Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Morgenstimmung

Golden leuchten die Äpfel an den sich biegenden Ästen; trotz des späten Oktobers sind die Blätter grün. Sie schimmern an diesem Morgen, dem letzten des Monats. Greifbar ist die Feuchte, zu erwarten baldige Kälte. Und dennoch ist die Luft mild und voller schwebender Wassertröpfchen.

Das ist eine Zeit, die dämmrig wirkt, mich aber froh stimmt. Diffuses Licht beleuchtet manche Ecken besser, wenn die Schatten fehlen. Es bringt Glanz in die Tiefen, weil alles Weiß da ist, während das Dunkle, Schwarze fehlt. Ein Moment ohne das Extrem, das Äußerste ist ein Grau-Braun. Das finstere Nichts vermisst keiner. Das passt zum Herbst. Ein Mittler zwischen sommerlicher Schönheit und winterlicher Kahlheit, der einen Seite eher zugeneigt, als der anderen, kalten.

Die Vogelrufe sind klar, selbst wenn man das Gefieder der Sänger in den Zweigen nicht sieht. Manchmal senkt sich ein Schatten ins Geäst, ein leises Rascheln ist zu hören und dann geht es hinter den dicken Ästen oder oben im Gipfel weiter. Allenfalls zögerlich, gedämpft, aber voller Hoffnung auf diesen neuen Tag. Wie sollte einem nicht wohl werden in diesem nuancenreichen Oktobernebel, dem der November reichlich egal ist?

Let me take you by the hand…

Von der Bundesstraße aus war nur buntes Herbstlaub zu sehen. Eine schmale Treppe führte den Hang hinauf, auf der linken Seite begrenzt von einem flachen Backsteingebäude, das zu einem leer stehenden Anwesen gehörte. Rrechts lag ein verwilderter Garten, den die Reste eines verfallenden Drahtzaunes von den bewaldeten Nachbargrundstücken trennte. Ein älterer Mann hantierte mit einer Motorsäge. Seine wettergegerbte Glatze blinkte in der Sonne, der kranzförmige Rest seiner Haare und der Bart um Oberlippe und Kinn waren weiß. In seiner Bluejeans klafften Löcher, das rote T-Shirt hatte bessere Tage gesehen.
Ungefähr ein Meter lange Baum- und Aststücke lagen auf einem Haufen, dünne Äste, Blätter und Nadeln auf einem Anderen.
Auf einem Treppenabsatz stand ein Fahrrad, mit einem roten Rucksack auf den Gepäckträger geklemmt. Neben dem Fahrrad lagen ein halb voller Benzinkanister, eine Literflasche Kettenhaftöl und ein Schraubenschlüssel.
Der Mann war auf die verwaiste Säule eines ehemaligen Gartenzaunes geklettert. Er versuchte einen Baum, der neben der Säule, gerade noch innerhalb des Gartens stand, die Motorsäge über seinen Kopf haltend, in etwa vier Metern Höhe abzusägen. Der Grund war offensichtlich. Der Baum, würde auf die Bundesstraße stürzen, würde er wie üblich kurz über dem Boden abgesägt. Der Gipfel aber war kurz und dünn genug, dass man ihn nach innen auf das Grundstück ziehen konnte. Als das abgesägte Stück fiel, verhakte es sich mit dem flachen Backsteingebäude und blieb zwischen Baum und Dach hängen.

Der Mann stieg von der Säule, die Eisen an dem früher die Balken des Gartenzaunes angeschraubt waren als Tritt benutzend. Er stellte die Motorsäge ab und besah sich das Malheur. Dann kletterte er über ein vergittertes Fenster auf das Gebäude und lief das Flachdach entlang auf den verhakten Baumwipfel zu. Das Dach war marode und hatte sich an manchen Stellen schon bedenklich gesenkt. Von der Höhe konnte man in einen Innenhof blicken, der auch an den anderen Seiten von Gebäuden begrenzt wurde. Überall lag Müll, die Gebäude machten einen sehr verwahrlosten Eindruck. Er packte den Gipfel mit beiden Händen und zog ihn das Gebäude entlang nach hinten, so dass er in den Garten fiel, wo er hingehörte.

Gerade wollte der Mann umkehren, als er über sich ein Klopfen hörte. Er blickte nach oben und konnte für einen Augenblick hinter dem Fenster im Dachgiebel des Nachbarhauses ein Gesicht sehen, mit weit aufgerissenen Augen, das mit sich bewegendem Mund lautlos etwas zu rufen schien, das nur „HILFE“ sein konnte. Sekunden später verschwand das Gesicht von der Fensterscheibe.

Der Mann ließ den Blick vom Fenster über den Innenhof schweifen und wieder zurück. Er kletterte über Trümmer und Abfall in den Innenhof und betrat durch eine offene Türe das Haus. Es war dunkel. Mit Hilfe des Handylichtes tastete er sich durch Gerümpel und Müll zur Kellertreppe und begann vorsichtig nach oben zu steigen. Mäuse nahmen überrascht Reißaus. Die Kellertreppe führte in den Flur vor der Haustüre, die verschlossen war. Die Türen der Zimmer standen offen und zeigten unglaubliche Verwahrlosung. Er fand die Treppe nach oben und arbeitete sich über Kisten und Abfall hinweg hinauf ins Obergeschoß. Überall dasselbe Bild der Verwüstung. Es dauerte eine quälend lange Weile, bis er hinter einer Türe den Aufgang zum Dachboden fand. Eimer standen auf der Treppe, voll mit Regenwasser, das durch die Löcher im Dach eingedrungen war. Am Ende des Spitzbodens angekommen, stand er vor einer Tür. Dahinter musste das Zimmer liegen, in dem er das Gesicht am Fenster gesehen hatte. Die Türe ließ sich problemlos öffnen. An der Innenseite war die Klinke abgebrochen. Ein gezackter Alustummel ragte aus dem Schloss. Sein Blick fiel auf ein altes Eisenbett. Die Matratze hatte Löcher und die speckige Decke hing halb auf den verdreckten Fußboden. In der Ecke stand ein Blechkübel, der halb voll trübem Wasser war. Der Geruch legte nahe, dass er als Toilette gedient hatte. Leere Weinflaschen lagen auf dem Boden und einige leere Tüten des lokalen Bäckers. Ein leises Stöhnen rief den Mann zur Rückseite des Bettes, das ca. einen Meter vom Fenster entfernt stand. Zwischen Bett und Wand lag ein Bündel Lumpen auf dem Boden, aus dem ein Kopf ragte. Das Kopftuch war verrutscht und zeigte weiße Haarsträhnen. Die Augen waren geschlossen. Der Mann nahm die Decke vom Bett und schob sie unter den Kopf der alten Frau. Eine Träne kullerte unter ihren Lidern hervor und spülte eine weiße Spur durch den Dreck auf ihrer Haut. Ein Lächeln huschte über ihren Mund, den Blick auf einen schwarzen Zahnstummel freigebend. Dann war sie wieder eingeschlafen.

Der Mann schaltete die Handylampe aus und tippte die 112 in die Tastatur.

KALLE BLOMQUIST

Ein Hüne mit stierem Blick aus dunklen Augen, die unter buschigen Brauen in tiefen Höhlen sitzen, und bartstoppelübersätem Gesicht betritt die Nordsee-Filiale in Braun­schweig. Der im schummrigen Licht feucht glänzende Schädel ist kahlrasiert. Breite Schultern und kräftige Hände, groß wie Schaufeln, die bei jedem Schritt unkontrolliert am Körper pendeln, mit plumpen, kurzen Fingern. Seinen massigen Leib umhüllt eine dicke Jacke, die ihre beste Zeit lange hinter sich hat. Das gestreifte Hemd hängt an einer Seite aus der derben, abgewetzten, Leinenhose. Er blickt mit ruckartigen Kopfbewegungen suchend über die Köpfe der an den Tischen sitzenden und nach Essen anstehenden Menschen hin­weg. Sein massiger Körper setzt sich einigen Wimpernschlägen in Bewegung und drückt sich durch die Menge, seine Arme schieben den Weg frei. Ich mache mich hinter einem Chinagrasbündel klein und ziehe meinen Kopf zwischen die Schultern. Möge der Kelch bitte an mir vorbeigehen.

Er hat mich entdeckt.
Zuerst springt mir das angebissene Matjesbrötchen aus der Hand und zerlegt sich in seine Einzelteile: den Rest des Herings, das Salatblatt, die Zwiebelringe und die Semmelhälften mit meinem Beißabdruck. Dann schießt mir der Schmerz aus der Schulter in den Nacken und den Oberkörper. Kurz darauf platzt mir beinahe das Trommelfell bei dem Gebrüll in mein noch mittäglich dösendes Ohr.

Kalle Blomkvist, er heißt wirklich so, mein rustikaler Kumpel aus der Grundschule und dem nachfolgenden, gescheiterten Leben überfällt mich bei meinem mittäglichen Frühstück und beginnt, mir den Tag zu versauen. Er quetscht seine massige, nach beißendem Schweiß, schalem Bier und kalter Kotze stinkende Körperfülle an den Tisch und fragt mich neugierig aus nach dem »Wie geht’s«, dem »Woher« und dem »Wohin«. Grinsend verschränkt er seine schmutzstarrenden, tätowierten Arme vor der Brust.

Ungewohnt schweigsam hört er sich das Ende des Schlagwortverzeichnisses der letzten zwölf Jahre meines Lebens an. Dann nimmt er die Arme von der Brust und haut sie breit auf den Tisch, zieht seine Beine unter den Sitz, beugt sich vor, sieht mir in die Augen und schenkt mir, bemerkenswert ruhig und bedächtig zwischen Zahnfäule und Knoblauchgeruch ausgehaucht, seinen wohlgemeinten Ratschlag für den Rest meines Leben: »Maannn«, er dehnt es gefühlte Ewigkeiten, »du muss’ selba wissn, wat für dir richtich is, ey. Un jetz gehn wa ein’n saufen, wah. Du zahlst, ey!«
Unbeholfen erhebt er sich, reißt dabei den Tisch aus seiner Bodenverankerung und mich, am Kragen packend, aus dem Sitz und schleppt mich grölend zur Tür hinaus. Meine zaghaft eingeworfenen Proteste erreichen nicht einmal sein Ohr, geschweige denn sein Hirn.

Die Frau im roten Wollmantel

Die Frau schlug ihren roten Wollmantel enger um sich, während sie der Marktfrau freundlich zulächelte. Ein eisiger Wind wehte zwischen den Ständen, wirbelte ein paar einsame braune Blätter auf und kroch von unten unter die Mäntel. Die Frau mit den müden Augen klappte den Mantelkragen des Wollmantels höher und strich sich die braunen Locken hinter die Ohren, im Versuch, dem Wind nicht vollends die Kontrolle über ihre Frisur zu überlassen. Verärgert zog der Kunde neben ihr seine Mütze tiefer ins Gesicht und murmelte etwas, das sich nach „Vermaledeites Novemberwetter“ anhörte. Die wohlbeleibte Frau hinter dem Stand kniff ihre Augen ein wenig zusammen und erwiderte etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte. Einen Moment blieb ihr Blick an den ausgefransten Rändern des Mantels hängen, dann konzentrierte sie sich darauf, das gewünschte Gemüse abzuzählen und in eine große Papiertüte gleiten zu lassen. „Darfs sonst noch was sein?“ Sie bemühte sich nicht einmal, freundlich zu sein. Die Frau im roten Wollmantel nahm es ihr nicht übel. Es war kalt geworden und der Markt war beinahe vorüber. Es war bestimmt ein langer, anstrengender Tag für die Marktfrau gewesen und sie mochte sich nicht vorstellen, wie deren Füße nach dem stundenlangen Stehen schmerzten. Sie lächelte scheu und schüttelte den Kopf. „Nein, danke, das wäre alles.“ Sie zückte einen Geldschein, winkte ab, als die Marktfrau ihr das Wechselgeld geben wollte und nahm die Tüte mit dem Gemüse in Empfang.

Ihr Blick ging hoch zu den tiefhängenden, fast bedrohlich blau wirkenden Wolken, während sie die Tüte in ihren ausgebeulten Korb, der bereits an einigen Stellen so abgeschabt war, dass sich Löcher gebildet hatten, legte und sich den grauen, knittrigen Baumwollschal hochzog, sodass ihr Hals geschützter war. Erneut zog sie sich unwillkürlich den abgenutzten roten Wollmantel um sich. Er war offensichtlich mehr als eine Nummer zu groß für die schlanke Figur und sie schien mit ihren schmalen Schultern in ihm zu versinken. Mit einem verlegenen Lächeln drängte sie sich zwischen den immer noch gut besuchten Ständen des Marktes hindurch. Kaum merklich zog sie ihr linkes Bein nach, doch die meisten Leute schenkten ihr ohnehin keinen zweiten Blick. Mit eingezogenem Kopf huschte die Frau durch das Gedränge und atmete auf, als sie endlich an der Straße angekommen war. Ihr Blick fiel auf das gegenüberliegende Geschäft und sie erstarrte einen Moment. Das schüchterne Lächeln, dass sie den wildfremden Leuten geschenkt hatte, war verschwunden. Es war nicht weit, bis zu ihrer Wohnung. Sie musste nur links abbiegen, über die Ampel und eine Seitenstraße weiter. Doch als würde sie etwas festhalten, blieb sie wie angewurzelt stehen. Das warme Braun ihrer Augen hatte sich wie der Himmel verdunkelt. Sie trat einen Schritt vor, zögerte. Ihr Blick war unverwandt auf die großen Fensterscheiben auf der anderen Straßenseite gerichtet. Plötzlich gab es kein Halten mehr. Als hätten ihre Beine einen eigenen Willen, bewegten sich diese mechanisch, bis sie unvermittelt vor dem Fenster stand. Unwillkürlich griff die Frau mit ihrer freien, rechten Hand nach der Knopfleiste ihres Mantels. Einen Moment krallten sich ihre Finger in den groben Stoff, dann strich sie gedankenverloren darüber, sodass er sich wieder ihrem dünnen Körper anschmiegte. Starr hing ihr Blick auf dem, was im Schaufenster dargeboten wurde. Durch das an den Rändern bereits mit zu viel weißer Farbe eingesprühte Glas sah sie Weihnachtsmänner und Engelsfiguren auf dem leicht angestaubten grünen Stoff stehen. Ein paar Holzspielzeuge standen verteilt zwischen den Figuren, vor ihnen ein weißes Schildchen mit wenigen schwarzen Zahlen. Im Hintergrund, schon eher im Laden als im Schaufenster selbst, konnte man neue und ausgebesserte Kleidung sehen, die an einem Ständer drapiert waren. Der Blick der Frau im roten Wollmantel blieb jedoch auf einer altmodischen Wiege hängen, die auf einem kleinen Podest in der Mitte aufgebaut worden war. Mit verzweifeltem Ausdruck in ihrem Augen musterte die Frau das aus Weidenzweigen geflochtene Babybett. Über dem Drahtgestell war ein Himmel aus einer rosafarben und babyblau gemusterten Decke gezogen, von deren Mitte ein kleines Mobile herabhing. Wie automatisch hob sich ihre rechte Hand, als wolle sie nach der Wiege greifen, legten sich ihre Finger an das kalte Glas. Tränen stiegen ihr in die Augen. Minutenlang stand sie regungslos an der Scheibe, bis ein vorwitziger, dicker Tropfen, der vom Hausdach in ihren Nacken fiel, sie darauf aufmerksam machte, dass es begonnen hatte, zu regnen. Einen letzten Blick warf sie auf das Körbchen, vermied es, zu dem kleinen weißen Schild mit den vielen schwarzen Zahlen zu sehen. Sie schniefte leise, als sie sich mit gesenktem Kopf abwandte.

Ihre Füße fanden ihren Weg wie von selbst, als sie den Kragen ihres roten Wollmantels enger um sich zog und versuchte, das pochende Gefühl an ihrem Bauch zu ignorieren. Wenige Minuten später stolperte sie durch ihre Wohnungstür, konnte sich kaum daran erinnern, wie sie die vielen Stockwerke überwunden hatte. Hastig schälte sie sich aus dem roten Wollmantel, stellte ihren Einkaufskorb in der Küche ab und wusch sich die Hände. Stumm rollten die Tränen über ihre Wange, als wollten sie niemals versiegen. Halb blind griff sie nach einer weißen Tube, hob ihren Pullover an und schmierte die lange Narbe im unteren Bauchbereich ein. Der Juckreiz verschwand und hinterließ Leere.

Einige Wohnungen über ihr stellte jemand seine Stereoanlage auf Anschlag und dumpf hallten schnelle Gitarren und ein unruhiger Bass bis zu ihr. Ausgelaugt stand sie in der Tür zu dem einzigen Wohnraum. Müde ließ sie sich auf den Sessel fallen und griff nach dem viereckigen, schwarzweißen Foto, das auf dem als Couchtisch fungierenden Kartons lag. Einen Moment starte sie auf den weißen Fleck in der Mitte des Fotos, dann warf sie dieses mit einem leisen Aufschluchzen auf den provisorischen Tisch. Es rutschte noch einige Zentimeter weiter und blieb vor einem Stapel Papiere liegen. „Unbedingt Zurückrufen“ hatte sie sich auf einem gelben Post-it notiert und diesen auf eine Mappe geklebt. Der kleine Klebezettel verdeckte den Firmennamen, nur der Slogan „Wir versichern Ihren Unfall besser“, war zu lesen. Ihr Blick huschte zu dem Telefon, das neben den Unterlagen lag. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Sitzplatz, ihre Hand zuckte zu dem schnurlosen Gerät, dann fiel ihr ein, dass am Sonntag mit Sicherheit niemand erreichbar war. Beinahe erleichtert zog sie ihre Beine auf den Sessel, zog die Decke, auf die sie sich gesetzt hatte, unter sich hervor und wickelte sich darin ein. Erschöpft ließ sie ihren Kopf gegen die Lehne sinken. Morgen war ein neuer Tag, vielleicht sogar ein besserer.

Über den Schatten

Sie will nicht hier sein.
Vornübergebeugt sitzt sie, die Jacke auf den Knien, so als wollte sie jeden Moment aufspringen und flüchten. Die versteinerte Miene wird nur hin und wieder von einem Augenrollen zu ihrer Sitznachbarin unterbrochen. Während alle anderen versuchen, sich auf die Aufgabe einzulassen, wandert ihr Blick nach draußen. Hauptsache, sie weicht unseren aus. Sie klammert sich an jede Ablenkung vor dem Fenster. Wenn jemand sie etwas fragt, sind ihre Worte abgehackt. Fliegen über ihre Zunge wie Gewehrschüsse. Vielleicht geht die Zeit schneller vorbei, wenn sie jegliche Ansprache rasch hinter sich bringt. Ihre Jacke hängt sie schließlich über ihre Stuhllehne. Vergräbt sich stattdessen mit verschränkten Armen in ihrem senfgelben Cardigan.
Ihre Spannung hängt wie eine Gewitterwolke über der Gruppe. Und doch blitzt immer wieder die Sonne hindurch. Fragen sind von ihrer Seite nicht nur kritisch, sondern auch reflektiert. An wenigen Stellen lässt sie sich sogar zu einem kurzen Lachen herab.
Dann die Worte einer Teilnehmerin: „Ich fühle mich in dieser Gruppe nicht sicher.“
Plötzlich sind ihre blauen Augen wach. Obwohl immer noch nach innen gerichtet, wird die Veränderung nach außen sichtbar. Millimeter um Millimeter werden ihre Züge weicher. Bis sie schließlich aufmerksam in die Runde blickt. Sie atmet tief durch. Und springt über ihren Schatten.

Gedankenverloren schaue ich auf meine Hand, die sich wie versteinert an mein Glas klammert. Ein kühler, feuchter Tropfen Kondenswasser bahnt sich langsam den Weg an meiner Handinnenfläche hinunter. Ein leichtes Kitzeln lässt mich spüren, wie sich der Tropfen seinen Weg über meine Haut bahnt. Ich verfolge den Tropfen so lange, bis er schliesslich von meinem Handgelenk auf die Theke tropft. Da schweift mein Blick zur Theke. Sanft fahre ich mit meiner Hand über das dunkle Holz.

Vielleicht ist es Mahagoni, das ist zumindest das einzige goldbraune, dunkle Holz, welches ich kenne. Ich lasse meine Finger über die vielen Kratzer und Kerben gleiten. Es scheint fast so, als ob jede dieser Kerben eine einzigartige Geschichte zu erzählen hätte. Jede von ihnen ist einzigartig. Andere Form, andere Tiefe. Nur zu gerne würde ich wissen, wie sie alle entstanden sind.

Da spüre ich plötzlich etwas Klebriges unter meinen Fingern. Anscheinend wurde hier schon länger nicht mehr geputzt. Angewidert von diesem klebrigen Gefühl an den Fingern ziehe ich meine Hand zurück und wische sie an meiner schwarzen Hose ab. Da fällt mein Blick wieder auf den Martini, von dem nur noch ein kleiner Schluck übrig ist. Entschlossen, dies zu ändern, trinke ich auch diesen noch. Eigentlich mag ich keine Kneipen, schon gar keine wie diese.

Der modrige Geruch erinnert mich an Erlebnisse aus meiner Kindheit, welche ich lieber aus meinem Gedächtnis verbannen würde. Alles hier wirkt verbraucht. Die Wände sind schon längst nicht mehr weiss, eher ein dreckiges Beige. Sie spiegeln die Gestalten, welche hier so umhertorkeln, perfekt wider. Heruntergekommen, düster und modrig.

Wie aufs Stichwort bewegt sich eine Gestalt vom hinteren, dunklen Teil der Kneipe auf die Theke zu. Je näher diese Gestalt kommt, desto mehr kann ich sie erkennen. Es ist ein junger Mann, wahrscheinlich kaum älter als ich. Seine Haare sind dunkelblond, an den Seiten kürzer, oben länger und leicht zerzaust. Mit einem breiten Lächeln kommt er immer näher. Es strahlt so viel Freude und Wärme aus. Mein Blick bleibt an diesem Lächeln hängen und ich erwische mich dabei wie ich grinsen muss.

Erst jetzt bemerke ich, wie sehr ich ihn auf seinem Weg zur Theke angestarrt habe. Leicht beschämt wende ich meinen Blick ab. Ich kann spüren, wie mein Gesicht kribbelt und warm wird. Wahrscheinlich bin ich gerade rot angelaufen wie eine Tomate. Zum Glück ist es hier drinnen so düster!

Während er wartet, bis ihn der Barkeeper eines Blickes würdigt, beobachte ich ihn ein bisschen weniger auffällig. Das Lächeln auf seinem Gesicht ist zwischenzeitlich verschwunden. Er ist gross, etwa 20 cm grösser als ich und er wirkt sehr trainiert. Das langärmlige, graue Shirt, welches er trägt, ist bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Auf der nackten Haut sieht man kleine Adern hervorstechen. Man sieht durch das enge Shirt jeden Muskel durchschimmern.

Plötzlich wirkt er ohne sein Lächeln in seiner grossen, muskulösen Erscheinung arrogant und kühl, sogar ein wenig aggressiv. Nur wenn ich in seine grünbraunen Augen schaue, sehe ich noch dieses warme, herzliche Lächeln von vorhin. Da widmet ihm der rundliche Mann hinter der Bar endlich seine Aufmerksamkeit.

Die erste Begegnung

Das aus Salzteig gebastelte Türschild verriet, dass hier Stefan, Nicole, Jette und Marvin mit Hund Mops wohnten. Der Eingang des Reihenendhauses war mit merkwürdigen Figuren aus Blumentöpfen gesäumt. Karsten hatte mich gewarnt, aber darauf war ich nicht vorbereitet. Hoffentlich fragt sie mich nicht nach meiner Meinung. „Schön, dass ihr es einrichten konntet,“ strahlte Nicole Karsten an. „Wir möchten doch alle deine neue Freundin kennen lern. Susanne, oder?“ Sie unterzog mich einer Musterung mit hochgezogener Augenbraue. „Danke für die Einladung. Mein Name lautet Kerstin,“ strahlte ich zurück. Nicole war sehr gut gekleidet. Hochwertige Stoffe namhafter Hersteller hatten ihre ausladende Figur gut kaschiert. Die blond gesträhnte Kurzhaarfrisur war am Hinterkopf zu einer Art Blumenkohl toupiert und saß wie einbetoniert. Es wirkte, als käme sie direkt von einem Frisör, der seine Blütezeit in den 90ern gehabt hatte.

„Karsten, du kennst dich ja hier aus. Geh doch schon mal hier lang direkt in den Garten zu den anderen Männern. Wir Frauen haben es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Dort können wir ungestört über Themen quatschen, die die Jungs sowieso nicht interessieren.“ Sie zwinkerte Karsten zu und kicherte. Aha, dachte ich, westfälische Runde. Karsten lächelte mich achselzuckend an und verschwand hinter der akkuraten Buchsbaumhecke, gefolgt von dem kläffenden Hund, der sich tatsächlich als Mops entpuppte.

Ich folgte Nicole durch den weiß gefliesten Flur ins das weiß geflieste Wohnzimmer mit weiß gefliestem integriertem Essbereich. „Wow,“ entfuhr es mir. „Sind diese Fliesen nicht wahnsinnig empfindlich gegen Schmutz?“ „Ach was. Ich wisch hier einfach jeden Tag durch. Geht ganz fix!“ Auf der psychedelisch gemusterten Wohnzimmergarnitur saßen vier Frauen, die alle den gleichen Frisör zu haben schienen. Das Gespräch verstummte. „Hi, ich bin Kerstin, nicht Susanne, Karstens Neue. Ihr könnt ruhig weiterreden. Ich komme zwar aus Niedersachsen aber verstehe und spreche westfälisch sehr gut.“ Man lachte gezwungen. Ein Himmelreich für ein Bier dachte ich, als mir Nicole einen klebrigen Lillet in die Hand drückte.

Im Laufe des nachmittags erfuhr ich, dass Nicole VHS-Kurse im Bastelbereich anbot. Ob das nicht auch was für mich wäre? Außerdem bekleidete sie das Amt der Elternvertretung an der hiesigen Grundschule und war amtierende Schützenkönigin des Dorfes. Ihr Ehemann (die Betonung lag immer auf Ehemann, sobald sie von ihrem Stefan sprach) bekleidete das Amt des Ortsvorstehers und kümmerte sich um die Belange der Einwohner. Auf diese Weise war Nicole bestens vernetzt und kannte pikante Details, die sie unter der Prämisse der Verschwiegenheit (von mir habt ihr’s nicht!) gerne mal in Gespräche einfließen ließ.

Sie wird mir nie verzeihen, dass ich sie später einmal früh morgens auf dem Parkplatz des Lidls ungekämmt im ausgeleierten Jogger und Adiletten angetroffen habe. Nicole hatte am offenen Kofferraum gestanden, die Plastikfolie von einer Packung Frikadellen aufgerissen und herzhaft hineingebissen.

Im Restaurant

Wir hatten es beim Spaziergang durch die Innenstadt entdeckt, das kleine italienische Restaurant. Es lag in einer schmalen Seitengasse und lud uns durch seine Beleuchtung ein. Gerade noch einen Tisch für zwei gab es im hinteren Bereich, was für ein Glück, dachten wir. Der Kellner war freundlich und hatte einen sympathischen Humor. Wir bestellten nach seinen Empfehlungen, er schenkte den Wein ein und wir prosteten uns zu. Nun erst sah ich mich ein wenig genauer um. Mir drängte sich der Gedanke auf, dass es scheinbar italienischen Restaurants vorbehalten war, in verwinkelten kleinen Räumen eine Gemütlichkeit zu erzeugen, die andere Lokale vermissen ließen. Wir saßen Tisch an Tisch und doch war jeder für sich. An den Wänden hingen bunte Bilder, alle ein positives Gefühl vermittelnd. Mir fiel ein Mann am gegenüberliegenden Tisch auf, der eben sein Getränk nochmals orderte. Sein Glas war so leer wie der Platz vor ihm. Er schien zu warten, vielmehr noch hatte ich das Gefühl, er wäre versetzt worden. Er fühlte sich sichtlich unwohl und lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem Sessel zurück. Spontan tat er mir leid. Er starrte Richtung Eingang und mir war, als würde ihm das Warten körperlich anstrengen.Verstohlen musterte ich ihn, schätzte ihn so in den Vierzigern. Nicht groß, soweit ich das im Sitzen beurteilen konnte, auch nicht sportlich, eher rundlich, und auch nicht sonderlich gepflegt. Die dunklen Augen blickten durch eine aus der Mode gekommenen Brille aus Metall. Der Anzug war ebenso altmodisch wie zu groß. Ich war gespannt, wen er erwartete und ob dieser Jemand auch kommen würde. Sein Getränk wurde gebracht, an unserem Tisch wurde die Vorspeise serviert und wir konzentrierten uns auf das köstliche Essen, begleitet von herrlich weichem Brot. Plötzlich kam Leben in ihn, er stand abrupt auf, ein Lächeln erhellte seine Gesichtszüge und er begrüßte einen Mann, der sich für seine Verspätung vielmals entschuldigte. Großzügig winkte er ab, er wäre ja viel zu früh da gewesen. Ich bewunderte ihn dafür, hatte ich doch eben einen gegenteiligen Eindruck gehabt, doch das ließ er seinen Gesprächspartner nicht merken. Nachdem sich beide gesetzt hatten, konnte ich den neuen Gast genauer betrachten. Er war so gänzlich anders, als der Wartende. Er war deutlich älter, aber auch deutlich moderner. Ein selbstsicherer Mann in den wohl eher späten Fünfzigern mit einem mittelbraun gefärbten Bob. Alles an ihm sah weich aus, die Gesichtszüge, der leichte Bauchansatz, die manikürten Hände. Auf alle Fälle war er der Mann der Stunde, er orderte den Wein, das Essen und er führte das Gespräch. Der geduldig Wartende hing nun an seinen Lippen, als gälte es, nichts zu versäumen, was diese sprachen und er machte einen regelrecht verklärten Eindruck. Das Essen wurde serviert und während der Angehimmelte speiste, aß der Andere, selbst in dieser alltäglichen Tätigkeit unterschieden sie sich gänzlich. Was für eine seltsame Verbindung, dachte ich noch auf dem Weg nach Hause.

Die Handtasche an die Jacke gepresst, den Schal um den Hals geschnürt, die Hände auf dem Rücken verschränkt: Der Zug würde bald kommen. Der Wind brachte den Winter, und der Winter brachte Mandeln, Mandarinen und Erkältungen, aber der Zug brachte die Kinder.

Zuhause im Topf zog die Linsensuppe, der Schokoladenpudding war kaltgestellt, es war genug zu essen und zu trinken für alle da.

Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht sollte sie selbst keinen Pudding essen, wie es der Doktor empfohlen hatte. Vielleicht sollte sie für alle Zeit damit aufhören, damit sie noch so viele Jahre wie möglich für die Kinder da sein konnte.

Der Wind zerrte an Jacke und Hose, der Bahnhofsarbeiter grüßte sie. Hinter der Brille erfassten ihre Augen den Zug; drei, vier Waggons auf einmal. Der Optiker musste die Schrauben bald nachziehen. Für die Kinder würde sie auch Schals und Socken und warme Westen stricken, es war genug Stoff und Wolle für alle da.

Cafés sind laut. Viele Menschen, mit vielen Meinungen, die viel reden.
Manche Gäste aber kommen alleine und reden beinahe kein Wort. Dennoch könnte jeder im Raum diese Worte wiederholen, als würde die Welt für diese Menschen einen Moment die Luft anhalten, damit sie nicht lauter reden müssen, als es ihnen beliebt.
Dort drüben, einige Tische weiter, sitzt genau so jemand. Ein älterer Herr, vom Leben gebeugt, mit müden Augen, die interessiert, wenn auch etwas verwirrt, die anderen Tische und die Menschen, die vorbei spazieren, beobachten. Er hatte vorhin mit kratziger Stimme einen Espresso und eine kleine Suppe vom Tagesmenü bestellt. Ich konnte ihn bis hierher hören, obwohl seine Bestellung kaum mehr als ein Flüstern war. Die Bedienung hatte ihn mit Namen angesprochen, er muss wohl ein Stammgast hier sein. Immer wieder nimmt er einen Löffel voll Suppe, einen Schluck Espresso und widmet sich dann wieder mit leichtem Lächeln der Szenerie vor ihm. Er wirkt nicht traurig, keineswegs. Zurückgelehnt sitzt er entspannt in seinem Stuhl und wirkt zutiefst zufrieden. Je länger ich ihm Beachtung schenke, desto mehr fällt mir an ihm auf: Er ist gepflegt, geradezu herausgeputzt. Mit einer sauberen Jeans und einem weißem Hemd hebt er sich stark von den anderen Gästen hier ab. Seine lichten, weißen Haare sind zurückgekämmt, sodass keine einzige Strähne ihm ins Gesicht fällt. Falten hat er nur wenige und nur das regelmäßige Zittern seiner Hände lassen mich ein höheres Alter vermuten.
Keine halbe Stunde später bezahlt er seine Bestellung und erhebt sich schwerfällig. Die nette Bedienung hilft ihm seinen Mantel wieder anzuziehen. Er bedankt sich leise, das Wort hallt in meinen Ohren wieder. Dann verlässt er das Café und hinkt, schwer auf seinen Stock gestützt, an den Fenstern vorbei hinaus aus meinem Blickfeld.

Fahrkartenkontrolle

Reisen mit drei Kindern und der Mutti im Gepäck ist eine Herausforderung. Nach dreimaligem Umsteigen von der Regionalbahn, in den überfüllten Regionalbahnexpress und schließlich in den Intercity mit schwerem Urlaubsgepäck, braucht man definitiv Urlaub vom Urlaub und freut sich auf die gemütliche, heimische Sofalandschaft.
Unser Zielbahnhof wird endlich angezeigt als der Schaffner eine erneute Fahrkartenkontrollrunde durch den Zug startet: „Fahrkartenkontrolle! Ist jemand von Ihnen zugestiegen?“. Plötzlich wird der Schaffner lauter und verlangt wiederholt die Fahrkarte von einem Fahrgast, der nun in mein Blickfeld gelangt. Seine Hautfarbe ist sehr dunkel. Seine schwarzen, krausen Haare sind kurz geschoren. Die hagere Gestalt des Mannes ist unauffällig aber karg bekleidet. Sein Reisegepäck besteht lediglich aus einer kleinen Plastiktüte mit benutzten Imbissutensilien. Der Mann blickt weiterhin ungerührt zum Schaffner, der ihn bereits eindringlicher fragt, ob er überhaupt verstanden wurde. Schließlich weist der Schaffner den Weg zum Ausgang und macht ihm deutlich, dass er beim nächsten Halt auszusteigen hat. Der Mann nickt teilnamslos. Sein Gesicht ist schlicht ohne Emotionen. Ich kann nur Vermutungen anstellen, was seine Herkunft betrifft und wohin sein Weg ihn führt. Vielleicht durchquerte er bereits auf lebensbedrohlichen Pfaden die Sahara und floh auf einem schwankenden Fischerboot über das Mittelmeer. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich mit meinen Luxusproblemen, wie Umsteigen mit schwerem Gepäck schon überfordert bin. Der Schaffner führt seinen Kontrollweg weiter. Der Zielbahnhof ist erreicht. Mit einem letzten, rückwärtigen Blick erhasche ich den Mann ohne gültigen Fahrausweis, wie er in der Tür mit den Buchstaben WC über den Tührrahmen verschwindet. Insgeheim wünsche ich eine gute Weiterreise und hoffe für meine Familie und mich, nie in die Lage der ewigen Flucht zu geraten.

Zufallsbekanntschaften

Nach einigen trostlosen, grauen und verregneten Tagen zeigen sich heute wieder die ersten Sonnenstrahlen. Es hebt den Gemütszustand und lässt einen aktiver werden. Aus diesem Grund entscheide ich mich, heute nach Hause zu laufen. Da ich nun nicht an die Straßenführung gebunden bin, schlage ich den Weg durch den Park ein. An einem Teich befindet sich eine Lagerfeuerstelle, die von mehreren Steinbänken umschlossen wird. Viele Bänke sind bereits vollständig belegt, so dass ich mich auf eine Bank setze, auf der eine junge Frau sitzt. Neben ihr sitzt ein älterer Mann im Rollstuhl. Beide sind in ein Gespräch vertieft und bekommen mich zunächst nicht mit.

Wenig später steht auf einmal ein kleiner Junge vor mir. „Hallo“, sage ich und lächle ihn an. Das scheint er als Einladung in ein Gespräch zu verstehen und plappert munter drauf los. Leider verstehe ich kein Wort von dem, was er sagt, da er nicht meine Sprache spricht. Etwas hilflos fange ich an zu stottern, doch das ist ihm egal und er zeigt mir sein Spielzeugauto und redet einfach weiter. Nun haben wir auch die Aufmerksamkeit der beiden Menschen neben mir und das glockenhelle Lachen der jungen Frau lässt mich meine Anspannung etwas loswerden. “Entschuldigen Sie bitte”, sagt sie mit einem Akzent an mich gerichtet und spricht dann mit dem kleinen Jungen in seiner Sprache. “Ich bin Mikael", sagt er dann und zeigt auf sich, anschließend auf mich, “und du”?

Er gibt sich sehr viel Mühe bei der Aussprache und ich antworte ihm, dass ich Anna heiße. Er scheint mich zu verstehen und man sieht ihm an, dass er überlegt, was er als nächstes sagen kann. “Ich komme aus Ukraine” kommt nach einiger Zeit. “Aus der Ukraine” sagt die Frau neben mir zu ihm und Mikael wiederholt den Satz richtig. Mir ist bewusst, dass es sich hier um Kriegsflüchtlinge handeln muss und ich bin etwas überfordert, wie ich angemessen reagieren soll. Doch meine Sorgen sind umsonst, denn ein Lächeln reicht und ich komme mit den anderen beiden in ein Gespräch. Sie stellt sich mir als Yulia vor, die Mutter von Mikael und er sich als Mikael. Sie spricht etwas Deutsch, der alte Mikael sogar sehr gut. Der kleine Mikael verliert schnell das Interesse, uns zuzuhören und verschwindet wieder, um zu spielen.

Unser Gespräch ist zunächst sehr oberflächlich und ich traue mich nicht, nach Ihrer Geschichte zu fragen. Aus den Medien weiß ich, dass Männer in der Ukraine bleiben müssen, um das Land zu verteidigen. Ich möchte keine Wunden aufreißen, also frage ich nicht nach. Doch je länger wir uns unterhalten, umso mehr erzählen sie von sich aus. Yulia erzählt, dass sie und Ihr Sohn unmittelbar nach Kriegsausbruch von Ihrem Mann zur Grenze geschafft wurden und sie sich zu zweit über Polen nach Deutschland geschlagen haben.
Sie sind in Leipzig gelandet und haben in einer Erstunterkunft Mikael und seine Frau kennengelernt. Dank einer Familie, die eine ebenerdige Ferienwohnung betreiben, konnte der alte Mikael und seine Frau die Erstunterkunft verlassen. Da sich ein Band der Freundschaft geschlossen hatte, bat der alte Mikael die Familie, bei der sie untergekommen sind, auch Yulia und ihren Sohn aufzunehmen. Da es keine Einwände gab, konnten also auch die beiden die Erstunterkunft verlassen und Yulia wartet seither darauf, wieder zurück zu ihrem Mann zu reisen. Mikael selbst holt bei seiner Geschichte etwas weiter aus und erzählt davon, dass er aus Kiew kommt und zu Kriegsbeginn gerade im Urlaub war. Da er im Rollstuhl sitzt, wäre er nicht in der Lage, am Geschehen teilzunehmen und ist mit seiner Frau direkt nach Deutschland geflogen. Mikael war in seiner Firma für Außenkorrespondenzen zuständig und spricht relativ fließend 4 Sprachen, weswegen Ihm die Kommunikation sehr viel leichter fällt.

Er erzählt, dass er nur mit dem hier ankam, was er im Urlaub dabei hatte und sie aufgrund der schlechten Kommunikationsmöglichkeiten nicht wissen, wie es um Ihr Haus steht. Mikael ist viel gereist und hat, wie es bei der älteren Generation üblich war, viele Fotoalben. Eines davon hatte er mit im Urlaub, da er einfach gern seine Geschichten erzählt. Beide sind sehr froh und dankbar, hier auf Großzügigkeit, Verständnis und Hilfsbereitschaft getroffen zu sein. Sie haben neue Freundschaften geschlossen und haben trotz des Umstandes nicht ihren Lebensmut verloren. Die Zeit vergeht viel zu schnell und die drei müssen bald schon aufbrechen. Was bleibt ist die Erkenntnis, dass man auch mit wenig glücklich sein kann. Wir verabschieden uns und vereinbaren, uns nächste Woche wieder zu treffen. Dann will Mikael sein Fotoalbum mitbringen.

Ruhepol

Es ist abends gegen acht Uhr in der Bahn. Der Zug ist bis auf wenige Plätze gut gefüllt. Eine Mutter wiegt das Kleinkind auf dem Arm. Von der Decke strahlt das grelle Licht auf das Gesicht des Kindes welches ruhig schläft. Ab und zu wird die graue Kappe zurechtgerückt. Vor allem wenn sie sich durch das Wenden des Kindes auf dem Arm verschoben hat. Das graue T-Shirt seiner Mutter und die graue Kopfbedeckung des Kleinkindes scheinen aus einem ähnlichen Stoff gearbeitet zu sein.

Irgendwann wacht das kleine Kind nach einer Schlafphase wieder auf. Für einen kurzen Moment öffnet es die Augen, bewegt den Mund und schläft dann wieder weiter. Die Mund- und Gesichtsbewegungen erinnern an Gähnen und sehen wie Grimassen aus. Es folgen weitere kürzere Wachphasen ohne dass es sich lautstark äußert und die Augen nur ganz wenig öffnet. Es liegt auf dem Arm der Mutter wie auf dem Ast eines Baumes. Der rechte Arm über den Arm der Mutter hängend und das grelle Licht im Gesicht schläft es ruhig bis es durch eine Störung wieder kurz wach wird und mit den Augen die Umgebung mustert. Langsam fallen nach einem kurzen Wachmoment seine Augen wieder zu und es schläft weiter. Auch das Geräusch beim öffnen der Türen kann es nicht aus dem Schlaf wecken. Jedoch reicht eine ungünstige Liegeposition aus um sich darüber lautstark zu beschweren.
Der Kinderwagen steht vollgepackt da. Es ist alles drin, was für eine Fahrt mit einem Kleinkind in der kälteren Jahreszeit nötig ist. Dabei passen noch eine Jacke und ein Rucksack in den unteren Bereich.

Vor dem Endbahnhof beginnt die Mutter die braune Jacke aus dem Kinderwagen zu nehmen und legt das Kleinkind auf den Rücken in den Kinderwagen. Nachdem Sie die Jacke angezogen hat ist aus dem Kinderwagen ein leises schreien zu hören. Als sie das Kind wieder auf den Arm nimmt und sanft wiegt schläft es nach kurzer Zeit wieder ein.
Jetzt wird aus dem Kinderwagen ein kleiner Rucksack aus dunkelbraunem Leder genommen und umgehängt. Das Kind wacht wieder auf und wird nach kurzem schreien durch vorsichtiges Wiegen wieder beruhigt. Mit einer Hand zieht die Mutter die Decken im Kinderwagen zurecht und legt das Kind wieder hinein. Dann bewegt sie sachte den Kinderwagen hin und her und das Kleine schläft ruhig weiter.

15.10.2022 Hochzeitstag von Sonja und Alexander

»Lass uns künftig nicht mehr so viel arbeiten. Wir dürfen nicht vergessen zu leben. Ich wäre dafür, jetzt ganz spontan Jive zu tanzen - nach all dem Reden möchte ich spüren, dass ich noch lebe!«

Alexander sucht nach einem passenden Song. Gleich darauf erklingen die ersten Takte »Two hearts« von Phil Collins. Der fröhliche Jive geht ihnen sofort in die Beine. Mit federnden Schritten führt Alexander Sonja voller Lebenslust und Freude an schneller Bewegung in eine Jive-Figur nach der anderen. Erst ein Teaser, dann dreht Sonja blitzschnell ein Spin Ending in seinen Spanish Arms und wirbelt danach in einem American Spin herum. Nach einem kurzen Hand- und Platzwechsel führt er sie ins Körbchen und danach in einen ausführlichen Side-by-Side-Flirt. Bevor sie Atem holen kann, geht es von den Toe Heel Swivels weiter in die Stalking Walks. Sonjas Augen glänzen vor Freude. Wie Alexander liebt sie diesen temperamentvollen Tanz.

Um noch weitere Figuren austanzen zu können, hat Alexander noch einen weiteren Jive angehängt. »Let’s Twist Again« ertönt es flippig aus der Musikanlage und so stürzen sich die beiden mit Chubby Checker in eine weitere Runde lebendigen Jive mit allerlei Kicks und Twists. Alexander führt sie mit swingender Leichtigkeit des Seins in den lustigen Dandy Walk, die Chicken Walks und nach einer schwungvollen Whip in die Promenade Twists. Das fetzige Ende bildet nach einem Katapult eine dynamische Figurenfolge namens Drunken Sailor.

Voll sprühender Lebendigkeit und völlig außer Atem lassen sie sich nach dem ausgelassenen Tanzen anschließend aufs Sofa fallen.

»Na, meine Liebste, fühlst du dich jetzt lebendig genug?«

»Eigentlich schon wieder halbtot«, lacht Sonja und pustet sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, »du heiße Sohle hast mir ganz schön eingeheizt. Was meinst du, Alexander, werden wir als 100-Jährige auch noch so flotte Alterssprünge aufs Parkett legen?«

»Hey, wir sind immer nur so alt, wie wir uns fühlen. Und wenn wir weiterhin im täglichen Tanztraining bleiben, sehe keinen Grund, warum wir nicht auch als Oldies noch eine flotte Sohle aufs Parkett legen können.«

»Das ist wahr, Alexander. Immer schön auf ein positives Altersbild konzentrieren, zumal noch eine lange Zeitstrecke vor uns liegt.«

»Definitiv, ich konzentriere mich gern auf das, was vor mir liegt«, betont Alexander, während ihm der Schalk aus den Augen blitzt, als er die weiblichen Rundungen seiner Frau begutachtet, »ich muss unbedingt sofort überprüfen, wie quicklebendig du noch bist … let’s twist again …«

Sie saß auf der grauen Couch und gestikulierte mit ihren kleinen Händen. Die kurzen Finger mit den abgeknabberten Nägeln zuckten. Ihre schlanken Beine steckten wie üblich in engen schwarzen Jeans, an deren Bund ihr Konzern-Ausweis hing und im Takt der Bewegungen ihres schlanken Körpers gegen eine Niete ihrer Jeans klackte. Ihre kleinen Füße mit den geraden kurzen Zehen erreichten kaum den Boden und wippten auf und ab. Die grauen Augen hinter den Brillengläsern blitzten, während die schmalen rosigen Lippen unter der kleinen Nase unablässig Worte formten und dabei ihre geraden weißen Zähne zeigten. Eine Strähne ihrer taillenlangen dunkelblonden Haare hatte sich aus dem strengen Dutt gelöst und strich über die glatte Haut ihres runden Gesichts. Eine ihrer schmalen blonden Augenbrauen zuckte nach oben.

Beste Freundinnen

Heute ist es endlich wieder so weit. Nach über einem Jahr sehen wir uns endlich wieder. Aufgeregt öffne ich die Haustür. Dort stehst du, bepackt mit allerlei Dingen. In der Hand hältst du außerdem noch die Leine von Amica. Einem weißen, süßen, kleinen, flauschigen Wirbelwind auf vier Pfoten. Deine kastanienbraune Lockenpracht ist durchzogen von den ersten grauen Strähnen. Deine Augen strahlen vergnügt. Wir fallen uns in die Arme und drücken uns ganz fest, so lange hat es gedauert, bis dass wir uns wiedersehen und trotzdem ist sofort die Vertrautheit wieder da. Es gibt zwischen uns kein Zögern, keine Zurückhaltung. Der unverwechselbare Duft von Vanille steigt mir in die Nase, während wir uns begrüßen.

Da es heute besonders kalt ist, habe ich im Wohnzimmer den Kamin angemacht. Daher empfängt uns eine wohlige Wärme. Das Feuer im Kamin sorgt für ein zusätzliches Wohlgefühl. Du hast es dir sofort auf unserer alten, braunen Couch gemütlich gemacht und sitzt mir im Schneidersitz gegenüber. Du trägst dunkle Socken. Passend zu der schwarzen Jeans hast du eine rote Bluse mit weißen Blumen kombiniert. Dazu passend eine Uhr mit einem roten Armband. Edle, schwarze, Ohrringe runden das Outfit ab. Ein Hauch von Mascara und Puder unterstreicht die natürliche Schönheit.

Wir reden den ganzen Nachmittag. Es geht um lustige aber auch ernstere Themen.

Der Abschied rückt näher. Eine leichte Traurigkeit erfasst uns. So schnell ging die Zeit dahin. Wir umarmen uns ein letztes Mal herzlich und nehmen Abschied voneinander. Bis zum nächsten Treffen.

Paprus Schreibaufgabe 3

Nur eine alte Fußgängerbrücke

Träge zieht das aufgewühlte, schmutzige Wasser unter der Fußgängerbrücke hindurch. Herabgefallene Herbstblätter bedecken fast die ganze Oberfläche des Entlastungskanals. Es riecht nach Herbst, faulem Blattwerk, sumpfigem Wasser und einem Hauch von Pilzen. Wenige Enten suchen sich eine Furt durch die Blätterdecke, die auf dem Wasser schwimmt. Ab und an piepst eine Stockente, wenn sie den Anschluss zu ihrer Familie sucht. Am Rande steht, kaum erkennbar, unbeweglich, ein grauer Fischreiher und wartet auf eine Mahlzeit. Biberratten haben sich in die Böschung eingegraben und einen Baum zum Umstürzen gebracht. Einige Radfahrer auf der Brücke, finden die nasstriefenden Tiere spaßig und füttern sie. Eifrig kommen sie herangeschwommen, um einen Happen zu ergattern.
Auf der Brücke steht ein einsamer Angler, in tarnfarbiger Bekleidung mit seiner Angelrute und sonstigem Equipment. Sein Fischkorb ist noch leer. Mein wissbegieriges Fragen ermutigt ihn zu erzählen, dass er Barsche fangen will und wie viel ein Angelschein kostet. Ich sage: “Dafür kann ich ein Jahr lang, ohne viel Mühe, sehr viele Fische im Supermarkt kaufen.“ Doch das empfindet er nicht als Kritik an seinem Angelsport, denn die Freude daran motiviere ihn, auch stundenlang auf einen Fang zu warten.
Vom nahe gelegenen Seniorenheim finden sich einige Rentner ein. Manche zu Fuß, meist jedoch im Rollstuhl oder mit einem Gehwagen. Genüsslich genießen sie auf der Brücke die Herbstsonne, die durch die blattleer gewordenen Baumwipfel scheint. Ein kleiner Plausch mit anderen Senioren fällt in dieser Umgebung leicht.
Eine Brücke zur Natur, zu unbekannten Menschen ermöglicht diese Umgebung, was sonst schwerer fällt. Eine alte Fußgängerbrücke wird wertvoll.

Hier kommt dein Titel hin (lösch die Zeile wenn du keinen hast)

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Sie kamen von links und von rechts. Kein Durchkommen möglich. Dennoch blickte sie zuversichtlich drein. Ihre Schritte, erst zögernd, die Augen zu den beiden Seiten der Straße sehend, brachten sie auf die andere Seite. Regen setzte ein, nieselte in ihr Gesicht, auf die Haare und die Haut. Fröstelnd zog sie ihre Jacke enger, die feinen Härchen an ihrem Nacken stellten sich hoch.
Menschen gingen an ihr vorbei, lachend, sich unterhaltend, neben ihr heulte ein Motorrad auf. Erschrocken blieb sie stehen, wich aus.
Dann hörte sie eine Stimme, die sie zu kennen glaubte. Sie bog auf den Parkplatz ein und erkannte ihn - ihre große Liebe!
Ihr Herz pochte vor Aufregung, abrupt stand sie still. Da stand er, blaue Augen, dunkelblonde Haare, schlanker Body.
Er zog an seiner Zigarette und schloss die Tür seines Wagens.
Flugs warf er sich die Kapuze seines Hoodies über die Locken und schaute grimmig nach rechts. Sein hübsches Profil traf sie erneut mitten ins Herz.
Amor schlug zu, wie schon vor Jahren, als sie ihn zum ersten Mal erblickte. Ihre Augen konnte sie nicht mehr von ihm lassen. Wie ein Hund von seinem Knochen.
Er hatte sie damals noch nicht einmal bemerkt - genauso wie jetzt. Die Liebe war noch immer da, so frisch und seidig wie das Glitzern des Morgentaus in der Sonne.
Neben ihm lief seine Mutter und beklagte sich über das Wetter.

Im Dunkel

Ich rieche Blut.

Meine Augen…!?
Ich will sie öffnen, aber die Wimpern kleben aneinander.
Mein Kopf tut fürchterlich weh… Etwas brennt und pocht in meinem Hinterkopf wie hundert Bienenstiche.
Ich schneide schmerzhafte Grimassen, presse Brauen und Wangen zusammen, so fest ich kann, und ziehe sie dann ruckartig auseinander. Nach mehreren Versuchen lockert sich der Schorf an einer Stelle. Zäh reißend lösen sich die Wimpern eines Auges voneinander.
Ich sehe… nichts!?
Bin ich blind?
Oder ist es stockdunkel um mich herum?

Unheimliche Geräusche…
Kalte, modrige Luft.
Und der klebrige Gestank von Blut, stechend und übel, stark wie beim Ausbluten und Zerlegen einer großen Jagdbeute, vermischt mit dem Geruch von verspritzten Körpersäften, von rohem Fleisch und Innereien.

Der Stein!
Ich erinnere mich…
Sie haben mir einen Stein auf den Kopf geworfen, dann bin ich umgekippt…
Nein… Da war noch etwas…
Der Anführer! Der Große!
Er war plötzlich hinter mir und hat mir noch einen Schlag versetzt…
Der Erinnerung treibt den Schmerz jäh in den Vordergrund meines Bewusstseins. Er strahlt pulsierend vom Kopf in den Nacken und sendet brennende Wellen durch meinen Körper. Sie werden stärker und schwächer… stärker und schwächer… ziehen mich nach unten, in eine Region von dumpfem, schwerem Druck… und noch weiter hinab… in ein tiefes, empfindungsloses Dämmern…

Die Geräusche…
Schaben und Knacken.
Reißen und Malmen.
Schmatzen. Grunzen. Stöhnen.
Fressgeräusche!!
Quengeln und Quieken… von hungrigen Jungtieren?
Murren und Knurren.
Knuffen. Fauchen. Jammern.
Was frisst hier? Und was wird da gefressen??

Ich halte die Luft an. In der Dunkelheit nehme ich Bewegungen wahr, mit dem Gehör nur… oder sind da feine Luftbewegungen auf meiner schmerzenden, klebrigen Haut? Mit der Zeit meine ich, auch etwas zu sehen, ganz schwach hinter dem Rauschen der wolkigen Netzlinien, die die Schwärze meiner Wahrnehmung durchziehen, auch wenn ich die Augen geschlossen habe. Etwas ändert sich, wenn ich sie öffne: Das Dunkel wird eine Spur weniger dunkel.
In einiger Entfernung von mir gibt es einen fahlen Fleck… Von Zeit zu Zeit wird es dort kurz heller… Als ob irgendwo weit weg vor dem Eingang der Höhle – ich bilde mir ein, dass ich mich in einer Höhle befinde – ein Wetterleuchten flackert.
Vage Formen, die weniger dunkel sind als das restliche Dunkel, bewegen sich – kaum wahrnehmbar, so dass ich es nur bemerke, wenn ich nicht direkt hinsehe. Aus den Augenwinkeln spüre ich einen schwachen, düstereren Schein, der von diesen Formen ausgeht. Die gleiche Art von Leuchten, die ich an den Gestalten über dem Hohlweg bemerkt habe… und zuletzt an der Faust, die mich zu Boden geschlagen hat.
Wie lange ist das her? Augenblicke? Tage?
»HUNGER!«
Ich zucke vor Schreck zusammen. Der Laut war kehlig und tierisch – aber ohne Zweifel gesprochen!
»Hunger!«
»hunger – mehr essen!«
Da sind mehrere Stimmen! Laute und leisere, wild fordernde und unterwürfig flehende.
Eine Mischung aus Erstaunen und Abscheu lässt mich keuchen. Sie reden!
Noch nie war ich diesen Wesen so nahe, und noch nie habe ich sie sprechen gehört. In meiner Vorstellung waren sie bis jetzt primitive Ungeheuer, die sich – wenn überhaupt – nur mit angsteinflößenden Urlauten verständigen…
»Hunger!«
»Mehr ESSEN!«
»Noch anderer Mensch! ESSEN!!«
Etwas nähert sich, langsam, zögernd. Etwas schnüffelt…

Wo bleibt das Leben?

Mein Freund, vor wenigen Jahren warst du ein begnadeter Faustballspieler, nun bewegst du dich im Rollstuhl. Du warst unwidersprochen Boss. Nun musst du für kleinste Handreichungen deine Frau um Hilfe bitten. Du erzähltest hunderte fesselnder Geschichten und Anekdoten, heute sind es noch drei, die sich in schneller Folge wiederholen. - Wo bleibt da das Leben?

Halte sie fest, deine Bruyère-Tabakpfeife, die du, wie ehedem, bedächtig stopfst und dann anzündest. Geblieben sind dir die bläulichen Dunstkringel, die unaufhaltsam davon schweben und sich im Nichts auflösen.

Aber Freunde bleiben wir!