Meiner Meinung nach verfügen gute Autoren auch über Einfühlungsvermögen oder, moderner ausgedrückt, Empathie. Nur wer diese Eigenschaften mit sich bringt, kann, denke ich, authentische Charaktere, ganz egal ob männlich oder weiblich, zum Leben erwecken. Wir alle sind in der Lage, die gleichen Gefühle zu fühlen, und wissen oder können spätestens nach reichlicher Introspektion nachvollziehen, welche Erfahrungen uns wie geformt haben. Es sollte also möglich sein, uns auch in unsere Charaktere hinein zu fühlen - auch in solche, die unserem eigenen biologischen Geschlecht nicht entsprechen.
Ich finde, es ist unabhängig von unserem biologischen Geschlecht, ob und wie ein Erlebnis oder eine Kombination von Erlebnissen uns langfristig beeinflusst. Viel größeren Einfluss darauf nehmen
- Gesellschaftliche Normen,
- die Sprache und die Metaphern, die darin verwendet werden (hoppla die Linguistin kommt durch)
- und nicht zuletzt: welche Einstellungen unsere Erziehungspersonen sowie unsere häufigen und engen Kontakte haben.
- …
Ich bin der Meinung, dass Autoren und die Geschichten, die sie erzählen, nur davon profitieren können, wenn sie sich dieser Hintergründe wenigstens grundlegend bewusst sind. Sind wir das, spricht nichts dagegen, dass auch männliche Autoren, starke weibliche Charaktere zeichnen können - vorausgesetzt sie fallen nicht stereotypischem Denken zum Opfer. Denn Charaktere, die nicht mehr als ein Stereotyp sind, sind mMn nicht nur vorhersehbar und damit langweilig, sondern regen mich als Leser auch wahnsinnig auf. Weder möchte ich von einem männlichen Charakter lesen, der nichts anderes als drauf hauen kann, nur ficken will, jedem Weib auf die “Titten” glotzt, glaubt er ist der Herrscher der Welt und keine anderen Emotionen als Freude und Ärger kennt (außer es ist eine Parodie und soll zeigen wie bescheuert die Annahme ist, das Männer so und nicht anders sind); noch möchte ich von einem weiblichen Charakter lesen, der vom starken Mann beschützt werden muss, naiv und ein wenig dümmlich ist, ständig in jeden Spiegel schaut und sich die Haare zurecht zupft und bei jeder Kleinigkeit weint oder hysterisch wird.
Wenn ich ganz ehrlich bin, finde ich auch, dass wir, als Verfasser von Texten, die (hoffentlich) von den verschiedensten Menschen gelesen werden und diese Leser berühren, auch ein bisschen in der Verantwortung stehen, das Narrativ von Stereotypen nicht zu bedienen (wie gesagt mit Ausnahme davon, wenn es eine Parodie ist), sondern im besten Fall, den Lesern und insbesondere auch jungen Lesern zu zeigen, dass Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem biologischen Geschlecht, ihrem Glauben, ihrem Gender, ihrer Sexualität und was es alles noch so für Schubladen gibt, vielschichtige Individuen sind.
Wenn schon die Gesellschaft Jungen und Mädchen (leider immer noch) in Zwangsjacken von blau vs pink und hart vs schwach und Naturwissenschaften vs Geisteswissenschaften etc zwängen möchte, ist es dann nicht toll, wenn ihnen zumindest in den Geschichten, die sie rezipieren, keine Grenzen dieser Art mehr gesetzt werden? Sondern sie im Gegenteil gezeigt bekommen, dass Mädchen auch manchmal Probleme haben, Gefühle zu zeigen, aggressiv, analytisch oder abgeklärt sein können und sich manche Mädchen genauso für Mathe begeistern wie Jungs? Oder dass Jungs ebenso das ganze Spektrum an Gefühlen erleben, es völlig normal ist, dass auch sie mal weinen und daran absolut nichts schlechtes oder schwaches ist? Dass sie es lieben können zu tanzen, ohne gleich homosexuell zu sein, oder ihre Freunde umarmen, Zuneigung ausdrücken oder anderen Jungs/Männern Komplimente machen können/dürfen, ohne “no homo” sagen zu müssen?
Sollte irgendwann etwas von mir veröffentlicht werden, dann hoffe ich, damit zu der “Öffnung von Gedanken” beizutragen und Engstirnigkeit und Schubladendenken entgegenzuwirken. Und ich finde eben das macht starke Charaktere aus: Authentizität, Stimmigkeit, Nachvollziehbarkeit, Vielschichtigkeit und Freiheit von oder aber ein gekonntes Spiel mit Stereotypen.
Einzelne Charaktereigenschaften für sich gesehen haben damit meines Erachtens nach nur wenig zu tun.
Also was ist eine starke Frau? Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Am ehesten möchte ich sagen: Eine starke Frau ist das, was auch immer sie sein will. Und genau das gleiche trifft auch auf starke Männer zu.
Und da das wahrscheinlich nicht hilft: Schau dich um, ich bin mir sicher, es gibt Frauen in deinem Leben, die du bewunderst. Nimm sie als Beispiel, rede mit ihnen, frag, was sie bewegt, was sie stört, was ihnen schwer fällt, worauf sie stolz sind, wie sie sich selbst beschreiben würden und, meiner Meinung nach auch ganz wichtig: was ihr Schwächen und Unsicherheiten sind (und wie sie damit umgehen), denn ist es nicht wahnsinnig stark und bewundernswert, wenn ein Mensch sich nicht von Ängsten beherrschen lässt? Oder seine Ängste manchmal auch einfach nur überlebt?
Das war jetzt ein bisschen viel, aber vielleicht ist mein Blickwinkel ja auch interessant zu lesen.