TAG DER ABFUHR
Ich soll eigentlich nicht darüber reden. Machen aber alle. In der Zeitung stand’s auch schon. Einige waren sogar schon in Fernsehen. Ich nicht. Muss auch nicht sein. Alle schwärmen immer, Fernsehen sei so toll. Ich hab mir so einen Kasten mal näher angeschaut. Drin war ich auch. Furchtbar. Eng, lauter Kabel und Kanten. Nichts von all dem, was den bunten Bildern vorne drauf auch nur irgendwie gerecht werden könnte. Nee, ohne mich. Ich brauch kein Fernsehen.
Stadt ist besser. Wenn man sich ein bisschen auskennt. Ich kenn mich aus. Inzwischen.
Anfangs war’s der Horror. „Lauf nicht auf die Straße“, hieß es. Toll. Woher wusste ich denn, was ne Straße ist? Oder gar ne Gasse. Ist aber im Grunde wie Wald. Nur besser. Also meistens.
Der dicke Karl is’n Vetter. Gibt aber noch viel fettere. Der dicke Watz zum Beispiel. Der lebt schon so lange in der Stadt, dass er überhaupt keine Manieren mehr hat. „Der Watz, der hats geschafft“, sagen sie. Ich frage mich nur: Was? Nur fressen und schlafen kanns auch nicht sein. Dabei schläft der meist gar nicht. Vielmehr ist er ohnmächtig. Weiber steh’n ja auf dicke Wätze. Das hat er nun davon. Dafür bin ich bestimmt nicht in die Stadt. Ich will was erleben. Gut, das wollte der Watz auch … aber lassen wir das. Ihr merkt schon: Die Stadt hat ihre eigenen Gesetze.
Ich bin noch kein dicker Watz. Ich bin noch jung und drahtig. Deshalb muss ich an Tagen wie heute auch immer Wache schieben. Heute ist grüne Tonne in der Kirchallee. Unser Revier. Wache schieben heißt Aufpassen. Nicht, dass sich hier ne andere Gang breit macht. Ich muss auch aufpassen, wenn der Müllwagen kommt. Dann müssen alle raus aus den Tonnen. Der Karl zum Beispiel. Nicht, dass der am Ende aus Versehen mit abtransportiert wird. Zum Glück höre ich den Müllwagen rechtzeitig. Karl hört mal wieder nichts. Erst als ich feste gegen die Tonne trete, in der er steckt. Dauert auch ne Weile, bis sich endlich der Deckel hebt.
„Was’n?“, fragt Karl.
Er hat ganz rote Augen. Zum Glück rafft er es noch, als ich „Abfuhr“ rufe. Er wuchtet seinen dicken Hintern über den Rand und versucht herunterzuklettern. Das ist gar nicht so einfach, mit all den Sachen, die er in den Armen hält. Loslassen will er sie nicht. Ich schließe ahnungsvoll die Augen und öffne sie erst, nachdem ich höre, wie er aufgeschlagen ist. Ich will ihm schon helfen, da kommt Bea angetanzt. Bea hat ne tolle Figur. Seit ich sie mal nass gesehen habe, kann ich kaum noch was anderes denken. Sie trägt immer noch die bunte Sonnenbrille aus der Cornflakes-Packung, die ich ihr geschenkt habe.
Sie besieht sich Karl.
„Was passiert?“, fragt sie.
„Nee. Das Übliche. Sieht toll aus.“
Ich deute auf ihre Brille.
Sie lächelt und deutet auf meine leeren Hände.
„Und du? Nichts?“
„Doch. Wache.“
„Du Ärmster. Die anderen werden dir bestimmt was abgeben.“
Träum weiter, denke ich und nicke hoffnungsvoll.
Endlich kommt der Trupp mit dem klappernden Einkaufswagen. Zwei Waschbären vorne, zwei hinten. Ich werfe ein paar von Karls Sachen in den Korb. Der ist schon halb voll. Dann packen alle mit an und wir werfen den ganzen Karl hinterher. Der ist total voll. Nichts wie weg.
Bea darf im Wagen mitfahren. Sie schwingt sich ins Ablagefach. Ich würde ihr so gerne was schenken. Aber ich hab nichts. Alles, was im Wagen liegt, ist tabu. Das gehört dem dicken Watz. Und seinen Weibern.
Dann plötzlich Panik. Eine Haustür öffnet sich. Alle schreien durcheinander. Ich erkenne den alten Wutke. Im Bademantel. Der hätte fast wieder die Müllabfuhr verpennt. Nicht mal die Brille hat er auf. In Pantoffeln rennt er zur Straße. Das ist meine Chance. Ich renne ihm zwischen die Beine. Er schießt so weit über die Straße, dass er fast bei den Mülltonnen landet. Seine Tüte platzt auf. Völlig benommen sucht er immer noch seine Brille, die er gar nicht aufhatte. Die Zeit reicht. Ich raffe rasch zwei Mon Cheri und ein Stück feine Leberwurst zusammen und bringe es Bea.
Die Leberwurst darf ich behalten. Beim Anblick der Mon Cheri leuchten ihre Augen.
„Du bist ja’n Süßer“, haucht sie.
Ich freu mich. Heut ist Tag der Abfuhr. Aber nicht für mich.