Ein fantastischer Fleck
Kunstakademieprofessor Buntvogel versank in Ehrfurcht vor dem großformatigen Gemälde des derzeit angesagtesten Schöpfers abstrakter Malerei, Josef Pinslinger. Dieses wandhohe, erdfarbene Quadrat übte auf ihn eine unwiderstehliche Sogkraft aus. Dieser monochrome Traum, durchzuckt von einem einzigen, wohlgesetzten perlsilbernen Pfeil, raubte ihm den Atem. „Blitzgewitter über dem Park“ war der Titel des Bildes. Hinreißend.
„Sowas kann doch jeder, einfach braune Farbe auf eine Leinwand spachteln, innerhalb von fünf Minuten, dann schnell noch einen schrägen weißen Strich, und schon hast du ein paar Hunderttausend verdient.“
Buntvogels Magen krampfte sich schmerzvoll zusammen. Er ersparte sich einen Seitenblick zu dem jüngeren Mann, der neben ihm auf der Galeriebank Platz genommen hatte. Es lohnte nicht, er kannte sie zur Genüge, die Banausen ohne Kunstsinn. Da stand er drüber, da war Hopfen und Malz verloren und jegliche Liebesmüh.
„Meine Tochter, die ist fünf, die macht das besser, da ist ein Baum noch ein Baum und ein Blitz ist ein Blitz, und was für einer“, plauderte Buntvogels Nachbar weiter und lehnte sich zu ihm hinüber. „Die fabriziert wahre Kunstwerke, schwöre ich Ihnen. Ich habe ein Foto im Smartphone dabei, hier, schauen Sie mal!“
Buntvogel schluckte trocken durch und blickte unbeirrt geradeaus.
Sein Nachbar rückte noch ein bisschen näher an ihn heran, stupste ihn mit dem Ellbogen und hielt ihm das Handy vor die Nase: „Echt begabt, meine Kleine, das müssen Sie zugeben, nicht wahr. Und das kostet mich praktisch nix. Die Kleine schafft das nur mit einem Stück Papier und ein paar Farbstiften. Aber was hier geboten wird, das ist doch eine ausbeuterische Zumutung, sagen Sie selbst.“
Buntvogel schob den Ellbogen des jungen Mannes unwillig beiseite.
„Warum besuchen Sie dann überhaupt diese fabelhafte Pinslinger-Ausstellung?“, fragte er, jetzt leicht genervt.
„Weil auf dem Plakat ‚Fantastische Landschaften‘ steht, ich liebe Landschaften, und ich wollte meiner kleinen Künstlerin einen Katalog mitbringen“, konterte der Mann mit angehobener Stimme.
„Dem steht doch nichts entgegen“, gab Buntvogel ebenfalls laut zurück und wendete sich mit feurigem Blick erstmals seinem Nachbarn zu.
„Aber diese stümperhaften Schinken hier mit nix drauf, sind doch eine fantastische Frechheit, und das für 15 Euro Eintritt“, polterte der Mann zurück.
„Sie Ignorant“, zischte Buntvogel, sprang auf, griff nach dem Buch, das neben ihm auf der Bank lag, und schlug es dem Nachbarn auf den Kopf.
„Da haben Sie den Katalog für Ihr talentfreies Dummchen“, brüllte er, drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte erhobenen Hauptes davon.
„Dem haben wir es aber gegeben, gel, verehrter Pinslinger“, murmelte er noch mit einem Blick auf den erdfarbenen, überdimensionalen Fleck an der Galeriewand.