Stallgeruch

Stallgeruch

»Mach mal Platz, Junge.« Ernst Brezlschneiders behaarte Pranke lag auf Garrics Brust, um ihn zur Seite zu schieben.
Garrics Blick wanderte von der Hand zum aufgedunsenen Gesicht des Kritikerpapstes. »Schon mal versucht, deine Schneidezähne mit gebrochenen Fingern aufzusammeln?«
Brezlschneider erstarrte. Zwar überragte er Garric um einen halben Kopf und hatte mindestens dreißig Kilo mehr auf den Rippen, aber es war träges Fleisch, schlaff geworden durch jahrzehntelange Schreibtischarbeit. Garric hingegen ging dreimal die Woche zum Kickboxen und lief regelmäßig seine fünf Kilometer.
Brezlschneider zog seine Hand zurück, als hätte er auf eine heiße Herdplatte gefasst. Trotzdem brachte er das Kunststück fertig, Garric einen Blick abgrundtiefer Verachtung angedeihen zu lassen. »Mit Leuten Ihres Schlages gebe ich mich grundsätzlich nicht ab.«
Immerhin, jetzt hatte er ihn gesiezt. Garric bezweifelte, dass es einen Fortschritt in ihrer Beziehung markierte.
Brezlschneider schob sich an ihm vorbei. Er pflügte vorwärts, teilte die Menge der Literaturliebhaber wie einst Moses das Rote Meer, um einen Platz am Buffet zu ergattern.
Garric sah ihm angewidert hinterher. Sein Verleger hatte ihn angefleht, sich auf der Abendveranstaltung blicken zu lassen, selbst wenn er sich wie eine offene Hose gebärdete. Jede Aufmerksamkeit sei besser, als nicht zur Kenntnis genommen zu werden.
Garrics Buch war seit zwei Wochen auf dem Markt. Die Kunst eines Romanciers bestehe darin, mit einfachen Sätzen Ungeheuerliches zu sagen, hatte er einmal gelesen. Und diese Maxime hatte er sich zu eigen gemacht. Von seinem früheren Leben auf der Straße geschrieben, von Missbrauch und vom Verrecken, in einer schnörkellosen Sprache, die an die Tristesse eines Polizeiberichts erinnerte.
Das Feuilleton wurde aufmerksam und begann ihn zu feiern. Brezlschneider jedoch hatte ihm bisher den Ritterschlag seiner Kritik verweigert. Das würde sich nach dem heutigen Abend kaum ändern. Garric zuckte mit den Schultern. Sein Buch war in der Welt; sollten die Leute damit machen, was sie wollten.
Er nahm ein Sektglas vom Tablett einer Hostess, leerte es in einem Zug, stellte es zurück und griff sich ein neues.
»Trinken Sie sich Mut an, oder gehören Sie zur Gilde der Alkoholiker?« Eine zierliche Frau schaute ihn mit amüsiertem, aber offenem Blick an. Sie war Anfang vierzig, trug ein elegantes Cocktailkleid und balancierte ein Martiniglas in der Hand.
»Weder noch. Ich betäube mich.«
Die Frau hob ihr Glas. »Willkommen im Club.«
»Ah, eine Mitstreiterin. Verraten Sie mir ihren Namen?«, fragte Garric.
»Corinne Brezlschneider.« Sie machte die Parodie eines Kratzfußes.
»Die Frau von –«
»Genau.«
»Mein Beileid.«
Corinne deutete mit ihrem Glas Richtung Buffet. Der Rücken ihres Mannes wölbte sich aus einer Gruppe junger Frauen heraus. »Mir kommt er recht lebendig vor.«
»Mir hirntot«, sagte Garric.
Corinnes Mundwinkel zuckten. »Hübsch unverschämt. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Garric stellte sich vor.
»Sieh an. Das Wunderkind aus der Gosse«, sagte Corinne.
Garric grinste. »Volltreffer.« Er wusste, dass er sich nun alles herausnehmen konnte, und sie wusste, dass er es wusste. Er legte Corinne seine Hand auf den vom Ausschnitt ihres Kleides entbößten Rücken, sacht genug, um nicht aufdringlich zu wirken. »Ich finde, es ist höchste Zeit, unsere Medikation aufzufrischen.«
Sie ließ es zu, dass er sie mit seinen Fingerspitzen zur Bar dirigierte.

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@Thomas L

Gefällt mir richtig gut. Nur eine Kleinigkeit: Wäre es für die Leser:innen hilfreich, wenn du schon beim Einstieg die Situation rund um den Autor und den Kritiker skizierst? Ich brauchte ein paar Zeilen, um den gesellschaftlichen Rahmen zu erkennen und musste mir das Setting beim Lesen mühsam zusammenklauben.

Wenn du die zitierte Passage (inhaltlich) an den Anfang gestellt hättest, wäre ich schneller drin gewesen und hätte mich besser auf den inneren Konflikt Garrics einlassen können. Beim zweiten Lesen, wirkte deine Szene dann schon viel stimmiger und unterhaltsamer.

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Gefällt mir gut, Neri hat nicht unrecht, wobei ich auch viel lesen kann ohne den Zusammenhang direkt zu verstehen, wenn man/mensch Steven Erikson liest bleibt einem teilweise nichts anderes übrig.

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Hallo Neri, das wäre sicherlich eine Option. Ich mag es, direkt mit einem Konflikt in eine Story einzusteigen und den Informationszuwachs im weiteren Leseverlauf zu erhalten. Aber das ist sicherlich eine reine Geschmacksfrage und entspricht meiner individuellen Erwartungshaltung an einen Text.

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Hallo, @Thomas L,

diesmal habe ich den Titel tatsächlich gelesen und dachte, Garric sei ein … Pferd!

Im Ernst, genauso hätte ich reagiert und gesprochen, wenn ich ein Pferd hätte auffordern wollen, zur Seite oder einen Schritt zurückzutreten.
Schon aus diesem Grund würde ich den anderen zustimmen, wenn sie vorschlagen, gleich zu Beginn den Kontext klarzustellen.

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Herzlichen Glückwunsch, du bist die erste Leserin, die den wahren Kern der kleinen Szene aufgedeckt hat. Tatsächlich handelt es sich bei Garric um ein sprechendes Pferd. Zur Belohnung gibt’s eine Handvoll Zuckerstücke vor die Nüstern.

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:laughing:
Selbst als Pferdebesitzerin habe ich nicht an ein Pferd gedacht, sondern an Stallgeruch im übertragenen Sinn. Da sieht man es wieder, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind.:slight_smile:

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So war’s auch gemeint. :wink:

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Kein Problem. Wenn du keine ehrliche Rückmeldung willst, brauchst du es nur zu sagen.

Hallo Thomas L!

Ich habe deine kurze Textprobe eben gelesen, weiß nicht, worum es im Plot konkret geht, sprechende Pferde fand ich leider keine, da hilft auch kein Zuckerstück, finde deinen Stil jedoch weitgehend flüssig und attraktiv. Er leidet etwas an Adjektivitis und auch die Inquits könnten weniger sein, aber sonst … schreib einfach weiter und lass uns daran teilnehmen, so du das willst. :wink:

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Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt. Aber komm, ein Pferd … das habe ich irgendwie nicht ernst genommen. Tut mir wirklich leid, wenn es als aufrichtige Kritik gemeint war. Vermutlich habe ich zu viel Umgang mit sarkastischen Menschen. Mea Culpa.

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Mir gefällt der Text gut!

Kleine Anmerkung: Am Anfang dauert es eine Weile, bis man wirklich sicher sein kann, aus wessen Perspektive der Text ist. Wirklich eindeutig finde ich es erst ab dem Satz: “Garric bezweifelte…”
Gerade wenn mehrere Personen im Spiel sind, habe ich es persönlich lieber, wenn ich nach ein oder zwei Sätzen sicher sein kann, um wessen Sicht der Dinge es geht. Ich bin aber auch sehr pingelig, was die Perspektive angeht, zugegeben.
@Neri s Vorschlag, mit “Brezlschneider schob…” anzufangen und dann erst den Dialog einzufügen, finde ich auch sehr gut. Da kommt nix weg, da kommt nix dazu, und trotzdem funktioniert der Text besser.

Davon abgesehen, gefällt mir! Gern mehr davon.

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Ich kann das Argument durchaus nachvollziehen, und es spricht überhaupt nichts dagegen, in dieser Weise vorzugehen.

Interessant wäre, ob meine Version grundsätzlich schlechter nachvollziehbar ist, oder ob es sich um eine Geschmacksfrage handelt. Irgendwo gab es mal eine schöne Analogie zwischen Erzählperspektive und einer Filmkamera. Die Kamera umkreist die Szene aus einer etwas größeren Distanz, zeigt beide Protagonisten, nähert sich und blickt schließlich einem der beiden über die Schulter. Das wäre die Vorgehensweise in meinem Textbeispiel. Man könnte natürlich auch so starten, dass die Kamera Garric von Anfang an über die Schulter blickt. Hängt vielleicht auch damit zusammen, ob man den Fokus mehr auf die Gesamtszene oder die Hauptfigur legen möchte.

Das fände ich auch interessant. Aber wie kriegen wir das raus? :scream:
Den Vergleich mit der Kamera kenne ich, den benutze ich auch ab und zu.
Ich habe auch mal einen Roman gelesen, wo das mit dem „Rauszoomen“ der Kamera bewusst eingesetzt wurde. Der Roman war aus verschiedenen Perspektiven geschrieben, ein Krimi. Dann traf sich die KriPo zur Besprechung, und bei dieser Besprechung war dann nicht mehr auszumachen, aus wessen Perspektive es geschrieben war. Es war, als würde die Kamera über allem schweben und das Geschehen einfach unkommentiert einfangen.

Gerade dann, wenn du das erreichen wolltest, würde ich den Anfang, wie Brezlschneider zum Buffet geht, besser finden. Dann hast du deine Totale(?) auf den Raum: Buffet, viele Leute, Literatur, ein grober Klotz. Und dann auf die Begegnung zoomen. Dann wäre vermutlich auch schneller klar, bei wem die Kamera landet - bei Garric, nicht bei Brezlschneider. (Übrigens finde ich den Namen zum Schreien :rofl:)

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Durch eine repräsentative Umfrage :wink: Nee, keine Ahnung, da müssen wir uns weiter auf unser Bauchgefühl verlassen.

Gerade dann, wenn du das erreichen wolltest, würde ich den Anfang, wie Brezlschneider zum Buffet geht, besser finden. Dann hast du deine Totale(?) auf den Raum: Buffet, viele Leute, Literatur, ein grober Klotz. Und dann auf die Begegnung zoomen. Dann wäre vermutlich auch schneller klar, bei wem die Kamera landet - bei Garric, nicht bei Brezlschneider. (Übrigens finde ich den Namen zum Schreien :rofl:)
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Ja, mein Text ist in der Hinsicht etwas zwitterhaft geraten. Aber grundsätzlich gefallen mir auch Romane mit einem auktorialen Erzähler. Auf Anhieb fällt mir »Das Handwerk des Teufels« von Donald Ray Pollock ein. Da springt der Erzähler in jeweils einem Kapitel zwischen mehreren Figuren herum und lässt uns an deren Gedanken teilhaben. Ganz so weit habe ich es noch nicht getrieben, werde es aber bestimmt mal ausprobieren.

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Mal so ganz aus dem Bauch. Okay, zum größten Teil…
Also ich mag es.
Es ist flappsig bis zynisch, die Infos über die Personen kommen so en passant, es liest sich überaus flüssig. Du hast Deinen eigenen Stil und das ist sehr wichtig, keine Frage. Ich achte immer sehr darauf, dass der Lesefluss erhalten bleibt, dass möglichst keine - oder kaum eine - Unterbrechung entsteht. Beim Lesen wie beim Schreiben.
Und für meinen Teil - ich findes es absolut gelungen. Ein guter, sehr anschaulicher Text. DankeThomas L!
Mich hast Du bereichert! Es folgt natürlich die Frage nach mehr.

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Danke, Narratör! Meine Intention hast du erstklassig zusammengefasst. Freut mich, dass mein Text zumindest bei einem gezündet hat.

Kleine Erklärung zum Warum: Ich schreibe mehr oder weniger ernsthaft seit erst knapp vier Jahren. Mit kurzen Texten unterschiedlicher Stilrichtungen experimentiere ich herum, um so etwas wie eine Erzählstimme zu finden, die zu mir passt. Von solchen Miniaturen habe ich mittlerweile Dutzende, und da ich auch Grafiker bin, stelle ich gerade einen illustrierten Band mit den passabelsten Storys zusammen. Wenn es wen interessiert, poste ich mal ein paar Seiten daraus.

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Ja, bitte.

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Bei mir hat es auch gezündet und ich würde mich freuen, mehr von Dir zu lesen.

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Immer heraus damit!

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