Seitenwind Woche 6: Großstadttiere

Krieg und Frieden

„Guck mal, Mama, ein Flusen!“
„Das ist kein Flusen, das ist ein Silberfischchen.“
„Nein, bin ich nicht! Zum hundertsten Mal. Ich bin ein Papierfischchen. Das ist ein Unterschied“, rufe ich aufgebracht, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht hören, geschweige denn verstehen können.
„Mama, das Fisch kann sprechen.“ Ein gigantischer Kopf beugt sich zu mir hinunter, große Kulleraugen in einem von dunklen Locken eingerahmten Gesicht starren auf mich herunter. Und das sind noch die kleinen Exemplare.

„Ja? Was hat es denn gesagt?“ Die Stimme des Muttertiers klingt gönnerhaft. So gehen wir mit unserem Nachwuchs nicht um. Denen wird direkt was zugetraut.

„Is kein Silber, is Papierfisch!“ kräht das Kind. Warte, was? Es hat mich tatsächlich gehört. Unauffällig schiebe ich mich in eine Fuge zwischen den Fliesen. Vor dem grauen Untergrund bin ich fast unsichtbar.

„Hey, kannst Du mich verstehen?“ sage ich vorsichtig. Es nickt und zeigt auf sich.
„Martha. Wie heißt Du?“

Och nä, stimmt ja, die haben ja so ein Ding mit ihren Namen, die Menschen. Dass wir keine haben, wird das Kind nicht verstehen.

„Ähm…“, stammele ich, „ich heiße…“ - tastend husche ich umher, was wäre angemessen? Meine Fühler stoßen auf bekanntes Terrain, und warum auch nicht? Die einfachste Lösung ist immer die beste. Fischlein, bleib bei Deinen Leisten, sag ich immer.

„Leiste!“ sage ich stolz, und füge erläuternd hinzu: „Fußleiste.“ Dass wir gleichzeitig auch dort wohnen, muss das Kind ja nicht wissen. Es quietscht begeistert und deutet auf mich.
„Fuß!“
Wieder mischt sich die Mutter ein. „Ja, das ist dein Fuß! Hast Du auch noch einen anderen?“

Das Kind guckt verwirrt, ich genervt.
„Na, schau doch, da!“ Die Mutter zeigt auf die andere Gliedmaße des Kindes, mit dem es steht. Martha guckt nach unten. Wie es der Teufel will, kommt mein Bruder des Weges und sie gluckst vor Freude über die Entdeckung. „Zwei Fuß!“ lacht sie. Die Mutter lacht mit ihr.
„Genau, zwei Füße hast Du!“ Ich verdrehe alle Augen und Tastorgane. Die Dame scheint ihre Gehirnmasse nicht unter Kontrolle zu haben. Vielleicht entwickelt sich der Mensch ja irgendwann weiter, hin zum Exoskelett. Könnte helfen.

Ganz in Gedanken über den Mensch als biologisches Mängelwesen vertieft, bekomme ich fast nicht mit, dass das Muttertier nun auch meinen Bruder entdeckt, der auf dem Weg vom Bücherregal nach Hause ist. Er hat da was erzählt von „Krieg und Frieden“, sehr altes Papier, kaum entstaubt, beste Qualität. Ich finde, er hat schon zugelegt. Ich beschließe, gleich mal das Regal aufzusuchen.

„Also das werden ja immer mehr! Es reicht jetzt wirklich.“ Sie geht in die Küche, kommt mit einem Papiertuch in der Hand zurück. Halt, sie wird doch nicht etwa?!

„Pass auf“, brülle ich, doch mein Bruder ist zu weit weg, hört mich nicht. Die Hand, die das Tuch hält, rast gen Boden, das Papiertuch umschließt den Körper meines Bruder, der von „Krieg und Frieden“ noch ganz träge ist, und mit Entsetzen beobachte ich, wie er zwischen zwei Fingern zerquetscht wird. Die Mutter ballt das Papiertuch zu einem Knäuel und wirft es ins Klo. Spült ab.

Martha ist kalkweiß im Gesicht.
„Fuuuuuß!“ kreischt sie. In diesem einen Wort schwingt ein ganzes Trauma mit. Ach Kleines, will ich sagen, das passiert. Deswegen sind wir so viele. Aber sie weint zu laut. Die Mutter indes, man mag es kaum glauben, kommt herbei geeilt und fragt: „Was ist denn mit Deinem Fuß? Tut Dir was weh?“

Ich kann nur mit dem Kopf schütteln und hoffen, dass die Menschen eher früher als später ein Exoskelett entwickeln.

Ich lebe im Garten der Familie Neuhans. Ein sehr schöner Garten. Für eine Stadt relativ groß, mit viel grün. Man könnte mich auch Glückspilz nennen. Leider hängt hier seit gestern ordentlich der Haussegen schief. Nicht bei mir. Bei Familie Neuhans. Der Grund dafür bin ich, irgendwie. Der Herr des Hauses hat gestern den Laubbläser angeschmissen. Das gab vielleicht Ärger. Herr Neuhans hatte das ganze Laub weggepustet und für Tiere nicht erreichbar entsorgt. Abgesehen davon, dass der Laubbläser nicht gut für Insekten und kleine Ohren ist, fehlt mir nun das Laub für meine Winterhöhle. Ich hatte die Tage gerade damit angefangen. Nun ist alles weg. Die Kinder hatten Angst ich ziehe in einen anderen Garten. Die kleine Marie weinte sogar. Ich wollte natürlich nicht umziehen. Hier ist der einzige Garten ohne Hund. Ich habe absolute Ruhe. Zum Glück krempelten Frau Neuhans und ihre beiden Kinder die Ärmel hoch und verteilten das ganze Laub wieder vor der Hecke, in der ich mich gern verstecke. Ich glaube der Laubbläser steht aktuell zum Verkauf im Internet. Hatte ich erwähnt, dass man mich Glückspilz nennen kann?

Walzer im Gleisbett

Ich bin nicht verzweifelt. Nicht mal ein bisschen. Ich bin nicht verrückt, auch wenn es so aussieht. Ich wurde hineingeboren in dieses Leben. Mein Leben. Ich mag es hier. Mag meine zweiunddreißig Geschwister. Und ja, vielleicht ist es gefährlich, aber nein, ich will es nicht missen. Letzte Woche habe ich eine halbe Dönertasche gefunden. Auf über zwei Quadratmetern im Gleisbett verteilt. Gestern dann dieses Pizzastück und das Brötchen. Fachmännisch zerlegt und in unser Nest getragen. Mein Revier ist der Potsdamer Bahnhof. Trocken, gemütlich, keine Katzen. An den Geruch habe ich mich gewöhnt.

Ich kann nicht klagen. Ich tanze im Dreivierteltakt. Ich bin schneller als die Lautsprecherdurchsagen. Mich sehen nur Menschen, die von ihren Taschencomputern aufsehen und sich ins Leben stürzen. Zwischen den Zügen turne ich. Die An- und Abfahrtszeiten kenne ich im Schlaf. Sonntags marschiere ich zum Kiosk. 8.13 Uhr. Laugenkonfekt. Gaumenschmaus. Der Typ mit der Mütze brüllt jedes Mal mit dem Besen in der Hand durch den gläsernen Kasten. Er kriegt mich nicht. Niemals. Ich bin schneller. Füßchen auf Beton und Stahl. Tipp tipp tapp tipp tipp tapp tipp tipp tapp.

Die goldene Abendsonne warf kaleidoskopische Muster auf die silbrig glänzenden Müllcontainer.
Unsere Gruppe schlich näher, wir drückten unsere kleinen Körper an der Hauswand entlang.
»Ich habe Hunger", maulte Grünschnabel, der jüngste der Sippe.
»Ich weiß«, erwiderte ich freundlich. »Hab noch etwas Geduld«
Grünschnabel streckte seine kleine, rosafarbene Nase in den Wind.
»Oh Mann, gebratene Nudeln, Bambussprossen, Ente…«
Jetzt seufzte ich. Grünschnabel durfte heute zum ersten mal mit. Unsere Welt war ihm noch fremd.
Graubart, eine große, alte Ratte, vernarbt und zerzaust, trat vor. Reckte seine Nase, witterte. Näherte sich den aufgerissenen, schwarzen Müllsäcken des Asia Restaurants.
»Das ist gemein. Warum darf Großvater als erster?«, maulte das Jungtier.
Ich stutzte.
»Du weißt es nicht?«
»Was weiß ich nicht?«
»Großvater beschützt uns, er setzt sich großen Gefahren aus.«
Grünschnabel schnaubte.
»Klar, weil er die leckersten Sachen zuerst frisst.«
Langsam neigte ich den Kopf. Wägte meine Worte ab.
»Die Menschen hassen uns. Sie legen giftige Köder aus. Großvater hat viel
Erfahrung, er prüft, bevor wir fressen dürfen.«
Einen Moment hielt ich inne, dann sprach ich langsam weiter.
»Aber ich mache mir Sorgen, er ist alt geworden, und sein Geruchsinn lässt nach. Aber er möchte niemanden diese Verantwortung aufbürden.«
Ein Geräusch ließ uns aufschrecken.
Die alte Ratte wälzte und wand sich auf dem schmutzigen Plastikbeutel. Schüttelte sich, bäumte sich auf.
Rollende Augen, schäumende Schnauze.
Grünschnabel schrie auf.
»Großvater.«
Dann Stille, nur der Wind wisperte leise sein Lied. Vorsichtig näherten wir uns,
senkten unsere Köpfe und gaben uns dem Moment der Trauer hin.
Nur wenige Augenblicke später verschwanden wir in der aufkommenden Dunkelheit.

Samstag ein ganz normaler Tag

Es ist Samstag. Am Samstag putzt mein Frauchen immer. Das ist meine Chance, mich für ein paar Stunden unsichtbar zu machen. Die Tür ist einen kleinen Spalt weit geöffnet. Blitzschnell sause ich zu ihr hin und schlüpfe hindurch. Draußen vorm Haus wartet schon meine Gang. Pit und Flocke sind genauso nervös wie ich. Was wir wohl heute alles erleben werden? Drama? Liebe?

Jeden Samstag mischen wir unser Viertel auf. Pit ist eine niedliche schwarze Katze mit magisch grünen Augen. Augen, die einen verzaubern. Übrigens ist das auch der einzige Kater, den ich ausstehen kann. Dann haben wir noch Flocke. Ein wirklich überdrehtes, kleines und sehr flauschiges Eichhörnchen. Flocke ist besessen von Nüssen. Egal ob klein oder groß, aber rund müssen sie sein.

Ich laufe gechillt an beiden vorbei und hebe meine Pfote, um sie zu begrüßen. Sie nicken mir freundlich zu und schwups machen wir uns auf den Weg. Als erstes begeben wir uns zu Frau Fischkopf. Eine nette alte Dame. Keine Ahnung, ob das wirklich ihr Name ist. Pit nennt sie so, weil sie so knallige rote und dicke Lippen wie ein Fisch hat.

Auf den Weg zum Fischstand muss ich aber erst mal meine 1000 Mails checken. Pit und Flocke erröten vor Scham und halten sich empört ihre Augen zu. Während ich genüsslich mein Bein anhebe und mich am Blumentopf von Frau Nervensäge vergehe. Natürlich steht sie auch diesmal mit der Zeitung hinter der Gardine, um mich auf frischer Tat zu erwischen. Das ist einfach unser Ding. Diesmal ist die alte Lady etwas schneller als gewohnt, weil ich nur die Hälfte meiner Mails beantworte. Beeindruckt sehe ich sie an, bevor wir schnell davon rennen.

Weiter geht es durch die stillen Gassen entlang kleiner Treppen, bis wir am Fischstand und bei Frau Fischkopf ankommen. Sie wartet pünktlich auf die Minute auf ihren Pit, der es kaum abwarten kann, seinen Gourmet Gaumen zu stopfen. Pit schleicht elegant um ihre dicken Elefantenbeine und schmiegt sich an sie. Hier und da miaut er zufrieden auf. >> Gutes Fräulein, gutes Fräulein<<, höre ich ihn nuscheln. Zum Abschied wirft er ihr einen verzauberten Blick zu. Sie verfällt in Entzücken und streichelt ihn fast zu Tode. Während uns bei diesem ekeligen Anblick fast die Kotze hochkommt. Sobald Pit seinen Fisch hinunterwürgt und die Gräte aus seinem Rachen zieht, gehts weiter.

Nächster Halt Ulrikes Feinkostladen. Genau hier ist Flocke ein gern gesehener Gast. Jeden Samstag absolviert er einen kleinen Ninja Parkour. Als Hauptgewinn gibt es einen kleinen Sack voller unterschiedlicher Nüsse. Flocke saust durch jedes Hindernis ganz gleich, ob hoch oder schwer, er meistert alles mit Bravour. Nebenbei knackt er seinen eigenen Rekord. Ulrike klatscht und hüpft verzaubert herum. Während wir schnell die Biege machen.

Endlich, mein heiliger Gral ist in greifbarer Nähe. Es sind nur noch Zentimeter, die mich von meinem Himmel trennen. Metzgerei Hansi, ein Paradies für jedermann und Frau steht oben drüber. Und auch für uns die Vierbeiner ist etwas dabei. Ein wirklich wahres Paradies. Er ist mein ganz persönlicher Held. Ein goldiger, kugelrunder und kleiner Mann, der beim Gehen von links nach rechts schwankt. Alles an ihm riecht für mich so betörend. Sodass ich mich hin und wieder vergesse und seine dicken Finger als kleine Würstchen verwechsle.

Aufgeregt wedle ich mit meinem Schwanz und lecke mir ungeduldig mit der Zunge übers Maul. Mein Magen schreit mich an. Ich hol alles aus mir heraus. Ein wedeln, eine kleine Rolle, ein Sitz, ein Platz und meine Krönung ein Pfötchen geben. Begeistert von meiner extra für ihn einstudierten Choreografie überreicht er mir eine 1 Meter lange Wurstkette. Hastig schnappe ich sie mir und schlucke sie herunter. Dabei entwischt mir ein kleiner Rülpser. Ein Zeichen meiner Wertschätzung für seine gute Küche.

Aber dann werde ich auf den Boden der Realität zurückkatapultiert. Genau jetzt steigt mir ein sehr vertrauter Duft in die Nase. Diesen blumigen Duft würde ich überall erkennen. Scheiße! Mein Frauchen hat mich beim Fremdgehen erwischt. In Zukunft kann ich nicht mehr die Karte des alten gebrechlichen Hundes ziehen. Denn mir sind immer noch alle Kunststücke geläufig. Aber wollte sie nicht putzen? Heute ist doch Samstag oder nicht?

Bessere Zeiten

„Auf geht’s“ knurrt mein Besitzer und kneift mir in die Seite. Es ist wohl wieder soweit. Mein „freier“ Tag. Schwerfällig erhebe ich mich. Jetzt beginnt mein Zweitjob.
Er legt mir die löchrige und stinkige Decke über meinen strubbeligen Rücken. Meine Hufe klackern laut in der Früh auf dem Pflaster. Ein eisiger Wind weht durch die Gassen. Der wird meinen alten Knochen wieder stark zusetzen.
Unser Weg ist nicht weit. Der Mann breitet seine Kissen aus, stellt die Dose vor uns und das vergilbte Schild davor. Ich kenne es auswendig, oft genug hatten Passanten es laut vorgelesen:

„Zirkus Halligalli
Wir bitten um Spenden für unsere Tiere, egal ob Essen oder Geld. Alles hilft!“

Die Passage füllte sich. Immer wieder kneift er mich schmerzhaft in die Seite. Ein lautes „Iaahh“ entweicht mir und erschrekt das vorbei laufende Pärchen. Es erzielt seine erhoffte Wirkung und sie werfen etwas in die Dose.
Das wird nun den ganzen Tag so gehen. Wie immer. Nur die Stadt wechselt von Zeit zu Zeit.
Für uns Tiere… pah, von wegen. Heute Abend würden die Männer und Frauen wieder fürstlich essen und trinken. Auf mich wartet nur Wasser und gerade genug Heu, dass der Magen aufhört zu knurren. Wie immer.
Wäre ich doch besser Stadmusikant geblieben. Das waren noch Zeiten.
Wie es wohl den anderen geht?

Treffer versenkt!

Vor langer Zeit glaubten die Menschen daran, dass Odin nur deshalb alles wüsste, weil er seine zwei Raben Hugin und Munin in die Welt schicken würde, um ihm Bericht zu erstatten. Das war natürlich völliger Quatsch, nicht nur, weil es diesen altnordischen Gott nie gegeben hat, sondern vor allem, weil wir Raben unsere Entdeckungen niemals teilen.

Früher saß ich, wenn es auf den Winter zuging und langsam kalt wurde, auf der Kuppel eines Atomkraftwerks, aber weil ihr die außer Betrieb genommen habt, musste ich mir ein anderes Plätzchen suchen. Und so siedelte ich in das Einkaufszentrum der nächstgelegenen Stadt um. Dort ist es auch viel spannender, gehetzte Menschen rennen hektisch durcheinander, so manches zwielichtiges Geschäft wird verübt, im Glauben, dass niemand sie sehen könnte. Oh doch, ich hab alles gesehen.

Was haben wir denn da? Eine Nuss? Wunderbar, die leg ich jetzt hier mitten auf die Straße, damit jemand mit so einem komischen Blechding drüber fährt. Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert. Köstlich, diese Nüsse.

Zeit für einen Rundflug. Sieh mal einer an, wer will denn da mit Drogen handeln? Na warte, nicht in meinem Bezirk, ich werfe mal Ballast ab. Treffer versenkt! Jetzt versteh ich, warum die Tauben das so gern spielen, das macht unheimlich Spaß.

Einfach wunderbar, ich liebe die Stadt!

„Ich gehe auf große Reise!“, flüstere ich meiner Familie zu. Alle sehen mich an, als ob ich verrückt geworden bin. Aber ich weiß genau, auf mich wartet ein Abenteuer. Sind wir nicht dazu gemacht, Neues zu erleben?
Es ist noch dunkel im Zimmer. Die Koffer stehen noch halb offen auf dem Boden herum, aber für mich heißt es Abschied nehmen. Ich winke meinen Eltern, meinen Geschwistern und Cousins, Cousinen aller Grade zu. Sie denken, ich bin irregeworden, aber tout alors! Man lebt nur einmal.
Ich schnuppere und erhasche den Geruch fremder Orte. Vorsichtig tripple ich auf den ersten Koffer zu, betrachte ihn und überlege. Vielleicht sehe ich mir den anderen auch noch an? Rot ist eher meine Farbe. Und es riecht verführerisch.
Kopfüber lasse ich mich in den gewählten Koffer fallen und schwimme in der Kleidung, die sich schon darin befindet. Cousine Kelly krabbelt mit hinein und sieht mich mit großen Augen an. „Bist Du sicher, dass Du uns verlassen willst? Unser schönes Paris? Wenn Dir langweilig ist, könntest Du auch Bahnfahrer werden, wie Onkel Thierry!“
Ich schüttle aber nur meinen Kopf. Ich bin zum Reisen geboren. So schön wie Paris ist, mein Ziel ist da, wohin der Koffer reist. Ich habe etwas von Berlin gehört. Dort gibt es kaum Familienmitglieder, zumindest soweit ich weiß. Andere erforschen den Amazonas und die Arktis, ich werde Berlin erforschen!
Kelly verlässt mich mit einem traurigen Blick. „Schreib, wenn Du angekommen bist, ja?“ Ich nicke und verstecke mich tiefer im Koffer. Nicht, dass mich noch jemand entdeckt.
Die Reise selbst ist unspektakulär. Stundenlang sitze ich im Dunkeln. Die Wäsche hält mich warm und ich gebe zu, ich schlafe so gut wie schon lange nicht mehr. Wach werde ich erst, als der Koffer sich bewegt und ich durchgerüttelt werde. Jetzt fängt mein Abenteuer erst richtig an!
Der Koffer wird geöffnet, die Wäsche achtlos auf den Boden vor eine Waschmaschine geworfen. Das ist meine Chance! Ich renne los.
Hinter mir höre ich noch einen lauten Schrei, aber da bin ich schon in einer dunklen Ecke untergetaucht. Mich bekommt ihr nie!

  • aus den Reiseberichten von Jacques, der Bettwanze

Ins Netz gegangen

Ihr glaubt, einsam zu sein sei ein Makel? Ein Unglück? Wer einsam ist, sei zu bedauern?

Ihr wisst nicht, wovon ihr sprecht.

Seit nahezu drei Jahren lebe ich schon hier. Die Einbauküche im sechsten Stock des Hochhauses am Rande der Stadt habe ich mir sorgsam ausgewählt. Keine Kinder. Das war mir am wichtigsten. Die sind hinter unsereins her wie der Teufel hinter armen Seelen. Sie fangen uns mit ihren feuchten Patschhänden, tragen uns an einem Bein durch die Gegend, reißen es uns am Ende noch aus.

Nö!

Anderthalb-Zimmer-Wohnungen, die schienen mir ein sicherer Ort vor dieser Spezies. Nächstes Kriterium: berufstätige Bewohner. Die sind selten daheim und putzen sich dann eben nicht wund beim Stöbern in dunklen Ecken. In einer solchen, einer uneinsehbaren Ecke hinten zwischen dem Vorratsschrank und dem Einbauherd, da hab ich es mir gemütlich gemacht.

Ich genieße meine Einsamkeit. Ich muss zu niemandem freundlich sein und niemandem genügen. Ich muss kein Bedauern äußern und auch keine sonstige Anteilnahme heucheln. Ganz auf mich selbst zurück geworfen erlebe ich: MICH. Entzücke mich an der Koordinationsfähigkeit meiner Beine, an meinen sensiblen Becherhärchen daran, die mir feinste Bewegungen und Laute signalisieren.

Darum kann ich tagsüber gefahrlos aus meinem Bau kriechen, in der Küche umherspazieren und meine Netze weben. Am liebsten in die Fensterecke, wo die Sonne lange das Glas und mich wärmt. Von da schaue ich dann auch hinaus, betrachte den Zug der Wolken und horche auf das Klatschen von Regentropfen. Wisst ihr, wie herrlich das ist, nicht nass zu werden und sich nicht gegen den Wind stemmen zu müssen? Zugegeben, ins Netz geht mir immer weniger Beute. Obwohl Oskar es nicht so mit der Reinlichkeit hat. Allerdings hörte ich, das sei ein generelles Problem. Nun, immerhin kann ich an den Küchenkräutern im Topf naschen. Manchmal kleckert Oskar auch und Honigtropfen kleben auf dem Tisch. Wenn mich der Hunger zu sehr plagt, futtere ich von seinem Flohsamen. Den rührt er jeden früh in sein Müsli gegen Darmträgheit.

Ihr seht, allein bin ich nicht. Als Anschauungsexemplar ist Oskar gar nicht übel. Nachts krabble ich zu ihm ins Bett und genieße das Vibrieren seines Brustkorbs beim Schnarchen. Ich knabbere ein wenig an ihm herum, so gern mag ich ihn. Er gibt mir so viel. Manchmal streckt er seine nackten Beine unter der Bettdecke hervor - da stürze ich mich in das Vergnügen, über den Wald aus schwarzen Haaren zu staken, bis mir die Puste ausgeht. Zum Ausruhen schwinge ich mich ans Fenster und betrachte die glitzernden Linien durch die riesige Stadt. Sieht aus, als wäre eines meiner Netze beleuchtet. Herrlich!

Neulich hat er ein Weibchen mitgebracht. Das Weibchen ist geblieben. Gut, dann eben jetzt eine Ménage-à-trois. Prüde bin ich wahrhaftig nicht.

Das Weibchen… – ey, was tut die da? Hallo? Wahrhaftig, die putzt, die….

Das Winterkarussell

Ich bin süchtig. Ja, ich stehe dazu! Ich brauche sie… die Nüsse. Nüsse und Samen sind unfassbar fein. Der Herbst ist die beste Jahreszeit! Aber sobald das Laub fällt und meine Bäume kahl werden, werden die Leckereien auch weniger. Dann wird es immer ungemütlicher, nass und kalt. Die Kälte macht mir nicht so viel aus, denn mein rotes Fell ist dicht und wenn ich mich in meinem Kobel zusammenrolle und meinen buschigen Schwanz um mich lege, kann es kaum gemütlicher sein.
Bis der Hunger wieder zuschlägt. Aber ich weiß ja, wo ich meine Nüsse finden kann. Die Menschen haben meine Bäume mit ihren Häusern eingekreist. Man kann dort ganz gut klettern, aber meistens ist dort nichts zu holen und ich meide die Dinger. Aber nicht im Winter. Da stellen sie winzige Häuschen auf ihre Balkone und streuen Nüsse und Samen hinein. Das ist wirklich perfekt! Es wird Zeit, mal wieder dorthin zu gehen.
Einen großen Teil der Strecke schaffe ich springend von Baum zu Baum. Dann wird es ungemütlich, denn es gibt keine Bäume mehr und ich hasse den Boden. Aber ich bin schnell und flink. Der Boden dort ist hart wie Stein. Dort leben riesige Stinkedinger, die mich regelmäßig angreifen. Sie sind zwar schnell, aber dumm wie Baumrinde, denn sie können mir einfach nicht folgen und rasen einfach geradeaus weiter. Wenn ich also gut aufpasse, schaffe ich es zu einer Hecke und … da sehe ich es!
Das Ding baumelt an einem dünnen, glatten Ast, der einfach aus dem Boden ragt und ziemlich nah an der Hecke steht. Ich kann sie schon riechen, die herrlichen Nüsse, die darin gestapelt sind. Mein Magen knurrt. Wie komme ich jetzt da dran?

Der komische Ast ist zu glatt, an dem komme ich nicht hoch. Er hat keine Rinde und glänzt ähnlich wie die Stinkedinger. Hmm… ich brauche eine Strategie. Noch während ich überlege, entdecke ich eine Spatzentruppe in der Hecke. Sie sind laut und aufgeregt. Ich bin sicher, ihr Gezeter gilt mir und ich befürchte stark, dass sie auch die Nüsse… oh nein! Sie fliegen hin! Geht da weg! Verschwindet! Geht mir nicht auf die Nüsse! Die gehören mir!
Mit steil aufgerichtetem Schwanz springe ich todesmutig auf den Rasen und drehe hüpfende Kreise um den komischen Ast. Damit schrecke ich den Trupp auf und sie flüchten in die Hecke. Aber nun ist es zu spät, ich bin in Wallung und werde zum Ninja-Hörnchen. Wild springe ich in die Hecke und von dort direkt in Richtung des komischen Nussdings.

Hui, gerade noch mit den Krallen erreiche ich es und kann mich am unteren Rand festhalten. Ich bin so gut! Es schaukelt und schwingt und nun beginnt es sich zu drehen. Nüsse fliegen mir um die Ohren und es dreht sich immer schneller zusammen mit mir. Ich kann nicht loslassen, sonst werde ich zum Eichvogel und das ist nicht meine Bestimmung. Ich versuche, mit dem Maul fliegende Nüsse zu erwischen, und kralle mich verzweifelt fest. Jetzt wird mir auch noch schwindlig. Ich spreize meinen buschigen Schwanz, mit dem ich sonst jede Richtung meiner Sprünge genau dosieren kann. Endlich dreht es sich langsamer, aber ich merke auch, dass ich von der Unterkante abrutsche.
Verzweifelt greife ich noch nach oben, erwische eine pfotvoll Nüsse und falle. Auf meine Nüsse. Hat gar nicht weh getan. Schnell stopfe ich mir am Boden liegende Beute in die Backen und mache, dass ich wegkomme. Ich glaube, ich bleibe dann doch lieber in meinen Bäumen. Vielleicht.

Unerschütterliche Liebe

Ich will doch nur zu meinen Babys!
Ich belle, und ich kratze ein wenig an der Tür, die sich gerade vor mir verschlossen hat. „Herrchen, Du hast meine Babys mitgenommen und mich vor dem Haus mit meiner Leine festgebunden. Bestimmt, weil ich Dich vor dem Gewitter beschützen soll?“
Es blitzt und gießt in Strömen. Mein graues Fell trieft und Wasser rinnt mir in die Augen. Ich will so gerne auf dich aufpassen. Aber ich möchte auch meine Kleinen wärmen. Sie haben sicher schon Hunger.

Als du die Türe öffnest, versuche ich vor Freude an dir hochzuspringen. Gleichzeitig entfährt mir ein Winseln. Denn manchmal bist du böse auf mich, und dann tust du mir weh. Als du jetzt die Hand hebst, ducke ich mich. Du bist mein Herrchen, dir gehört all meine Liebe. Ich will alles richtig machen. Ich versuche, deine Hand zu lecken, bevor deine geballte Faust meinen Körper trifft. Ich jaule laut auf und lasse vor Schmerz mein eigenes Wasser laufen. Auf deinen Schuh. Du schreist auf und versuchst mich zu treten. Warum tust du das? Ich möchte dich doch beschützen, und ich möchte so gerne zu meinen Babys.

Im Donnergrollen kommt uns auf der anderen Straßenseite ein Mann mit Regenschirm entgegen. Als er uns beide sieht, wechselt er die Seiten und geht direkt auf dich zu. Ich verstehe nicht, worüber ihr beide sprecht, aber der zweite Mann erhebt die Stimme. Ich fletsche ein wenig die Zähne, ich beschütze dich. Doch du drehst dich um und gehst ins Haus zurück. Du lässt mich allein, ich belle dir nach. „Herrchen, meine Babys!“

Der zweite Mann bindet mich los, hebt die Hand. Ich ducke mich, erwarte den Schlag. Aber er streicht mir vorsichtig über den durchnässten Kopf und spricht leise mit mir. Er nimmt meine Leine und versucht, mich zum Fortgehen zu bewegen. Aber ich bleibe auf dem regennassen Asphalt sitzen. Mein Herrchen kommt sicher gleich zurück.

Der Mann wartet geduldig, er ist inzwischen genauso nass wie ich. Er streicht mir immer wieder liebevoll über den schmerzenden Rücken. Schließlich stehe ich auf und gehe mit ihm. Mein Herrchen wird mich bestimmt bald abholen. Dann kann ich endlich auch meine Babys wärmen. Sie haben sicher schon Hunger.

Sabine die Biene

Ich war dagegen gewesen. Ein Umzug in die Stadt. Was für eine Schnapsidee. Der Straßenlärm, Unmengen an Asphalt, Feinstaub und Menschen.

Menschen, die einen Grund haben sich vor uns zu fürchten, aber auch Angsthasen, die schreiend davon laufen bei einer Begegnung mit uns. Hallo, wir sind es. Wir bringen nicht nur den Honig auf das Brot, sondern halten den Naturkreislauf am laufen. Ohne uns seid ihr irgendwann echt aufgeschmissen. Wir könnten ohne euch leben, aber ihr?

Und nicht zu vergessen - die Schottergärten. Leute, S c h o t t e r g ä r t e n. Wer hat das erfunden? Menschen mit viel Schotter und wenig Zeit? Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ein Albtraum. Steine, Plastikblumen und Gartenzwerge.
Tote Bienen auf kochend heißem Granit. Der Gedanke daran, ließ meine Flügel erstarren. Ich konnte die Gluthitze direkt auf meinem Körper spüren. Auch das schmerzhafte Gefühl, wie die Sonne meine transparenten Flügel durchlöchert und ich nicht mehr davon fliegen kann.

Das alles dachte ich, aber ich muss mich korrigieren. Jetzt, da unser ganzer Bienenstock auf ein Parkhausdach umgezogen ist. Ich hatte Vorurteile. Ein Teil von euch ist aufgewacht. Jeden Tag kommen gestresste Menschen und pflegen ihre Dachterrasse, wie sie es nennen. Es herrscht ein natürliches Klima. In jeder Hinsicht. Überall gibt es Kisten mit Leckereien. Alle Pflanzen sind bienenfreundlich und echt Bio. Sogar an flache Wasserstellen mit Landebahn habt ihr gedacht.

Jetzt müsst ihr euch beeilen. Es gibt für euch Menschen noch viel zu tun.

Summer in the City

Libby, Libby, Libby, was hast du dir nur dabei gedacht, dich an den Seerosen-Teich in diesem Stadt-Park zu verirren? In diese kleine Oase inmitten des Großstadt-Lärms?
Du kleines, flirrendes, schillerndes, aufregend funkelndes Etwas? Wie oft habe ich dich aus meinem sicheren Versteck auf der Bank beobachtet und dich heimlich bewundert? Und je mehr ich für dich schwärmte, desto unerreichbarer schienst du zu werden. So pfeilschnell dein Flug, so zielsicher deine Landungen auf zarten Blättern, so gekonnt bewegst du dich in der Sonne, dass mir der Atem stockt.

Ich bin viel kleiner als du und so unscheinbar matt sind meine Flügel-Farben. Auch ich kann meine Flügel unabhängig voneinander bewegen, aber rückwärts fliegen wie du, das schaffe ich einfach nicht. Neben dir komme ich mir vor wie eine schwerfällige Motte. Eine von denen, die ziellos nachts um die Laterne flattern. Während ich langsam und unbeholfen über das Blumenbeet hinweg taumele, segelst du voller Eleganz und Anmut durch die Halme der Rohrkolben. Wie machst du das nur?

Man ahnt dich kaum, schon fliegst du heran, nur ein leises Surren ist zu hören. Einer Ballett-Tänzerin gleich setzt du deine Beine behutsam bei der Landung auf.
Und so sitzt du hier neben mir auf diesem Stein, den die Sonne so herrlich durchwärmt für uns bereitzuhalten scheint. Ich zittere vor Aufregung, weil wir uns tief in die Facettenaugen schauen. Was entdecke ich da? Feine Sinneshaare an deinen Fühlern vibrieren leicht und mir wird schwindelig vor Aufregung.
Meinst du mich? Du meinst tatsächlich mich!
Sagst, deine Flügel schimmern für uns beide, meinst, meine Bescheidenheit rühre dich sehr. Kein Geprahle und keine Aufspielerei, das sei ich. Und du magst mich so, wie ich bin.
All meinen Mut nehme ich zusammen und rücke näher zu dir.
»Libby« flüstere ich. »Belly« hauchst du.
Weit breiten wir unsere Flügel aus und warm spüren wir die Sonne unsere Körper durchfluten. Lass es Liebe sein.

Lang lebe die Königin

Bis heute war ich die unangefochtene Königin. Stolz saß ich auf meinem weichen Kissen und überblickte den Raum, ließ mich bedienen und mir mein rotes Haar kämmen.

Doch jetzt ist sie da, noch jung, süß und unschuldig. Meine mir dienenden Menschen huldigen ihr und vernachlässigen mich.

Gerade wird das Essen serviert. Ich erhebe mich, um die Speisen zu begutachten. Die Neue wird herbeigetragen, damit sie ebenfalls ihre Mahlzeit zu sich nehmen kann und steuert direkt auf meine Schale zu.
Was erdreistet sie sich? Empört springe ich auf sie zu und fauche.
Gedemütigt zieht sie sich in eine angemessene Entfernung zurück, zu ihrem Napf.

Nach der Mahlzeit pflege ich üblicherweise einen kleinen Spaziergang über die umliegenden Ländereien zu tätigen. Daher schlendere ich elegant zur Gartentür, um mir diese öffnen zu lassen. Aus dem Augenwinkel sehe ich jedoch, wie die Neue zu meinem Kissen geht und eine Pfote darauf setzt.

So nicht, meine Liebe!
Ich richte mich zu voller Größe auf und stolziere auf die Neue zu. Alle meine Haare sind gesträubt, die Ohren nach hinten gedreht und die Schnurrhaare gefächert.

Diese Sprache verstehen sogar die Menschen. Einer greift nach der Neuen und nimmt sie von meinem Kissen. „Da kannst du nicht liegen. Das ist Vickys Platz.“, sagt der Mensch liebevoll, aber mit der richtigen Botschaft.

Hocherhobenen Hauptes lasse ich mich auf meinem Kissen nieder.
„Du bist wohl eifersüchtig, Vicky?“, fragt mich der Mensch. „Ich glaube, ich muss mich wieder mehr um dich kümmern.“
Er holt die Bürste und kämmt mein Fell. Zum Zeichen meines Wohlgefallens, beginne ich zu schnurren. Die Neue nähert sich vorsichtig und beginnt an meiner Pfote zu lecken.

Geht doch! So kann das von mir aus bleiben.

Glitzerkram und golden Brot!

„Glitzerkram und golden Brot! Das hilft Kranaatz in der Not!“, schreie ich auf einen schiefen Ast, irgendwo im Berliner Norden. Der Blättermantel des Ahornbaumes verbirgt mich, während ich aus listigen Augen den Gehsteig der alten Kopfsteinpflasterstraße beobachte.
„Glitzerkram! Kraanaatz“, krächze ich heiser und humpele ein wenig auf dem Ast hin und her. Der Schmerz im linken Fuß. Ich sah ihn als Quelle für mehr Entschlossenheit.
Dort!
Dort hinten!
Kein Glitzerkram, aber eine goldene Bäckertüte. Meine Augen waren die Besten, seit Anbeginn der Schöpfung. Jeder wusste das. Und ich kannte das kleine Geschäft, den Bäcker an der Florastraße, genau.
Dort holten die Menschen ihre Köstlichkeiten ab. Je älter der Mensch, desto köstlicher die Innereien der Bäckertüte.
„Kranaatz“, stachelte ich mich an. Mein linkes Bein war seit Jahren gebrochen. Mein Gefieder zerzaust, doch meine Augen und mein rechter Krallenfuß, waren die besten in diesem Viertel. Niemand würde mir diese Bäckertüte streitig machen.
Alte Menschen und kleine Kükenmenschen waren die beste Beute.
Hier war mein Ziel ein junger Mann. War dieser ein gutes Opfer? Sollte ich es wagen? Ich spüre die Antwort als einen gewissen Druck in meinem Bauch.
Also, Attacke!
Der junge Mann machte seinen ersten Fehler. Die goldene Bäckertüte nicht im Rucksack vor mir verstecken, sondern lose in der Hand zu halten.
Lautlos segelte ich ihm entgegen. Ich liebte es, wenn meine Beute mich einmal taxierte und mich sofort wieder vergaß. Menschen waren extrem vergesslich.
Manchmal vergaßen sie ihre kleine Kükenmenschen in Nestern mit Rädern.
Erstaunlich.
Der Mann hatte mich erspäht und war wie geplant, einfach weiter gelaufen.
Ob Menschen zu höheren Denkleistungen fähig waren? Sie schienen mir sehr abhängig von seltsamer Technologie zu sein, um richtig zu funktionieren. Meinen Brüdern zur Folge waren Menschen von den Blechwesen abhängig, die überall faul herumstanden und darauf warteten, dass ein Mensch endlich in sie einstieg und für sie arbeitete.
Aber egal.
„Kranaatz-Kranaatz“, warnte ich den arglosen Menschen, als dieser mir inzwischen den Rücken zugewandt hatte. Fairness musste sein.
Und dann ließ ich mich vom Ast fallen.
Elegant wie ein junger Gott auf Federn glitt ich heran. Meine übernatürlich kräftige Kralle weit ausgestreckt.
War es der sechte Sinn?
Der Mensch drehte sich erschrocken um, als ob er mich hörte. Hörte! Menschen hörten doch nie was?!
„Was zum …?!“, fluchte der junge Mann, als meine Kralle ihm die Bäckertüte entriss.
„Kranaatz-Kranaatz!“, fauche ich siegessicher und flüchtete mit meiner Beute voller Köstlichkeiten.
Abgeschieden im halbhohen Gras, und von den Blicken gieriger Brüder und Schwestern geschützt, genoss ich das warme Gold des Teiges. Mhhhmmm. Zimt und Honig. Ich glaubte einen Moment, die Menschen zu verstehen. Wer sich jeden Tag mit Köstlichkeiten umgeben kann, darf auch etwas denkfaul sein.

Schöne Aussicht

Aufmerksam sitze ich in der Ecke und warte. Von oben hat man den besten Überblick.
Ich strecke meine Beine und prüfe die Fäden; ich bin hungrig, der letzte Lunch ist schon wieder ein paar Tage her. Fehlanzeige. Unentschlossen überlege ich, ob es sich lohnt, ein zweites Netz zu konstruieren, als ich den Windstoß bemerke. Er kommt von links, dicht gefolgt von einem lauten Rumsen, das mir die Tasthaare zu Berge stehen lässt.
Das Menschenkind rennt durch den Flur, wirft Schuhe, Jacke und Tasche an die Garderobe und verschwindet ins Zimmer am Ende des Gangs. Wie jeden Mittag.
Seit einer Weile sitze ich nun schon hier.
Oben an der weißen Wand in der Ecke über dem Schrank, in den die Schuhe eigentlich hinein gehören. Jedenfalls stellt die Menschenfrau, die sich die Menschenhöhle mit dem Kind und einem Menschenmann teilt, sie immer wieder sorgfältig dort hinein und schimpft dann.
Sie schimpft ziemlich oft.
Nachdenklich widme ich mich meinen eigenen Problemen; ich schaue mit den linken Augen nach links und mit den rechten Augen nach rechts. Futterbeschaffung. Standortlokalisierung. In Letztem bin ich wirklich nicht besonders gut.
Links ist es düster. Von dort irgendwo bin ich rein gekommen. Ich schaudere.
Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich vor ein paar Wochen vor dem Platzregen geflüchtet war, nachdem er mir mein Netz unter den acht Füßen weggerissen hatte: unter der Hecke her, über die Straße ins Trockene. Im perfekten Slalom war ich erst den dicken Tropfen ausgewichen, und dann den Autos.
Niemals werde ich die Autos vergessen! Diese Ungetüme, dröhnend und stinkend. Beinahe hatten sie mich überrollt.
Und keines hatte angehalten. Nicht ein Einziges.
Weiter und weiter war ich gerannt, links, rechts, und schließlich den hohen Altbauten entgegen, die bald vor mir Tür an Tür eine gigantische Mauer bildeten, bis ich endlich im Trockenen auf einem ungewöhnlich festen Boden gestanden hatte; hart und etwas glatt.
Ich weiß noch, wie ich erst froh war, wie ein Entdecker, der neues Terrain erschloss; und dann nah der Ohnmacht, als der Eingang hinter mir zufiel. Instinktiv war ich im Treppenhaus hoch gekrabbelt, unter einer der vielen Türen her, rauf in die schönste Ecke, die ich finden konnte, aber den Weg nach draußen hatte ich nicht wiederentdeckt.
Und so lauere ich seitdem, statt auf meiner allerliebsten Hecke mit dem grandiosen Ausblick auf den Stadtpark, an der weißen Wand in der Ecke über dem Schuhschrank.
Immerhin ist es warm und trocken.
Nochmal prüfe ich die Fäden. Kein Futter. Das Buffet ist wirklich spärlich. Fliegen kommen selten vorbei, zuletzt musste ich mich mit einer zähen Mücke zufriedengeben.
Ich beschließe, nach rechts in den Raum zu krabbeln, den die Menschen Küche nennen. Es duftet herzhaft-würzig und ein bisschen süßlich. Aus der Richtung, aus der die süße Brise an meine Beingrübchen dringt, vernehme ich ein Summen.
Fruchtfliegen, stelle ich erfreut fest.
Rasch marschiere ich an der Wand entlang, in Gedanken schon bei dem Muster meines neuen Netzes, als mich erneut ein Luftzug erfasst. Diesmal näher. Zu nah.
„Widerlich!“, höre ich die Stimme der Menschenfrau kreischen.
Ich nehme eine Bewegung wahr; gerade noch rechtzeitig. Meine Tasthaare melden Alarm und ich hechte unverzüglich zur Seite. Eine zusammengerollte Zeitung verfehlt mich.
Entgeistert starre ich die Menschenfrau an.
Sie starrt zurück. In der rechten Hand hält sie die Zeitungsrolle fest umschlungen. Alles, was ich jemals an Schaudergeschichten über den Menschen gehört habe, rattert sekundenschnell in meinem Hirn auf und ab; sämtliche Erzählungen über beineausreißende und spinnenzerquetschende Ungeheuer. Ich hatte sie für Gerüchte gehalten.
Dabei hätten doch die Autos mir eine Lehre sein müssen!
Die Menschenfrau leckt sich konzentriert über die Lippen. Mist!
Sie holt aus.
Natürlich bin ich schneller. In Windeseile setze ich meine Beine in Bewegung, flüchte, fixiere sie mit dem rechten unteren Auge, während die anderen ein Versteck suchen. Im bewährten Slalom sprinte ich an der Wand entlang, als die Zeitung ein drittes und viertes mal dagegen saust, und bereue es, meine Schuhschrankecke verlassen zu haben.
Die Menschenfrau faucht, „Mistvieh!“
Ich sehe sie mit dem rechten Arm rudern, antäuschen, zuschlagen. Knapp entkomme ich abermals, strauchele und renne schließlich in eine Lücke zwischen zwei Schränken.
Es ist dunkel und staubig und viel zu weit unten. Ich bin wirklich nicht gerne unten.
Angespannt lausche ich. Höre Schritte, die sich entfernen. Dann ein Geräusch, als wenn etwas über den Boden gezogen wird. Ein Klicken. Gerade glaube ich mich in Sicherheit, als ein ohrenbetäubendes Brummen mich aufschreckt. Die Luft vibriert.
Der Staubsauger!
Ich renne, wie ich noch nie gerannt bin.
Als das schwarze Rohr zwischen den Schränken her lugt, bin ich schon nicht mehr dort. Ich gebe die Deckung auf, sprinte über den Boden, quer durch den Raum, der mir auf einmal elendsgroß vorkommt. Die Menschenfrau flucht. Sie schaltet den Staubsauger mit einem beherzten Tritt aus, greift nach der Zeitung und kommt mir hinterher.
Ich renne weiter. Zurück in den Flur, um die Ecke unter einer anderen Tür her in den nächsten Raum. Ein Stück über den Teppich, in dem ich mich fast noch verheddere, und an der Wand hoch. Kinderzimmer, realisiere ich. Krabbele weiter. Hoch! Höher!
„Wo ist sie?“ Schon steckt die Menschenfrau den Kopf ins Zimmer.
„Wer?“
Das Menschenkind sitzt auf dem Boden, umringt von tausenden bunten Steinen, die es sorgfältig zusammensetzt. So also bauen die Menschen ihre Futterfallen. Raffiniert.
„Die Spinne. Sie ist mir entwischt“, antwortet die Frau. Ihre zwei Augen suchen forschend das Zimmer ab und bleiben schließlich genau dort hängen, wo ich erstarrt sitze.
Sie kommt.
Ich setze schon zum nächsten Sprint an, einsichtig, dass Um-mein-Leben-Rennen zur Tagesroutine werden wird, da springt auch das Menschenkind auf: „Warte! Nicht! Wir müssen der Spinne doch helfen, Mama. Ich bringe sie nach draußen auf den Balkon.“
Ich stoppe. Habe ich das richtig gehört? Nach draußen? Ein wohliges Gefühl wärmt mich. Es strömt aus der Stimme des Jungen, umgarnt mich fürsorglich. Ich kann es nicht erklären, aber ich werde ruhig. Ich halte still. Das Rennen hat ein Ende.
„Wenn du meinst“, knirscht die Menschenfrau.
Im nächsten Moment wird etwas Durchsichtiges über mich gestülpt und ich werde tatsächlich nach draußen getragen. Das Menschenkind drückt seine Nase dicht an das Gefäß, dahinter sehe ich hell, dunkel, verspielte Schatten und die Sonne am Himmel. Erwartungsvoll kratze ich mit meinen vorderen Beinen am Glas. Der Junge winkt mir.
Dann endlich lässt er mich frei.
Ich purzele in einen kleinen Balkonkübel mit feuchter Erde und Kräutern im dritten Stock des Altbaus, in den ich mich verirrt hatte. Das vertraute Geräusch von fernen Automotoren erreicht mich, vermischt sich mit der kühlen Brise der Herbstluft, Vogelgesang, dem zarten Duft von Petersilie und Rosmarin und dem Smog der Großstadt.
Zufrieden spinne ich mein Netz.
Die Aussicht ist herrlich. Ich kann von hier aus den Stadtpark sehen.

Sei Möwe - scheiß drauf

„Moin Hannes.“
„Moin Carlo.“
„Segg mal Carlo, hast du auch die ollen Touries da bei den Landungsbrücken gesehen?“
„Jo Hannes. Hatten lecker Fischbrötchen. Nur eins, datt war nich so good. Schmeckte nach Schiet.“
„Sei Möwe - scheiß drauf, Carlo.“
„Ich bin doch eine Möwe, Hannes.“
„Ich hatte eins, da waren zuviel Zwiebeln drauf. Jetzt muss ich dauernt ´nen Wind fahren lassen, Carlo“
„Sei Möwe - scheiß drauf, Hannes.“
„Ich bin doch auch eine Möwe, Carlo.“
„Komm, schnappen wir uns die, die uns diese Brötchen angeboten hatten.“
„Und dann, Carlo?“
„Lass uns Möwen sein… und drauf scheißen.“

LEBENSRETTER

Das Schicksal ist ein mieser Verräter.
Nicht nur im Film oder in Büchern, sondern auch im wahren Leben.
Davon war ich lange überzeugt…
Hilde,mein Frauchen hat mich durch einen fetten hässlichen Kater ausgetauscht. Garfield nahm meinen Platz ein und ich wurde eiskalt im nächsten Wald ausgesetzt.
Sie hatte mich einfach so nach 10 gemeinsamen Jahren entsorgt…als wäre ich Müll.
Wie konnte ein Mensch nur so herzlos sein?
Natürlich bin ich zurück in die Stadt gelaufen, denn nur dort konnte ich irgendwie überleben.
Und genau das wollte ich. Leben!
Einsam,mit gebrochenen Herzen und von den Menschen zutiefst enttäuscht, streunerte ich durch die Gassen.
Bis zu dem Tag, an dem sich alles ändern sollte.
Es war an einem Mittwoch.
Bevor die Müllabfuhr mir mein Futter nehmen konnte,musste ich mir noch schnell den Bauch vollschlagen. Keine Ahnung, wann es wieder eine Mahlzeit für mich gab.
Hungrig machte ich mich ans Werk und durchwühlte einen stinkenden Müllsack nach dem anderen.
Doch nanu?! Was war denn das?
Hatte sich der eine Müllsack gerade bewegt?
Eilig zerrte ich an dem widerspenstigen Ding.
Was meine treuen Hundeaugen erblickten,raubte mir fast den Atem.
Wie konnten die Menschen nur so unfassbar grausam sein?
Vor mir lag ein winziger,echter Säugling.
Entsorgt als wäre er Müll,genau wie ich.
Kein Ton kam über seine zarten blauen Lippen.
Aber seine kleinen Ärmchen bewegten sich unruhig hin und her.Noch…
Ich musste handeln und zwar schnell.
Ich bellte so laut ich konnte,bis ich fast heiser wurde.
Da endlich kam unsere Retterin um die Ecke gebogen.
Ich sah es sofort.
Sie gehört zu den Guten.
Ein Mensch mit einem großen Herzen und jeder Menge Liebe, bereit diese großzügig zu verschenken.
Mein Instinkt hatte mich nicht getäuscht.
Dank ihr haben wir wieder einen Platz im Leben bekommen.
Den Schönsten und das auch noch Seite an Seite…

Hinter eines Baumes Rinde wohnt KEINE Made mit dem Kinde …

»Jetzt ist aber genug mit der Planscherei. Mein Rücken tut schon weh. Ich schwimme mit euch zurück an Land. Der Wannsee ist auch morgen noch da.«

»Oh Mann, Papa. Und was machen wir jetzt?«, fragt Letho.

»Wir sind hier im Land der Dichter und Denker. Ich möchte euch ein Gedicht vorlesen. Es handelt von uns.«
»Bestimmt werden wir wieder als bösartig, widerlich und nutzlos beschrieben«, wendet Cerus ein.

»Nein, darum lese ich es euch ja vor. Der Poet, dem es nachempfunden ist, würde sich selbst schelmenhaft eher als ‚Pöt‘ bezeichnen, ihn kennt in Deutschland fast jeder. Hört einfach zu.«

Ihr kennt viel Gereimtes von mir,
über dies und das Getier.
Eins hab‘ ich noch nicht geteilt,
das Tier hat in den Tropen geweilt.

»Meint der uns?«, quatscht Garrulus dazwischen.
»Nun wartet doch mal ab, Ruhe!«

Nun hat gesorgt das warme Klima,
dass es sich fühlt im Norden prima.
Das Klima wandelt, von Menschen getrieben,
drum ist das Tier nicht zu Hause geblieben.

»Voll langweilig. Klingt wie Erdkunde.«
»Ruhe, hört zu, jetzt kommen wir vor!«

Der Vater muss sich tief bücken,
die Kinder kleben auf dem Rücken.
Die Mutter getan als sei sie taub,
hat sich gemacht schnell aus dem Staub.

»Was ist taub, Papa?«
»Links rein, rechts raus und ich dann alleinerziehend.«

Macht beim Schwimmen Liegestütz,
man fragt sich, wem dies nur nützt.
Den Kleinen beim Atmen auf seinem Rücken,
quietschen beim Baden vor Entzücken.

»Ja, der kennt uns wirklich. Können wir jetzt wieder schwimmen gehen?«
»Nein, hört zu, es geht weiter.«

Auch fliegen kann er in die Lüfte,
versprüht dabei nicht seine Düfte.
Speichel injiziert er beim Jagen, wie Menschen beim Küssen,
die Beute betäubt und aufgelöst, was Menschen nicht müssen.

»Seht ihr, hab‘ doch recht gehabt. Immer nur negativ über uns!«
»Nun wartet doch ab wie es weitergeht.«

Hab‘ schon erwähnt, welch‘ Tier ich hier bestaun‘?
Ein Tier mit einem Panzer braun.
Zehn Zentimeter kann es werden groß,
möcht‘ es wer haben auf dem Schoß?

»Ich bin schon drei Zentimeter und du erst zweeeei«, sagt Querentis.
»Streitet euch nicht, Ruhe jetzt!«

Vom Lauerjäger sprech‘ ich, er frisst Molch, Frosch und Fisch,
dem Lethocerus patruelis, jetzt pack‘ ich’s auf den Tisch.
Hat Arme stark wie Popeye in seinen besten Tagen,
saugt aus die Opfer nach dem Jagen.

»Der weiß aber nicht, dass Opa auch eine Schlange getötet hat!«
»Zum letzten Mal, Ruhe, es kommt noch was!«

Wer meint, ist schrecklich, dieses Tier,
dem widerspreche ich entschieden hier.
Wer meint, es ist kein guter Geselle,
Dem rück‘ ich kräftig auf die Pelle.

»Okay, der versteht uns wohl. Ich bin jetzt still«, sagt Cogitoergosumus

Er ist wichtig für den Erhalt des Ökosystems, für unsere Umwelt,
er jagt nicht zum Vergnügen, auch wenn er nicht bellt.
Dies wollt‘ ich nur sagen, jetzt geh‘ ich aufs Ganze
und teile mein Loblied auf die Riesenwanze.

»Papa, darf ich jetzt wieder was sagen?«, fragt Cogitoergosumus nach einer Weile mit leiser Stimme.
»Ja, was hast du denn?«
»Wenn ich groß bin, möchte ich ein Fell haben, nur aus Spaß jagen und bellen wie die vielen Hunde.«
»Nein, das geht nicht. Riesenwanzen haben einen Panzer, jagen aus gutem Grund und bellen nicht. Warum möchtest du das denn?«
»Ach, nur so, ich denke ja nur.«

Graue Eminenz

Heute bin ich wieder bei Ernst. Wir kennen uns schon lange, mindestens ein halbes Jahrhundert. Er ist etwas älter als ich, genauso grau, nur hat er keine so schönen roten Schwanzfedern. Ernst ist ein Mensch, ich bin ein Erithacus. Aber das Wort kennt scheinbar niemand außer ihm.

Wir verstehen uns gut, und sprechen gerne miteinander. Ernst verkauft viele Tiere, und ich bin sein Bestseller, sagt er. Ja, durch ihn komme ich rum in dieser Stadt. Neulich war ich in einem Hochhaus bei einer älteren Dame. Sie hat sich immer gefreut, wenn das Telefon klingelte. Das kann ich perfekt. Nach drei Wochen gefiel ihr das nicht mehr. Ebenso war ich in der Innenstadt. Die Frau hatte viele Vitrinen voller Glasobjekte. Liebevoll und vorsichtig staubte sie jeden Tag ihre Sammlung mit einem Wedel aus Federn ab. Nur das Geräusch eines zerspringenden Glases auf dem Fliesenboden hat sie trotz ihrer Liebe zu diesem Material nicht ausgehalten. Einmal war ich in einer Familie mit einem großen Garten: Der fünfzehnjährige Junge kannte viele neue Worte, z.B. „Hure“ und „Fick dich“. Die Mutter brachte mich nach 22 Tagen wieder zu Ernst. Bei einem Lehrer-Ehepaar im Norden war ich ebenfalls schon: wenn Besuch kam, sagte ich „Scheiß Schule“ oder lallte „Wo ist der Schnaps mein Schatz?“. Diesen langen Satz hatte ich von einem jungen Mann gelernt, vor vier Jahren etwa. Der trank gerne aus einer Flasche. Und er rauchte Marihuana, dieses stinkende Zeug. Schrecklich! Da half ich mir selbst, mit einem schönen Ton: Polizeisirenen.

Ja, ich bin lernfähig, habe über tausend Worte, Sätze und Geräusche zur Auswahl. Daraus suche ich etwas Passendes für den Menschen, bei dem ich gerade wohne. Und spätestens nach drei Monaten komme ich zurück zu Ernst. Das ist gut, denn er ist mein Lieblingsmensch. Er nennt mich jetzt graue Eminenz. Über hundert Verkäufe hat er allein mit mir geschafft – darauf kann ein Papagei doch stolz sein, oder?

Trotzdem plant Ernst, die Zoohandlung zu verlassen. Das hat er heute Vormittag einer Frau erzählt: Er ist schon über 70 und hat einen Krebs. Ich verstehe nicht, warum er deswegen alle anderen Tiere abgeben will. Außerdem kann ein Krebs nicht sprechen lernen. Was soll jetzt bloß aus mir werden? Ich gehe jedenfalls nicht zurück nach Afrika! Zum einen versteht mich da ja niemand, und so weit fliegen darf ich in meinem Alter auch nicht. Ich muss mir etwas überlegen, und zwar schnell …