders gern so etwas lesen wie es im Text auf den ersten zehn Seiten zu stehen kommt). Mein Problem ist aber tatsächlich, ob (und wie) es gelingen könnte, mehr von jenen Lesern für solche Dinge zu interessieren, wie sie zuerst zur Sprache kommen im Text, die so etwas normalerweise gar nicht rezipieren. Denn ich vertrete die Auffassung, daß – mal rein thematisch gesehen – diese Dinge doch sehr, sehr interessant sind. Das Dilemma besteht u.a. in Folgendem: Würden solche Themata so aufgerollt, daß sie jeder/m schon beim ersten Lesen einleuchten bzw. mindestens verständlich sind, wäre schon ein “ganzes Buch” geschrieben: Es käme also nie dazu, die eigentlich Geschichte zu erzählen …
Der Ausweg ist – so oder so erscheint mir das unumgänglich – die Verkürzung. Nur: Wie bewerkstellige ich sie so, daß einerseits der Informationsfluß nicht ins Stocken gerät, andererseits aber auch nicht zum vielwasserführenden Strom wird und zugleich trotzdem das Interesse erhalten bleibt? Ich weiß, daß mir dafür bisher der richtige Weg (so es ihn geben sollte) noch nicht eingefallen ist. Jedoch hoffe ich, gerade auch hier Hinweise dafür zu bekommen. Denn es gibt einige gewichtige Gründe, die Literatur mit gedanklich Anspruchsvollem zu durchwirken, auch wenn ich das jetzt nicht breiters ausführen möchte. Ich scheine aber bisher weder das rechte Maß noch die angemessene Form dafür gefunden zu haben. Aber vielleicht wird es ja noch …

Ich glaube nicht, daß man Schreiben (also mit lit. Anspruch) überhaupt lernen kann. M.E. gibt es dafür ein Talent – und wenn man’s hat, kann man eben schreiben (auch wenn es dabei natürlich sicher viele drumherum gruppierte technische u.a. Fertigkeiten zu verinnerlichen, also zu lernen, gilt). Ich meine also: wenn gar kein Talent vorhanden ist, wird auch kein lit. Schreiben möglich sein, egal, welche “Schreibschule” mit welchen Gurus darin man aufsucht und wieviel Kohle dafür hingeblättert wird.
Daneben gibt es noch einen zweiten wichtigen Faktor, wie zumindest mir scheint: Und der wird von dem markiert, was Wittgenstein einerseits ‘Abrichtung’ nannte und andererseits ‘Lebensform’. Ein Kind, das mit einer ordentlichen elterlichen (oder großelterlichen) Bibliothek aufwächst, zeitig selbst zu lesen beginnt und allgemein in einem familialen kosmos situiert ist, in dem Literatur und “ambitioniertere Gespräche” etc. eine Rolle spielen, wird zwar nicht automatisch ein Nobelpreisträger für Literatur, aber seine Chancen, “gut schreiben zu können” (später einmal) sind höher als bei einem Kind, das nichts dergleichen erfährt und familial höchsten dann mit Narrativem konfrontiert wird, wenn es Disney-Scheiße (etc.pp.) konsumiert. Damit soll nicht gesagt werden, daß solche Kinder keine Chance hätten, später einmal “gut schreiben” zu können. Keinesfalls! In der Literaturgeschichte gibt es genug Gegenbeispiele. Aber der Faktor ‘Lebenswelt’ (v.a. in Kinder- und Jugendjahren) verbessert oder verschlechtert – vom Durchschnitt her betrachtet – die Möglichkeiten individueller Entwicklung in diesem Feld auf jeden Fall …

So sehe ich das. Daneben macht auch Schule – und später sogar Berufs- bzw. Uni-Bildung – noch etwas aus, gleichfalls nicht zuletzt auch, mit was für Lehrern man in diesen Institutionen konfrontiert ist. Das Gesamt-Ensemble der Einflüsse ist groß und komplex. Und dazu treten außerdem auch noch ganz individuelle Konfigurationen. Die Protagonistin des hier verhandelten Textes ist nicht zuletzt dadurch sehr nachhaltig geprägt worden, was dann andere Kapitel dieses Elaborates aus meinem Schreibtisch auch zu entfalten versuchen.

Ich danke dir für dein* feedback*, liebe Urmel, und grüße dich herzlich!

Palinurus

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Nur ganz kurz dazu im Moment. Darüber wurde hier im Forum erst vor ganz kurzer Zeit eine Diskussion geführt. Neben anderen habe auch ich mich dazu geäußert. Vielleicht liest du dir das mal durch. Mein Punkt ist, daß du formal – “rein logisch” – recht hast. Lebensweltlich – pragmatisch – betrachtet kann es aber gar nicht sein, daß sich ein Mensch nicht in einen anderen “einzufühlen” vermag, weil dann keine denkbare und mögliche (Menschen-)Welt existieren würde.

**Nachtrag: **Ich habe mich gerade umentschieden und werde dir etwas ausführlicher darauf antworten, denn es ist ja so, daß ausgerechnet jener Teil am Text, der von @oskar21 und dir wegen seiner Schwierigkeit (durchaus zurecht, was die Durchführung angeht) moniert wurde, genau dieses Problem reflektiert! – Natürlich ist klar, daß jemand, der Proust nicht so genau kennt, anbei der Konfrontation mit seinem Erinnerungs- und “Hineinversetzen”-Konzept eventuell die eine oder andere Verständnisschwierigkeit hat – und zumal dann, wenn das Ganze auch noch sprachphilosophisch und linguistisch unterfüttert präsentiert wird! Aber die andere Seite der Medaille ist natürlich davon graviert, daß – wenn man es mal genau betrachtet – die ersten zehn Seiten sozusagen eine Präparation dafür repräsentieren, was dann in den restlichen zwei Dritteln eher narrativ dargeboten wird. U.a. ist das auch dafür wichtig, daß es beim “Hineinversetzen in jemand anderen” von den epistemischen Grundlagen her noch am wenigsten um das Frau-Mann-Problem geht, denn es steht dahin, ob sich eine Frau überhaupt in eine andere Frau “hineinversetzen” kann, Extremsituationen betreffend! Dito Mann-Mann.

Wie ist denn das? Kann die Ich-Erzählerin *ernsthaft *geltend machen, daß sie weiß [sic], “wie es sich anfühlt”, “wie es ist” für Cecilia, im Schulklo den erigierten Pimmel Freddy Fleischhauers bis zum Anschlag in der Fresse zu haben und dabei – würgend und fast erstickend – wie eine Gummipuppe “in Gebrauch genommen” zu werden, obwohl sie *wähnt *[sic], solche Erfahrungen auch gemacht zu haben?!
Vielleicht liest du dazu nochmal nach, was die Ich-Erzählerin erstens zu Prousts Konzept an sich überlegt und wie sie es zweitens auf ihr … ähm … “Madeleine”-Erlebnis zu beziehen gedenkt. Und womöglich reflektierst du dabei mit (muß aber nicht sein), was sie diesbezüglich für Überlegungen zu Dantes Höllenstrafen-Idee für Francesca di Rimini & Co anstellt. – Der Status der Erinnerungen wird ja von ihr explizit zweischneidig ausgelegt. Und sicher: Mit dem konventionellen Konzept dürfte es schwierig werden, einen “echten Nachvollzug” bei Alter Ego zu realisieren. Dazu kannst du ja nachlesen, was die Ich-Erzählerin über die Wörter und ihre Bedeutungen ausführt (‘keine Signifikate vorhanden’ bei Alter Ego, gibt sie lapidar zu Protokoll).
Davon unterschieden ist der andere Typus der Erinnerung, wie er von Proust artikuliert wird. Da stehen nicht die Wörter, sondern etwas, das den sog. déjà-vu-Erlebnissen ähnelt, im Zentrum der Aufmerksamkeit. – Bezieht man das nun auf den Nachvollzug im Verhältnis von Cecilia und Ich-Erzählerin, ergibt sich eine frappierende Differenz hinsichtlich all jener, die einschlägige Ergfahrungen gemacht haben und solchen, die über keinen entsprechenden Erfahrungshorizont verfügen und ergo “nur auf Wörter”, Begriffe und Metaphern zurückzugreifen vermögen …
Ich meine: Wer das mal wirklich etwas ambitionierter reflektiert, wird wohl merken, daß es beim "Hineinversetzen-in-Alter-Ego"-Problem weniger um Männer vs. Frauen, sondern um Menschen mit entsprechender Erfahrung vs. solche ohne diese geht!

Im erzählenden Teil wird all das, was die ersten zehn Seiten zu dieser causa durchklingen lassen, gewissermaßen “vorausgesetzt”, um eine möglicherweise andere Lesart zu erreichen, als sie bei denen zu vermuten steht, die diese Voraussetzung nicht erfüllen. Jedenfalls ist das meine These: Es verhält sich nicht so, daß die “eigentliche” Erzählung der ersten zehn Seiten bedürftig wäre – sie kann auch ohne diese verstanden werden --; wer aber den “intellektuellen Vorspann” mit Verstand rezipiert hat, liest womöglich, jedenfalls partiell, eine etwas andere Geschichte als jene, die das nicht getan haben …

Konnte ich mich verständlich machen?

Wenn nein: Infolge des kurz geschilderten fatalen Unfalls mit Todesfolge – im narrativen Teil – tritt ein Ereignis ein, bei dem die Ich-Erzählerin als Agentin einer Handlung in Erscheinung tritt, die wahrscheinlich viele Menschen für kaum nachvollziehbar und vielleicht sogar unbegreiflich halten (möglicherweise werden einige sogar sagen, das wäre vielleicht für Männer denkbar, aber “niemals für Frauen”). Allerdings gibt es Frauen, die so oder so ähnlich tatsächlich vorgegangen sind. Und es gibt Menschen, die den entsprechenden Nachvollzug leisten können, andere aber nicht. Vielleicht gab es im Leben der Ich-Erzählerin ein Ereignis, das diese Handlung (fast) “selbstverständlich” erscheinen ließe, so etwas drüber bekannt würde. – Mein Punkt ist also: Im Text, wie ich ihn ins Forum gestellt habe, ist darüber nichts zu lesen (höchstens einige ganz vage Andeutungen). Stellt man sich nun vor, darüber wäre etwas geschrieben worden im vorliegenden Textkorpus, würde die Bewertung der Handlung, wenigstens bei einigen Rezipienten, sicher anders ausfallen als ohne entsprechende Geschichte … oder eben auch eine eher essayistisch angelegte Reflexion …

In anderen Teilen der Namenlosen Tagebucheinträge kommen solche Dinge dann auch tatsächlich zur Sprache.

Viele Grüße von Palinurus

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Dann hatte (ein Beispiel von tausenden) William Shakespeare einen Ghostwriterin für Julias Gefühle/Verhalten? Ich habe seit 48 glücklichen Jahren mit Frauen zu tun und ich kann schon von mir behaupten, die Gefühlswelt einer Frau beschreiben zu können. Vor allem, wenn sie in meinem Kopf entstanden ist. Außerdem sind nicht alle Frauen gleich. Habe schon zierliche 1,58m Frauen erlebt, die sich wie Männer verhalten haben und korpulente 1,80m Frauen, die zerbrechlich wie kleine Mädchen waren. Gibt uns Menschen in allen Farben, Formen und Geister …

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Lieber Palinurus

Ich möchte mich ganz herzlich für deine lange Ausführung bedanken und ja, ich kann deiner Ausführung folgen. Doch bitte entschuldige, wenn ich mich nicht so gebildet ausdrücke, ich liebe es eher kurz und einfach. :thumbsup:

Das kann ich mir gut vorstellen und daher verspreche ich dir, den restlichen Text noch zu lesen. Aber nicht jetzt. Jetzt geh ich zur Arbeit.
Ich melde mich, wenn ich ihn fertig gelesen habe. Versprochen :wink:

Liebe Grüße, Urmel

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@Renator

Es gibt durchaus verschiedene Bereiche in der Männer- oder Frauenwelt, wo wir vom anderen Geschlecht uns wagen können, deren Gefühle zu erahnen, doch möchte ich dich ermuntern, die Leseprobe von Palinurus zu lesen und ob du dich in dieses Thema einfühlen kannst, das halte ich dahingestellt. Das geht schlicht weg nicht. Kein Mann kann erahnen wie sich eine Frau fühlt, wenn sie z.B. ein Kind gebärt. Da helfen auch 48 Jahre Ehe nichts. Das kann nur eine Mutter. Und so gibt es einige Bereiche, wo es nicht funktioniert.

Liebe Grüße
Urmel

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»Wie fühlst du dich?«
»Weiß ich nicht, da muss ich mal nachdenken.«

Dem Beispiel kann ich nicht folgen. Hast Du noch andere? :slight_smile: Du setzt Grenzen in die Welt eines Autors, die es nicht geben sollte. Nein, ich will mich als Autor nicht einschränken lassen und nur von „Männerleiden“ erzählen. Wenn eine Protagonistin in einem meiner zukünftigen Bücher ein Kind bekommen sollte, dann recherchiere und frage Mütter in meinem Bekanntenkreis. Kannst Du unterscheiden, ob ein Mann oder eine Frau den Geburtsschmerz in einem Roman umschrieben hat? Oder gibt es dafür geheime Wegwerf-Adjektive, die nur Frauen benutzen dürfen? :slight_smile:

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Lieber Renator,

ich glaube, Urmel und du, ihr redet ein bißchen aneinander vorbei. Ich gebe dir vollkommen recht, daß es durchaus möglich ist, daß ein Mann eine Geburtssituation … nach welchem Entscheidungskriterien-Katalog auch immer … besser als eine Frau beschreiben [sic] könnte. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist das (unmittelbare) Erleben [sic] einer Geburtssituation (worauf m.A.n. Urmels Argument geht). Und nun ist es einfach der Fall, daß nur Frauen in solch einem Erleben stehen können.

Urmel glaubt nun, dieses exklusive Erleben prädestiniere Frauen, darüber angemessener schreiben oder auch reden zu können als Männer, die sich ja “alles dazu nur ausdenken (können)”. Aber: Eine jede Frau, die darüber schreibt oder redet, denkt sich natürlich auch “nur etwas dazu aus”, denn was weder Reden noch Schrift können, ist das authentische [sic] Wiedergeben der eigentlichen Erlebnissituation. Insofern könnten sich nicht einmal zwei Frauen untereinander, je mit Gebärenserfahrung, adäquat [sic] darüber verständigen, “wie es ist” (nach Thomas Nagel), zu gebären.

Diese Erfahrung – etwa des Schmerzes daran, vielleicht auch aufkommender Angstzustände, hinterher von Glück oder Depression usw. – ist eben, wie alle unmittelbaren Bewußtseinszustände (Qualia), privat. Und Beschreibungen dieses Zustandes sind **symbolisierende **[sic] Akte, also solche, bei denen dort, wo das **Zeichen **zum Tragen kommt (das können sowohl Wörter als auch ganze Sätze sein, aber auch Gesten usw.), neben Signifikanten auch immer Signifikate relevant sind. Und dabei gilt es zweierlei zu beachten: Erstens ist ein Zeichen nie dasselbe wie das, was es vertritt (fachterminologisch heißt das: es referiert auf etwas [anderes]): Woraus folgt, daß Zeichen – etwa bei Erlebnisberichten – immer etwas Abwesendes vertreten, selbst wenn es sich um einen Akut-Bericht, wie etwa beim Arzt handelt. Denn wenn die Signifikanten-Kombination der zeichenhaltigen Übermittlung meines Schmerzberichtes (Signifikanten) auf die sinnlichen Rezeptionsorgane meines Arztes treffen (Ohr, ZNS usw.), werden in dessen Bewußtsein Signifikate “erzeugt”, die dann wiederum auf meinen Schmerz referieren sollen, wodurch leicht einsehbar wird, daß der Arzt nicht meinen Schmerz erlebt beim Bericht, sondern meine Schmerzzustände von den Sätzen, die ich dazu absondere, nur vertreten werden. Was das Ganze überhaupt sinnvoll macht (sonst könnte kein Arzt eine Diagnose stellen), ist das Vertrauen der Menschen darauf, daß wenigstens alle miteinander viele, viele Erlebenszustände teilen und die Berichte darüber wenigstens einigermaßen verständlich sind (das eine bedingt hierbei das andere), obwohl wir das im strengen Sinn nur vermuten, aber nicht wissen können.

Es tritt also zweitens hinzu, daß aus dem “Vertreten der Zeichen von etwas (anderem)” glashart folgt, daß sich auch zwei Frauen niemals sicher sein können, ob über den Bericht der je anderen die Geburtserlebnisse betreffend ein zutreffender Nachvollzug möglich ist, weil – wie eben ausgeführt – die Signifikate der übermittleten Signifikanten auf ihre Gleichheit (oder auch nur Wohlangemessenheit) bei Frau A und B niemals überprüft werden könnten, da sie nicht empirisch sind. Folglich: Wir meinen, glauben, vermuten, daß der andere uns versteht. Aber ob er’s wirklich tut, kann nicht definitiv entschieden werden. Ich kann bekanntlich nicht einmal wissen, ob das, was ich Grün nenne und mir zugleich als ein unmittelbares Bw-Datum im Bw steht, jemandem anders genau als derselbe Bw-Eindruck im Bw steht. – Es scheint nur absurd, ist es aber nicht: Wenn statt “meinem Grün” dem anderen das als Farbempfindung im Bw steht, was “meiner” Rotempfindung entspricht, würde die Welt (und unsere Verständigung über Sprache, bezogen auf Außenweltgegenstände) genauso funktionieren wie unter den Bedingungen der – von uns immer unterstellten – Gleichheit. Ob Gleichheit vorliegt, wissen wir aber nicht. Wir können es auch nicht wissen, weil wir nicht in Alter Egos private Bewußtseinszustände (Qualia) “einzudringen” vermögen.

Der Witz an der Sache ist allerdings noch größer als nur dadurch: Denn tatsächlich umfaßt schon meine eigene Artikulation diese Vertretung, weil logischerweise die Wörter und Sätze, die** ich selbst **gegenüber dem Arzt absondere, nichts mehr mit dem “eigentlichen Schmerz”, also diesem unmittelbar bewußten Schmerzgefühl im Bewußtsein, zu tun haben, außer jenem Umstand, daß sie eben darauf referieren (sollen) …

D.h.: Erlebenszustände können nicht authentisch artikuliert werden, weil es kein Prüf-Kriterium und keine Prüf-Situation für diese Authentizität gibt. Wittgenstein hat das in den PU in sein berühmt-berüchtigtes Käferschachtel-Gleichnis gepackt, wonach, wenn sich drei mit je einer Schachtel treffen, in die je nur sie selber reingucken können (das ist die Situation des privaten Bw-Inhalts bei Qualia), es nicht viel nützt, sofern sie sich gegenseitig versichern, jeder von ihnen habe einen Käfer in der Schachtel. Selbst wenn sie sich darüber ganz einig sind, weiß trotzdem niemand der drei, was wirklich in den Schachteln der anderen ist. Sie können es nur glauben. Und Witti fügt schelmisch noch hinzu: Es könne sogar sein, daß gar nix in dieser oder jener Schachtel sei …

Das von mir am Anfang vermutete Mißverständnis zwischen dir und @Urmel besteht nach dieser Auslegung darin, daß ihr von zwei unterschiedlichen Interpretationsebenen an die verhandelte Sache rangeht. Du machst stark, daß du sehr wohl “sprachlich einfühlen” kannst – und ich stimme dir darin zu --, und Urmel macht klar, daß sie aus ihrem privaten Erfahrungshorizont (aber nur aus dem heraus!) zu jeder deiner Rekonstruktionen sagen könnte (also etwa der einer Geburt, die du dann beschreibst, ohne je eine erlebt zu haben), sie würde nicht treffen, vielmehr verfehlen, was sie im inkriminierten Fall erlebt hätte.
Der Punkt ist hier (mit Betracht auf das oben kurz Hergeleitete), daß es keine Möglichkeit gäbe, diesen Streit auszuräumen, weil es ja durchaus sein kann, daß deine literarische Geburtsbeschreibung zwar auf eine Million Fälle zutrifft, aber auf 999.999 eben nicht. Sofern dabei relevant wäre, was die auf beiden Seiten involvierten Frauen darüber – auf sprachlicher Ebene – je für richtig und zutreffend halten bzw. falsch und unzutreffend, würde ein Streit notwendig ins Unendliche laufen. Deshalb sehe ich nicht, daß es Sinn hat, darüber zu streiten.

Urmel sollte folglich besser davon Abstand nehmen, zu behaupten, ein Mann könne eine Geburt nicht angemessen beschreiben (inzwischen ist ja klar geworden, daß hier ‘Angemessenheit’ nie sein prinzipiell Vages verlieren könnte); und du könntest ihr zugestehen, daß du eventuell nicht imstande sein wirst, sie selbst und auch andere Frauen mit einschlägiger Erfahrung von deiner Beschreibung überzeugen zu können. Das geht – wie hoffentlich einigermaßen verständlich gezeigt – eben nicht, sofern dabei auf “inneres Erleben” abgehoben wird.

Und nur, um Mißverständnissen vorzubeugen: Bei der sprachlichen Referenz auf Außenwelt-Gegenstände sieht es vollkommen anders aus! Da gelten private Empfindungen höchstens in ästhetischen Belangen. – Aber es ginge nicht an, wenn ich im Beisein anderer bspw. auf ein Ding namens ‘Baum’ zeigen und sagen würde, “das Ding dort” sei ein Berg (oder was für Namen auch immer mir dazu einfielen), um dann – bei Widerspruch der anderen – störrisch darauf zu beharren, daß es eben “aus meinem Erleben heraus” ein Berg sei und kein Baum.
Zwar vertritt auch das Zeichen ‘Baum’ “nur” den realen Baum, aber im Gegensatz zu Qualiazuständen Alter Egos kann ihn jeder Mensch auf irgendeine Weise sinnlich wahrnehmen und infolgedessen (von anderen) prüfbare Beschreibungen davon abliefern, die kritisierbar sind, weil sie Konventionen unterliegen, die die Welt fundamentieren (wie Wittgenstein in Über Gewißheit formuliert). Und ergo können sie nicht einfach aufgrund privater Idiosynkrasien ausgehebelt werden. Das ist übrigens der Grund dafür (neben ein paar wenigen anderen noch), warum wir für bestimmte Sätze Wahrheit samt dahinterstehendem Wissen reklamieren können, für andere aber nicht. Es ist klar, daß z.B. das oben verhandelte Problem Sätze bzw. Aussagen zeitigt, die nicht wahrheitsfähig sind (genau deswegen ist, wie gerade ausgeführt, so ein Streitfall wie der zwischen dir und Urmel auch nicht entscheidbar). Im Ästhetischen gibt es keine letzthin einlösbaren Wahrheitsansprüche …

Viele Grüße von Palinurus

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:laughing: Herzlichen Dank Palinurus

Ja und du hast Recht, es geht mir in der Tat um das Erleben und nicht um das Beschreiben.
Und da sind wir schon, im Reich des Unterschiedes zwischen Mann und Frau. Quatsch, aneinander vorbei reden gibt es natürlich in jeglicher Konstellation.
Aber last mal jut sein, jeder schreibt über das was er mag und will. Ich habe nur meine Ansicht wiedergegeben ;).

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Liebe Urmel,

die ganze Sache mit dem Mißverständnis zwischen @Renator und dir ist ja wegen einiger Einlassungen von mir erst richtig hochgekommen, weshalb ich schon die Verpflichtung sah, etwas – wenn möglich – zur Klärung beizutragen. Ich versuche meistens, dem principle of charity die Ehre zu erweisen – immer gelingt es mir freilich nicht --; und hoffe nun, ihm mit dem Beitrag von vorhin Genüge getan zu haben. Denn letztlich unterstelle ich euch beiden kein willentliches Mißverständnis (das ist das Gegenteil von dem, was das PoC zum Ausdruck bringt) und habe deshalb versucht, das Richtige an beiden Auffassungen etwas herauszuarbeiten.

Gruß von Palinurus

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Lieber Palinurus

Wie schade, dass sich so wenige, für deine so ganz aus der Reihe fallende Leseprobe, interessieren. :frowning:

Ich habe sie jedoch jetzt fertig gelesen und sie entpuppte sich durchaus als interessant, wenngleich sie wirklich nicht leicht zu lesen ist und daher als Bettlektüre ausscheidet (in meinen Augen). Aber du sagtest ja, dass es durchaus Leser gibt, die sich für diese Art des Schreibens begeistern und es gerne lesen. Ich denke, es kommt gut an. Ich persönlich finde das Thema durchaus interessant, hätte mir jedoch eine andere, leichter zu lesende, Sprache gewählt.
Gut gefallen hat mir, dass du den Leser unweigerlich immer mehr in die Tiefe führst, ohne das man es so richtig bemerkt. Klar, dachte ich von Zeit zu Zeit, dass dies wohl der Traum als solches sein musste, aber dann geschah wieder etwas, und ich war mir sicher, dass ich falsch lag. Aber genau das erinnerte mich an “Die göttliche Komödie”. In deiner Leseprobe wandelt man von Raum zu Raum und nimmt eigentlich nicht wahr, wo man sich befindet. Dieser Dreh gefällt mir sehr gut. Sag mir, wenn`s fertig ist ;).

Liebe Grüße
Urmel

Dem stimme ich zu, klammere mich aber aus. Ich habe es noch nicht gelesen, weil ich im Moment zu viel im Kopf und zu wenig Zeit habe. Und für @Palinurus Texte brauche ich Zeit. Ich bin ein schneller Leser generell. Bei @Palinurus dauert es. Vor allem weil er ja schon hier im Forum so schön ausformuliert schreibt.

Lieben Gruß
Lusmore

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Liebe Urmel,

Wow! Ich möchte ganz ehrlich sein: Die Beschreibung von dir, ich würde den Leser „immer mehr in die Tiefe“ führen im Lauf der „eigentlichen“ story, entspringt keiner bewußten Autorenintention! – Was mich freilich nur umso glücklicher macht, wenn du das während der Lektüre so empfunden hast! Dann ist aus meiner Sicht auf die Dinge nämlich auch irgendetwas „richtig gelaufen“ beim Schreiben … – Ich zähle zu jenen, die glauben, daß bestimmte Geschichten ein Stück weit auch „sich selber schreiben“, also darin Dinge zu stehen kommen, die keine bewußte Autoren-Entscheidung, kein konstruktiver Gedanke „hineingelegt hat“, sondern die sich – sozusagen – „unter der Hand“ in die Textur einschreiben …

Der Effekt, wie du ihn so schön auf den Namen bringst, „man [wandle] von Raum zu Raum und nimmt eigentlich nicht [mehr] wahr, wo man sich befindet“, ist nach meinem Dafürhalten genau dieser „unbewußten“ Schreibattitude geschuldet – und daher mag es dann kommen, wenn „zwischendrin“ der Eindruck entsteht, „daß dies wohl der Traum als solches sein“ müsse, obwohl an einem bestimmten Punkt doch wieder etwas anderes passiert.

Um noch mal eine Bemerkung von dir aufzunehmen: „Dieser Dreh gefällt mir (als Autor auch) sehr gut“. :slight_smile: Aber glaub nur nicht, daß ich mir all dies genau so ausgedacht habe, liebe Urmel! Mitnichten. Das haben – auf der materiellen Ebene – die Hände gemacht; und wer oder was mir in der „anderen Sphäre“ beigesprungen ist, weiß ich nicht. Vielleicht war es Mnemosynes Tochter Kalliope? Es sei jedenfalls hinzugefügt: Zum Glück war meine eigene Birne da offenbar gerade ausgeschaltet oder zumindest stark „abgedimmt“ gewesen. Sonst hätte’s den von dir beschriebenen Effekt vielleicht gar nicht gegeben!

Ich danke dir sehr für das schöne feedback! Gruß von Palinurus

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Lieber Palinurus

Also ich muss sagen, du schreibst wunderbar, wenn „die Birne“ ausgeschaltet ist und du dich ganz einfach deinem inneren Fluss hingibst. Auf ein Mal (oder einmal?) läuft es und das spürt und liest man ab der besagten Seite 10 oder 11. Was mir noch gut gefällt, ist dein Reichtum an Wörtern. Da beneide ich fast ein wenig. Mir fallen oft die passende Worte nicht mehr ein. Ist vielleicht dem geschuldet, dass ich in drei Sprachen unterwegs bin und ich Deutsch so gut wie nie spreche (außer mit meiner alten Mutter und dann geht es in bayerisch einher :laughing: ).

Und @Lusmore, ja das verstehe ich sehr gut. Für Palinurus Antworten oder Leseprobe benötigt man Zeit und Ruhe, aber die Leseprobe lohnt sich, wenn man durchhält. :thumbsup:

Liebe Grüße
Urmel

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Wenn ich mir die korrekturlastige bzw. zum Bedenken anheimgestellte Bemerkung erlauben darf, liebe Urmel, so möchte ich wegen des vorgeblich knappen Wörter-Repertoires sagen: Das Reden machts nicht! Seinen Schatz an Wörtern schöpft der Mensch m.E. wesentlich nachhaltiger aus dem Lesen. Und v.a. auch seine stete Mehrung dürfte zu großen Teilen daraus rühren. – Aber natürlich ist es dabei u.a. wichtig, was gelesen wird. Einerseits geht es nicht nur um Belletristisches – man kann z.B. auch viel von (geistes-)wissenschaftlichen Sprachakrobaten “abkupfern”: ich nenne mal glänzende Essayisten in der Bandbreite von Montesquieu und La Rochefoucauld über Nietzsche, Freud bis hin zu Roberto Calasso oder auch Cioran --; man sollte dabei nur ja die Lyriker nicht vergessen; und dann gibt es da auch noch das weite Feld von Philosophen und Kulturtheoretikern, die ausgezeichnet zu schreiben verstanden und verstehen, wie etwa Claude Levi-Strauss, Jean-Paul Sartre (denke nur an seine berühmten *Situationen *und den glänzenden Roman Die Wörter!) oder Thomas Macho (ein noch lebender) oder Hans Blumenberg, um nur einige zu nennen.

Mag sein, daß das jetzt wieder nach “Hochgeistigem” riecht oder “überkandidelt” klingt. Aber all die Genannten waren bsp. auch glänzende Aphoristiker und Kurz-Text-Schreiber … man muß dazu also nicht unbedingt in die monumentalen Wälzer greifen. Und noch eine Quelle ist überaus inspirierend in diesem Feld: Die Briefliteratur. Ich nenne mal Walter Benjamin (der auch eine berühmte zweibändige Ausgbae bedeutender deutschsprachiger Briefe herausgebracht hat), aber auch Thomas Mann ist da 'ne Hausnummer oder Wolfgang Hildesheimer usw.

Viele Grüße von Palinurus

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