Krieg und Frieden
„Guck mal, Mama, ein Flusen!“
„Das ist kein Flusen, das ist ein Silberfischchen.“
„Nein, bin ich nicht! Zum hundertsten Mal. Ich bin ein Papierfischchen. Das ist ein Unterschied“, rufe ich aufgebracht, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht hören, geschweige denn verstehen können.
„Mama, das Fisch kann sprechen.“ Ein gigantischer Kopf beugt sich zu mir hinunter, große Kulleraugen in einem von dunklen Locken eingerahmten Gesicht starren auf mich herunter. Und das sind noch die kleinen Exemplare.
„Ja? Was hat es denn gesagt?“ Die Stimme des Muttertiers klingt gönnerhaft. So gehen wir mit unserem Nachwuchs nicht um. Denen wird direkt was zugetraut.
„Is kein Silber, is Papierfisch!“ kräht das Kind. Warte, was? Es hat mich tatsächlich gehört. Unauffällig schiebe ich mich in eine Fuge zwischen den Fliesen. Vor dem grauen Untergrund bin ich fast unsichtbar.
„Hey, kannst Du mich verstehen?“ sage ich vorsichtig. Es nickt und zeigt auf sich.
„Martha. Wie heißt Du?“
Och nä, stimmt ja, die haben ja so ein Ding mit ihren Namen, die Menschen. Dass wir keine haben, wird das Kind nicht verstehen.
„Ähm…“, stammele ich, „ich heiße…“ - tastend husche ich umher, was wäre angemessen? Meine Fühler stoßen auf bekanntes Terrain, und warum auch nicht? Die einfachste Lösung ist immer die beste. Fischlein, bleib bei Deinen Leisten, sag ich immer.
„Leiste!“ sage ich stolz, und füge erläuternd hinzu: „Fußleiste.“ Dass wir gleichzeitig auch dort wohnen, muss das Kind ja nicht wissen. Es quietscht begeistert und deutet auf mich.
„Fuß!“
Wieder mischt sich die Mutter ein. „Ja, das ist dein Fuß! Hast Du auch noch einen anderen?“
Das Kind guckt verwirrt, ich genervt.
„Na, schau doch, da!“ Die Mutter zeigt auf die andere Gliedmaße des Kindes, mit dem es steht. Martha guckt nach unten. Wie es der Teufel will, kommt mein Bruder des Weges und sie gluckst vor Freude über die Entdeckung. „Zwei Fuß!“ lacht sie. Die Mutter lacht mit ihr.
„Genau, zwei Füße hast Du!“ Ich verdrehe alle Augen und Tastorgane. Die Dame scheint ihre Gehirnmasse nicht unter Kontrolle zu haben. Vielleicht entwickelt sich der Mensch ja irgendwann weiter, hin zum Exoskelett. Könnte helfen.
Ganz in Gedanken über den Mensch als biologisches Mängelwesen vertieft, bekomme ich fast nicht mit, dass das Muttertier nun auch meinen Bruder entdeckt, der auf dem Weg vom Bücherregal nach Hause ist. Er hat da was erzählt von „Krieg und Frieden“, sehr altes Papier, kaum entstaubt, beste Qualität. Ich finde, er hat schon zugelegt. Ich beschließe, gleich mal das Regal aufzusuchen.
„Also das werden ja immer mehr! Es reicht jetzt wirklich.“ Sie geht in die Küche, kommt mit einem Papiertuch in der Hand zurück. Halt, sie wird doch nicht etwa?!
„Pass auf“, brülle ich, doch mein Bruder ist zu weit weg, hört mich nicht. Die Hand, die das Tuch hält, rast gen Boden, das Papiertuch umschließt den Körper meines Bruder, der von „Krieg und Frieden“ noch ganz träge ist, und mit Entsetzen beobachte ich, wie er zwischen zwei Fingern zerquetscht wird. Die Mutter ballt das Papiertuch zu einem Knäuel und wirft es ins Klo. Spült ab.
Martha ist kalkweiß im Gesicht.
„Fuuuuuß!“ kreischt sie. In diesem einen Wort schwingt ein ganzes Trauma mit. Ach Kleines, will ich sagen, das passiert. Deswegen sind wir so viele. Aber sie weint zu laut. Die Mutter indes, man mag es kaum glauben, kommt herbei geeilt und fragt: „Was ist denn mit Deinem Fuß? Tut Dir was weh?“
Ich kann nur mit dem Kopf schütteln und hoffen, dass die Menschen eher früher als später ein Exoskelett entwickeln.