Wer bin ich?
Wenn es denn so einfach wäre!
„Gib dir Mühe“, hatte Frau Rosenduft, meine Motivationslehrerin gesagt.
„Beobachte die Reaktion der Menschen und lerne.“ Das war der alte Geschichteprofessor Kiefernharz gewesen.
„Mische verschiedene Essenzen zusammen und du wirst mächtiger werden“, meinte Frau Schwefeldampf im Chemieunterricht.
„Oh, c’est facil. Esprit! Enthusiasme! Amour! C’est la vie!”. Ich liebe die Energie von Mademoiselle Lavande, der jungen Französischdozentin. Und sie riecht so gut.
Sie mögen alle Recht haben. Jeder von ihnen hat mehr gesehen im Leben als ich. Sie sind durch tausende Räume geflogen und haben Millionen von Nasen passiert. Ich? Wir alle werden nicht als Parfümduft geboren. Unser Leben beginnt ganz unscheinbar als ein Hauch von Nichts. Kaum wahrnehmbar, flüchtig, eine Illusion im Raum. Die Vielversprechendsten von uns werden auserwählt, um durch die harte Schule des Lebens zu gehen. Sie versuchen uns zu etwas Großem zu machen. Nur wenige haben Erfolg, viele werden vom Winde verweht oder gehen unter im Wettbewerb mit den anderen Düften.
Und damit wären wir wieder bei mir. Ich habe die Kennzahl 93578. Ja, so ist es bei uns. Wir sind eigentlich nichts. Nur eine Nummer im System. Erst wenn wir unsere Abschlussprüfung bestehen erhalten wir einen Namen. So wie Frau Rosenduft. Lieblich und Aufmerksamkeit erregend. Oder wie Frau Schwefeldampf. Aufdringlich und – Entschuldigung, Frau Schwefeldampf – widerlich.
Die Prüfungen sind eigentlich ganz einfach. Wir müssen uns in einen Duft verwandeln, unser erlerntes Wissen anwenden. Dann werden wir in einen Raum gepackt und unseren Prüfern ausgesetzt. Bisher hatte ich alle Prüfungen bestanden. Aber Tiere sind einfache Wesen. Sie geben uns auch keine Namen, sie bewerten über die Anziehungskraft. Und manche der Prüfungen waren einfach gewesen. Ich war schon vergammelter Käse bei der Prüfung mit den Fliegen, Sexualpheromon bei dem Hundetest und ich roch nach Erdbeerkuchen für die Wespen.
Heute aber bin ich nervös. Alles was ich bisher erreicht habe, zählt heute nicht mehr. Einer meiner besten Kumpel ist gestern hochkant durch den Abschlusstest gefallen. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben. Ich fand seine Kreation sehr gelungen. Nicht aufdringlich, eher dezent. Aber sehr inspirierend. Und dann war er in diesem Raum und die Menschen waren hereingekommen. Sie haben ihn einfach gar nicht wahrgenommen. Ende der Geschichte! Ich habe daraus gelernt. Lieber zu viel als zu wenig sein. Ich bin lieber Brandgeruch als… Nichts.
Ich habe es mir nicht einfach gemacht. Ich habe recherchiert, war an vielen Orten mit starken Gerüchen. Habe versucht die Menschen und ihr unterentwickeltes Riechorgan zu verstehen. Hoffentlich habe ich die richtigen Schlüsse gezogen. Sie haben mich vor fünf Minuten in diesen dunklen Raum gesteckt. Meine Verwandlung ist abgeschlossen. Ich denke ich habe alles richtig gemacht, die vielversprechendste Kombination genommen. Und ich bin stark.
Da kommen sie! Die Tür öffnet sich. Es sind fünf. Junge Menschen, sie reden und lachen. Das Mädchen mit der Türklinke in der Hand stoppt abrupt. Ich glaube, sie hat mich bemerkt. Sie hebt den Kopf, ich sehe ihre Nasenflügel beben. Ihre Augen weiten sich. Sie öffnet den Mund. Ich zittere vor Erregung.
„Oh Gott! Hier riecht es nach Verzweiflung!“
Ich bin glücklich. Ich habe einen Namen. Verzweiflung. Klingt gut!