Ihr Lieben,
ich weiß, der Text ist etwas lang, 3000 W. Wird es zu zähflüssig an einigen Stellen, würde ich die kürzen. Dazu bräuchte ich eure Tipps.
Ich danke euch schon im Voraus für eure Anregungen.
Silvester mit rauchigem Abgang
I.
Tante Rosi, die Frau vom Anwesen am Ende der Straße, hieß in Wirklichkeit Rosemarie von Schnitzler. Vor Zeiten, als ich noch der Wunschgedanke meiner Eltern war, heiratete sie den viel älteren Konrad von Schnitzler. Sie zog zu ihm und seiner Mutter ins Herrenhaus, blieb ihm treu, sogar über den Tod hinaus. Er wollte keine Kinder. Tante Rosi beugte sich, litt aber unter der Kinderlosigkeit, weswegen sie mich oft und gern bemutterte. Meinen Eltern war das recht. Sie nahmen dadurch wieder am herkömmlichen Leben teil, ohne auf mich Rücksicht nehmen zu müssen.
Tante Rosis Schwiegermutter, die seit Jahren sterben Wollende, war indes fünfundneunzig. Und immer noch hockte sie täglich ab fünfzehn Uhr im antiken Ohrensessel am Fenster neben dem handgeschnitzten Tischchen im Salon. Manchmal streichelte sie es gedankenverloren, während sie das Treiben der Jahreszeiten im Vorgarten beobachtete. Dabei rauchte sie genüsslicher Zigarre als mein seebäriger Onkel Heinz von der Küste. Zuerst sog sie etwas vom Rauch ein und hielt kurz inne. Dann öffnete sie langsam den Mund, formte mit den Lippen ein O und pustete ein paar kleine Rauchringe aus, die sich zu einer weißen recht beständigen Rauchwolke vereinigten.
Sie war immerfort behangen mit Ketten und Broschen an den Seidenblusen und verlangte, mit „Gnädige Frau“ angesprochen zu werden. Solange ich denken konnte, hatte ich Bammel vor ihr. Meine Kindheit bestand darin, zu gehorchen. Mir wurde aufgetragen, ihr aus Büchern vorzulesen, folglich las ich ihr vor. Dass sie mich beschäftigte, bis Mutter und Vater zu Hause waren, kam mir nicht in den Sinn. Vielmehr meinte ich, sie zu betreuen, weil sie blind wurde und sich langweilte. So verstand es sich für alle von selbst, mich Silvester zu ihr zum Vorlesen abzukommandieren, damit die Eltern und Tante Rosi am Bankett im Rathaussaal teilnehmen konnten.
II.
Tante Rosi hatte alles bis ins Kleinste vorbereitet. Auf dem Tischchen neben dem Ohrensessel blitzte ein Silbertablett. Darauf hatte jeder Gegenstand seinen vorbestimmten Platz: vorn die Porzellankanne mit schwarzem Tee auf einem brennenden Stövchen, links daneben der Kandiszucker, rechts eine verstöpselte Glasphiole. Die hatte die Form und Größe einer reifen Birne und enthielt - gern betonte das die Gnädige Frau - eines ihrer beiden Lebensspender. Der andere war eine auserlesene Zigarre. Die lag rechter Hand in einem kristallenen Aschenbecher nebst winziger Guillotine zum Enthaupten der Zigarrenspitze. Den beiden Wundermitteln verdankte die Gnädige Frau den noch passablen Gesundheitszustand, so behauptete sie. Obwohl sie seit dem Tod ihres Sohnes lieber auch gestorben wäre, hielt sie irgendein geheimnisvoller Freund namens Malte aus Schottland doch noch im Diesseits. Der versorgte sie mit einer Wundermedizin. Sie reiste allerdings nie zu ihm, und er besuchte sie nie in der Villa. So war anzunehmen, dass sie sich bei ihrem monatlichen Bummel auf dem Kurfürstendamm trafen. Ansonsten war sie fortwährend zu Hause. Mithin murmelte sie immer, wenn sie etwas Lebenselixier in den Tee gab: „Ach mein lieber schottischer Freund.“
Auf dem polierten Esstisch in der Mitte des Salons stand ein herrlich anzusehendes Büfett für mich. Und es befand sich eine Stoffserviette in einem Silberring neben dem Teller. Auf dem Stuhl an der Stirnseite des Tisches lag ein Polster, damit ich bequem vor dem sogar schon aufgeschlagenen Buch sitzen konnte. Ich erwartete wieder einen Tränendrüsendrücker. Die Gnädige Frau liebte altmodische Geschichten von Liebe und Treue.
III.
Wie immer machte ich gleich an der Salontür den manierlichen Knicks und wartete auf die Erlaubnis, eintreten und mich an den Esstisch setzen zu dürfen.
„Komm zu mir, Kind. Ich möchte dich anschauen“, verlangte sie stattdessen.
Dem kam ich mit zittrigen Beinen nach und knickste drei oder vier Mal vor ihr. Sie ergriff meine Hand. Wir hatten uns noch nie berührt. Wohl darum nahm ich bislang an, dass ihre knochigen Hände kalt und ledrig wären. Das Gegenteil überraschte mich. Vorschnell streichelte ich sie. Weiß der Teufel, was ich damit in ihr auslöste. Sie begann zu weinen. Ich fühlte mich schuldig und hilflos in einem, und zwar so sehr, dass auch meine Augen feucht wurden. Die Serviette vom Esstisch war die Rettung. Damit tupfte ich abwechselnd ihr und mir das Gesicht trocken.
„Du bist ein so liebes Kind, so herzig und folgsam“, überraschte sie mich in lebendigem Ton. Jedwede Schattierung der sonst klagend ersterbenden Stimme war verschwunden.
„Du hast keine Großeltern. Und ich habe nur diese Rosi. Du wärest meine perfekte Enkelin. Willst du nicht Oma Orgasta zu mir sagen?“
Ach Herr je! Ich hatte nie eine Großmutter, demzufolge vermisste ich auch nichts in dieser Richtung. Was sollte ich mit ihr anderes anstellen als bisher? Ich nickte dennoch. Kein Kind hatte das Recht, einem Erwachsenen zu widersprechen, gar eine Abfuhr zu erteilen.
„Wie schön, wie schön! Ich fühle mich wieder so lebendig, wie schon lange nicht mehr. Willst du dich noch ein bisschen ausruhen, hier auf der Chaiselongue, bevor wir mit dem Lesen beginnen? Oder möchtest du mit mir Karten spielen? Was möchtest du?“
„Vorlesen“, hauchte ich. Dabei erfreute mich niemals das Vorlesen, schon gar nicht der Geschichten, die die Gnädige Frau liebte. Die waren altmodisch und kitschig.
„Ja, ich weiß, ich weiß, du liebst das Lesen. Willst du dir heute nicht ein Buch aussuchen?“
Oha, böse Falle! Das ist ein Test. Sie prüft, ob ich zuerst an andere denke und selbst brav wunschfrei bleibe. Ich dachte an das aufgeschlagene Buch auf dem Esstisch, sauste hinüber, um nach dem Titel zu schauen. „Von Theodor Storm, Immensee“, meinte ich.
„Vortreffliche Wahl. Vortrefflich. Es geht um Liebe und Treue. Storms Worte erreichen immer meine Seele. Die versetzen mich zurück in meine Jugend. Ach, wie schnell die Zeit vergeht.“ Sie seufzte. „Lies, Kindchen, lies“, forderte sie, nahm eine entspannte Position ein, rollte mit einem zweiten genüsslichen Seufzer die Zigarre zwischen den Fingern. Dann zack, Spitze weg, Tabak angezündet, zwei Mal gepafft … Die Rauchwolke erfüllte den Raum. Mir gefiel der Geruch. Den kannte ich von meinem Onkel Heinz. Den liebte ich. Er schien über mich zu wachen, sobald ich diesen warmen Zigarrenrauch roch.
Ich begann zu lesen. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie die Gnädige Frau mehrmals die Zigarre ablegte, Tee eingoss und nach und nach die Flüssigkeit aus der Phiole in die Tasse gab. Schließlich war die Teekanne leer. Jetzt trank sie das Lebenselixier pur, seufzte und steckte sich ihre Glimme erneut an. Beim Zuhören schloss sie die Augen. An einer Stelle, an der Theodor Storm die Sehnsucht eines alten Mannes nach seiner Liebe selbst für mich bewegend beschrieb, holte sie ergriffen Luft, ihr Atem stockte. Ich wollte auf keinen Fall hochmütig sein. Aber in dem Moment war ich stolz auf mich, weil meine Lesekünste bei der Gnädigen Frau so gut ankamen, als befände sie sich mitten im vorgetragenen Geschehen.
Eine Weile war ich flott am Lesen. Doch dann wurde ich langsamer, bis mein rechter Ellenbogen auf der polierten Tischplatte seitwärts wegrutschte und den Teller scheppern ließ. Die Gnädige Frau stöhnte auf.
„Nichts passiert“, beruhigte ich sie. „Alles gut. Ich lese weiter.“ Sie hielt die Augen geschlossen und wartete.
IV.
Auf der Stirn schmerzte die Delle vom Buch, mich fröstelte es, der Magen knurrte, ein paar Feuerwerke explodierten vor dem Fenster, die Gnädige Frau schlief dessen ungeachtet. Ihr Mund war weit geöffnet. Aber weil sie nicht schnarchte, mochte ich ihr Kinn nicht nach oben klappen. Nur Leute, die schnarchen, bekommen eine trockene Schnute. Sie durfte nicht vor Durst aufwachen. Das wünschte ich mir, denn ich hatte keine Lust, die Immensee-Geschichte weiterzulesen. Ich wollte nur etwas essen, mich aufwärmen und dann hinlegen. Deshalb huschte ich auf Zehenspitzen in die Diele, nahm Tante Rosis dicke Wolljacke vom Bügel, schlüpfte hinein – welch eine Wohltat! – und schlich zurück in den Salon. Die Gnädige Frau hatte nichts gemerkt. Sie schlief, wie eine Dame mit fünfundneunzig eben schläft: würdevoll und erhaben. Ein Albrecht Dürer, von dem Tante Rosi schwärmte, hätte sie so, wie sie dasaß, gern gemalt - allerdings ohne Zigarrenstummel zwischen den Fingern. Den nahm ich ihr ab. Dabei bemerkte ich, dass sich ihre Hände kalt wie meine anfühlten. Das Feuer im Kachelofen war erloschen. Ich griff die kuschelige Wolldecke von der Chaiselongue und versuchte, die von vorn über ihre Schultern zu bekommen. Wie ein überdimensionales Lätzchen. Doch das verdammte Ding glitt immer wieder an der rutschigen Seidenbluse ab. Beim fünften Versuch kippte sie wie ein Apfelsack nach vorn, atmete tief aus und verharrte lustigerweise in dieser Position. Aller Achtung. Das nenne ich mal einen gesunden Schlaf. Mit all meinem Mut und einem Ruck richtete ich sie auf. Dabei klemmte ich blitzschnell die Decke zwischen Rücken und Sessel. Geschafft! Sie schlief weiter. Kein Wunder, da sie im siebten Himmel mit Freund Malte war, ihrer ersten großen Liebe. Sie blieb ihm im Herzen ergeben, er ihr geradeso. Aus Träumen von Liebe und Treue mochte ich sie nicht reißen.
Unterdessen machte ich mich nützlich. Vorauseilende Gehorsamkeit war das nicht, sondern mein wahrer Wunsch, die Gnädige Frau nach dem Aufwachen mit wärmendem Tee wieder schnell einschlafen zu lassen.
V.
In der Küche kannte ich mich bestens aus. Das Stövchen bekam ein weiteres Teelicht, die Porzellankanne frischen schwarzen Tee. Den Kristallaschenbecher putzte ich sauber und legte eine neue Zigarre hinein, den Stummel warf ich weg. Es fehlte nur noch das Lebenselixier. Das vermutete ich in einem der bunten Keramiktöpfe mit Deckel. In meiner Vorstellung handelte es sich um eingelegte Heilkräuter. Doch die fand ich nicht. Stattdessen lächelten mich aus den Töpfen marinierte Früchte an. Oh, Birnenstücke, Kirschen, Brombeeren! Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich redete mir ein, nur Mundraub zu begehen, denn ich hatte schon zwei Sommer lang weder Kirschen noch Brombeeren gegessen. Es war mir egal, dass die in Schnaps schwammen. Den gedachte ich ja nicht zu trinken. Hunger und Appetit, diese beiden bösen Buben, zwangen mich, aus jedem der Töpfe ein wenig Fruchtfleisch zu fischen, und zwar so, dass das später keinem auffiele. Das Buffet im Salon war in meinem Begehr auf Rang Null gerutscht. Zu fruchtig frisch tummelten sich die schnuckeligen Scheißerchen im Suppenteller. Und sie schrien nach Zucker und einem Klecks Eierlikör, um den Alkoholgeschmack zu überdecken. Wenn Mama und Tante Rosi gemeinsam Liköre zusammenbrauten, bekam ich jeweils einen Teelöffel voll zum Verkosten. Der Eierlikör war mein Favorit.
Ich kannte Tante Rosis Platz für die vielen Flaschen des selbstgemachten dickflüssigen Gesöffs und schüttelte es. Trotzdem wehrte es sich wie Ketchup, freiwillig herauszukommen. Ich schlug kräftig auf den Boden der Buddel, und mit Schwung ergoss sich ein großer Klecks über die Früchte. Das erschrak mich. Alle Überlegungen, wie ich das Zeug zurück in die Flasche bekäme, waren untauglich.
Auf leisen Sohlen huschte ich mit dem Obstteller in den Salon zur Gnädigen Frau. Ich pustete aus. Sie schlief noch. Jetzt schämte ich mich, ohne ihre Genehmigung in der Küche hantiert zu haben. Selbstverständlich wollte ich nicht, dass sie mich dreistes Früchtchen ihre exquisiten Früchtchen löffeln sah. Meine Eltern hätten mich nicht mehr geliebt, petzte ihnen die Gnädige Frau die Freveltat, den Mundraub, den … Herrgott fühlte ich mich seltsam. Von jetzt auf gleich. Eine merkwürdige Heizung knisterte in mir. Ich spürte, wie das Gesicht glühte. Bis zu den Haarspitzen. Puh, was waren die Ohren heiß! In Tante Rosis Strickjacke sah ich in diesem Moment aus wie ein Streichholz im Kartoffelknödel.
Mir schwante, dass ich auf das Lebenselixier der Gnädigen Frau gestoßen war. Justament verstand ich, warum die Kälte im Raum für sie durchaus erträglich blieb. Ungeachtet dessen legte ich Tante Rosis Jacke auf ihre Knie. Alte Damen im Ohrensessel sehen mit gestricktem Etwas über den Beinen einfach knuffiger aus. Och, ich hätte nun am liebsten ihre Hängebäckchen geknuddelt. Aber sie war noch nicht fertig mit dem Traum von Liebe und Treue und dem Freund im karierten Nachthemd. Ein dreister Kicherer entschlüpfte unartig meinen Lippen, dann der schamlose Rülpser, der im Mund explodierte. Pst! Nix passiert! – Oh doch! Jetzt konnte ich auf wundersame Weise Oma Organzas Kopfkinofilm mit ansehen. Mehr noch: Ich spielte mit. Sie saß mit ihrem Malte auf der blauen Holzbank im Wald. Ein Fuchs mit Trauben im Maul spazierte an der Bank vorbei. Ah! Ein Fingerzeig! Ich werde mal gucken, ob in den Töpfen auch eingelegte Weintrauben sind. Ein durchsichtiger Hirsch kam mir von der Küche aus entgegen. Er stolzierte an Oma Orchester und dem Geliebten vorbei. Küssen sich alte Leute noch? Auch mit künstlichem Gebiss? Nehmen sie s raus oder lassen sie
s drin? Ein Bär winkte mir vom Gebüsch aus hastig zu und deutete auf die Küchentür. Aha, der passt auf, dass ich schnell noch ein paar klitzekleine Lebenselexierfleischlinge holen kann, bevor Omi Origami aus dem Wald zurückkommt.
Wie hilfreich Schaumkellen für Suppen sind: Zack rin in det Töpsche und eine reichlich bemessene Fruchtportion herausgefischt. Ein Unterschied wie Tag und Nacht, wie Angel und Fischernetz. - Huch! Ein bisschen überreichlich. Ich schob die Hälfte der Kirschen zurück in den Keramiktopf. Auf den Rest gab ich elfundzwanzig Tröpfchen Eierlikör. Ich zählte genau mit. Zucker ließ ich weg. Es musste ja ratzfatz gehen, das mit dem Fischen und Essen. Auf der Suche nach dem Topf mit Weintrauben fielen mir die Birnenstückchen auf, die sich ohne Vorwarnung erdreisteten, zu bluteten und Geschwüre zu bilden. - Halt! Stopp! So ein Mist! Die Kirschen vom Teller waren unautorisiert in den Birnentopf gehopst.
Ich stellte eine Suppenschüssel in den Abguss und goss den Birneninhalt hinein. Alles, was darin kirschrot umher schwamm, verschwand sofort im Mund. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Herrje, jetzt verzwillingte sich der Keramiktopf! Ich goss in die Topföffnung Birnen und Suppe zurück. Aber der Topf hatte mich ausgetrickst. Nun waren die Birnenstückchen im Becken und das Lebenselixier abhandengekommen. Der Schreck darüber war so mächtig, dass ich von einer Sekunde zur anderen wieder deutlich sehen und meine Bewegungen, wenn auch nicht beschleunigen, so doch kontrollieren konnte. Mit beiden Händen schaufelte ich das Obst zurück in den Topf und beseitigte die Spuren meiner Schandtat. Fast alle. Denn ich brauchte Schnaps, mit dem der Birnentopf aufgefüllt werden musste.
Welch freudige Überraschung! In der verbotenen Speisekammer neben der Küche war ein flaches Regal vom Boden bis zur Decke, in dem statt Einweckgläser unzählige identische Flaschen standen. Die hatten alle das gleiche Etikett. Beim näheren Hinschauen wurde mir so manches klar: Der karierte Schotte war ein illegaler Schnapsbrenner. Der schenkte dem Ömele statt Rosen und Pralinen den eigenen Schnaps mit Schreibfehler. Das E fehlte in seinem Namen. Auf dem Etikett hieß er nur Malt und nicht Malte. Und dann betonte er seinen Familienstand: Single Malt. Das war ein bisschen verrückt. Selbst mein Onkel Heinz würde den Selbstgebrannten für seine Freundin nie „Geschieden Hein“ nennen. Omilein, Omilein, da hast du dir aber einen dollen Galan an Land gezogen. Und was für ein Früchtchen du erst bist. Du bunkerst hier Mengen an Schnaps, dass du noch hundertfünf wirst. Na, dann fülle ich deine Elixierbirne mal auf und der Rest kommt in den Birnentopf.
VI.
„Komm Kind, komm raus hier.“ Mama rüttelte an meiner Schulter. Als erstes hörte ich Tante Rosi in der Küche mit schwerer Zunge schimpfen. Großer Schreck! Mein Mundraub ward entdeckt! Ich begehrte, mich in Luft aufzulösen! Stattdessen fuhr der Salon mit mir Karussell.
„Der Kreislauf. Ist nicht schlimm. Das hast du von mir“, erklärte Mama, trug mich in die Küche und ließ mich auf den Stuhl gleiten.
„Unsere Kleine ist ziemlich mitgenommen“, befand sie.
Tante Rosi stimmte zu: „Ich kenn‘ das. Haben alle. Der Kreislauf. Ist nicht schlimm. Muss nur wieder auf Trapp gebracht werden“, lallte sie und hielt mir ein halbes Schnapsgläschen mit Eierlikör vor die Nase.
Oh ha, wieder eine böse Falle! Oder ein Test? Ich versuchte zu meutern, aber die Lippen spielten nicht mit. Ersatzweise stürzte ich den Likör hinunter. Ich angelte mit der Zunge nach dem Rest im Glas. Lecker. Vor allem ohne die Früchte. - Aber wieso bekam ich den angeboten? Was war hier los?! Ich provozierte und reichte das Gläschen zum Nachfüllen rüber. - Nicht zu fassen! Niemand protestierte.
Tante Rosi brabbelte: „Kein Wunder, dass du nix essen mochtest. Ist ja ein Stock. Pardon: Schock. Wann ist Organe weggeschlafen?“
„Organa“, berichtigte Mama. „Quatsch! Orgasta. Du machst mich ganz wusch, Rosi. Und nicht weggeschlafen, sondern weggegangen. Über den Jordan.“
Ich drehte mich zur offenen Küchentür und schaute in den Salon. Blödsinn! Dort sitzt doch das Ömele. Vornehm, würdevoll.
„Klaro!“, Tante Rosi schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Morgana ist seit gut sechs Stunden hinüber. Da steht ja noch alles, wie ich `s drauf gestellt hab … War sie schon alt, als du ihren kalten Körper abgedeckt hast? Nee. Nochmal: War sie schon kalt als du ihren alten … äh … wolltest?“, fragte sie.
Meinte sie den Schotten? „Malt?“ Den Namen brachte ich wie ein Niesen hervor. Ich hielt ihr erneut das Gläschen hin.
„Nö, nö, nö. Du kriegst keinen richtigen Schnaps. Schon gar keinen Whisky. Du bleibst schön beim Likörchen.“ Sie schenkte schwankend in gebeugter Haltung nach und flüsterte in mein Ohr: „Aber sag‘s nicht Mama und Papa. Pst. Hörst du? Pst.“ Mit sportlicher Zackigkeit richtete sie sich auf, hielt sich am Tisch fest und juchzte: „Wunderbar, da seid ihr ja wieder, ihr zwei beiden. Kommt, wir trinken jetzt einen richtigen Schnaps. Zur Feier des Tages.“ Sie stellte drei große Wassergläser heraus, wankte zum Vorratsraum, schnappte sich eine der Flaschen und nuschelte überlaut: „Jeden Monat hat die alte Hexe ein paar von denen angeschleppt. Damit könnte ich eine Trinkerheilanstalt eröffnen.“ Drei, vier Sekunden hielt sie inne, dann brach es aus ihr heraus: „Mein Gott, Dörte, Dieter, versteht ihr? Ich kann das wirklich tun! Ich bin frei! Fünfzehn Jahre hat mir die alte Schachtel das Leben zur Hölle gemacht. Noch länger und sie hätte mich in den Wahnsinn getrieben! Die verdammte Gnädige Frau!“
Sie schlug die Hände vors Gesicht, lachte und weinte in einem, umarmte meine Eltern, umarmte mich. Nebenher goss sie den Schnaps vorbei an den Gläsern auf den Tisch. „Macht nix! Ich hab‘ genug davon! Gehört jetzt alles mir! Das ganze Anwesen gehört mir! – Dieter, gieß du ein! Und dann überlegen wir, was wir mit der gnädigen Entschlafenen machen.“
„Nicht wecken!“ Ich wollte hinzusetzten, dass das Ömele ihren Traum von Liebe und Treue zu Ende träumen sollte. Doch meine Lippen gehörten mir nicht mehr. Aber lächeln konnten sie noch. Denn bevor ich mit bleischweren Lidern zusammensackte, roch ich den anheimelnden frischen Zigarrenduft.
Die Rauchwolke schwebte geisterhaft vom Salon über die Diele zur Küche. Tee plätscherte vernehmlich aus der Kanne in die Tasse. Das Lebenselixier auch.