Seitenwind Woche 3: Dufte

Ich muss raus hier! Es ist eng, dunkel und schmutzig! Dort draußen… Freiheit, ich komme!

Nanu! Wo bin ich denn hier gelandet? Auch hier ist es eng, ziemlich dunkel und recht schmutzig. Und 12 Nasen rümpfen sich. Wegen mir? Wegen mir!! Oje, was mach ich bloß? Wie peinlich. Dass das ausgerechnet mir passieren muss! Ich muss hier weg! Wohin? Kein Ausgang! Nur vier Wände. Wie schrecklich! Ein Paar Lippen verzieht sich angeekelt. Raus hier, raus! Panik! Ist das das, was man Klaustrophobie nennt? Hiiilfe!
„3. Stock. Türe öffnet links.“

Oh, Gott sei Dank!

Die Macht des Eucalyptus

Destilliert. Konzentriert. Geburt meines intensivsten ätherischen Seins. Ein Wonnedampfbad befreit mich aus holzigen Ästen und harten Blättern, macht mich unruhig, unternehmungslustig, flüchtig. Und bevor sich meine Partikel in der unendlichen Atmosphäre verdünnisieren, legen sich einige sanft auf die Riechzellen einer Schleimhaut. Die Flügel der kleinen Nase beben, denn ihre Eigentümerin schnuppert an mir.

„Oma?“, sagt sie mit Kinderstimme und schaut sich suchend um.
„Hast du was gesagt, Liebes?“, fragt ein Bariton.
„Gerade hab ich an Oma denken müssen. Komisch, plötzlich fielen mir die grünen Bonbons mit dem Fähnchen ein, von denen sie immer ein paar in der Manteltasche hatte. Willste ´n Bollchen, hat sie mich leise gefragt, wenn ich in der Kirche angefangen habe, mit den Füßen zu zappeln. Dann wickelte sie eines aus und schob es mir in den Mund. Aber nich´ schmatzen und nich´ beißen, flüsterte sie und lächelte breit. Oben war mein Mund dann beschäftigt und unten gaben die Füße Ruhe.“
Der Bariton lacht. „Kind, wie kommst du jetzt darauf? Richtig, an die Bonbons meiner Mutter erinnere ich mich auch! Ich denke bei dem Geruch sofort an Fieber und Husten, denn dann schmierte sie mir eine klebrige weiße Salbe auf Brust und den Rücken. Oder sie gab von dem gleichen Öl drei, vier Tropfen in ein Gesichtsdampfbad und ich musste unter dem Handtuch inhalieren. O Mann, ich dachte, ich müsste ersticken, so scharf roch das Zeug. Aber es half.“
„Das ist lustig, Papa. Dich erinnert der Geruch an etwas nicht so Schönes und mich an einen glücklichen Moment.“

Ja, ich habe Yin und Yang. Mein Aroma kann locken, erschrecken, Spuren legen, abstoßen. Schon ein Windhauch durch meine Quelle hat die Macht, Erinnerungen und Emotionen zu wecken. Ich kann Menschen auf Zeitreisen schicken und nicht nur Mücken in den Tod. Mücken hassen, aber Koalas lieben mich.

ICH GLAUB, ICH HÖR’ WAS RIECHEN

Geräuschlos platze ich selten in die Welt. Nicht immer der große Knall, aber weithin hörbar. Vielleicht als schmetternde Fanfare, die meine atemberaubenden Auftritte gern verkündet. So weiß ein jeder und eine jede: Er ist unter uns.

Ignoriert werde ich nie. Dafür brauche ich nicht einmal Gestalt anzunehmen. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Das sagt man nicht nur, weil in meiner Gegenwart regelmäßig die Brillengläser beschlagen. Ich mag unsichtbar sein, aber unwesentlich gewiss nicht.

Ich bin gerne unter Menschen und lasse niemanden unberührt. Manche werden rot, andere erblassen. Zarte Gemüter sinken in sehenswerten Pirouetten ohnmächtig zu Boden. Weniger elegant fallen hingegen Kanarienvögel von der Stange. Einfach so. Plumps. Da liegen sie und sagen keinen Piep mehr.

Nein, willkommen bin ich nicht. Aber man zollt mir Respekt. Wer klug ist, geht mir aus dem Weg. Ich stehe wie eine Wand. Wer nicht anders kann, darf passieren: Augen zu und durch.

Ja, ich genieße das Bad in der Menge. Eine Weile zumindest. Sobald die Fenster aufgerissen werden, ist es an der Zeit, dass ich mich verdünnisiere.

Lichtschutz im November

Ist heute wieder einer dieser Tage?
Muss wohl so sein, denn du öffnest die Tube und verteilst mich sorgsam auf deinem Gesicht. Saugst mein Aroma, das in der Creme wohnt, tief ein und lächelst. Von befreundeten Synapsen des Geruchssinns weiß ich, was jetzt passiert: Du schließt kurz die Augen und denkst an den Sommer.
Dann gehst du in diesen trüben Novembertag.
Lichtschutzfaktor 30 wäre sicher nicht nötig…, obwohl?!

Wer bin ich?

Wenn es denn so einfach wäre!

„Gib dir Mühe“, hatte Frau Rosenduft, meine Motivationslehrerin gesagt.

„Beobachte die Reaktion der Menschen und lerne.“ Das war der alte Geschichteprofessor Kiefernharz gewesen.

„Mische verschiedene Essenzen zusammen und du wirst mächtiger werden“, meinte Frau Schwefeldampf im Chemieunterricht.

„Oh, c’est facil. Esprit! Enthusiasme! Amour! C’est la vie!”. Ich liebe die Energie von Mademoiselle Lavande, der jungen Französischdozentin. Und sie riecht so gut.

Sie mögen alle Recht haben. Jeder von ihnen hat mehr gesehen im Leben als ich. Sie sind durch tausende Räume geflogen und haben Millionen von Nasen passiert. Ich? Wir alle werden nicht als Parfümduft geboren. Unser Leben beginnt ganz unscheinbar als ein Hauch von Nichts. Kaum wahrnehmbar, flüchtig, eine Illusion im Raum. Die Vielversprechendsten von uns werden auserwählt, um durch die harte Schule des Lebens zu gehen. Sie versuchen uns zu etwas Großem zu machen. Nur wenige haben Erfolg, viele werden vom Winde verweht oder gehen unter im Wettbewerb mit den anderen Düften.

Und damit wären wir wieder bei mir. Ich habe die Kennzahl 93578. Ja, so ist es bei uns. Wir sind eigentlich nichts. Nur eine Nummer im System. Erst wenn wir unsere Abschlussprüfung bestehen erhalten wir einen Namen. So wie Frau Rosenduft. Lieblich und Aufmerksamkeit erregend. Oder wie Frau Schwefeldampf. Aufdringlich und – Entschuldigung, Frau Schwefeldampf – widerlich.

Die Prüfungen sind eigentlich ganz einfach. Wir müssen uns in einen Duft verwandeln, unser erlerntes Wissen anwenden. Dann werden wir in einen Raum gepackt und unseren Prüfern ausgesetzt. Bisher hatte ich alle Prüfungen bestanden. Aber Tiere sind einfache Wesen. Sie geben uns auch keine Namen, sie bewerten über die Anziehungskraft. Und manche der Prüfungen waren einfach gewesen. Ich war schon vergammelter Käse bei der Prüfung mit den Fliegen, Sexualpheromon bei dem Hundetest und ich roch nach Erdbeerkuchen für die Wespen.

Heute aber bin ich nervös. Alles was ich bisher erreicht habe, zählt heute nicht mehr. Einer meiner besten Kumpel ist gestern hochkant durch den Abschlusstest gefallen. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben. Ich fand seine Kreation sehr gelungen. Nicht aufdringlich, eher dezent. Aber sehr inspirierend. Und dann war er in diesem Raum und die Menschen waren hereingekommen. Sie haben ihn einfach gar nicht wahrgenommen. Ende der Geschichte! Ich habe daraus gelernt. Lieber zu viel als zu wenig sein. Ich bin lieber Brandgeruch als… Nichts.

Ich habe es mir nicht einfach gemacht. Ich habe recherchiert, war an vielen Orten mit starken Gerüchen. Habe versucht die Menschen und ihr unterentwickeltes Riechorgan zu verstehen. Hoffentlich habe ich die richtigen Schlüsse gezogen. Sie haben mich vor fünf Minuten in diesen dunklen Raum gesteckt. Meine Verwandlung ist abgeschlossen. Ich denke ich habe alles richtig gemacht, die vielversprechendste Kombination genommen. Und ich bin stark.

Da kommen sie! Die Tür öffnet sich. Es sind fünf. Junge Menschen, sie reden und lachen. Das Mädchen mit der Türklinke in der Hand stoppt abrupt. Ich glaube, sie hat mich bemerkt. Sie hebt den Kopf, ich sehe ihre Nasenflügel beben. Ihre Augen weiten sich. Sie öffnet den Mund. Ich zittere vor Erregung.

„Oh Gott! Hier riecht es nach Verzweiflung!“

Ich bin glücklich. Ich habe einen Namen. Verzweiflung. Klingt gut!

Gerücheküche

»So langsam reicht’s mir aber. Immer wird HUGO bevorzugt und darf ganz vorne stehen. Auch wenn er JUST DIFFERENT riecht, ist dies noch lange kein Grund«, beschwert sich DIESEL, ONLY THE BRAVE, lautstark bei den anderen.
»Nun sagt doch auch mal was!«

»Das stinkt mir auch seit langem«, antwortet YVES SAINT LAURENT, OPIUM.
»ĭch bin mit meinem Geruch prädestiniert, die Menschen von mir abhängig zu machen. Ich sollte deshalb für alle zur Verfügung stehen.«

»Nun spielt euch mal nicht so in den Vordergrund. Das sollte einzig und allein mein Platz sein, denn ich heiße nicht umsonst L’IMPÉRATRICE, die Kaiserin«, wirft DOLCE & GABBANA ein und versprüht ihren Duft in Richtung der anderen.

»Nun vertragt euch doch. Ich kann dieses Stänkern nicht mehr riechen«, versucht CHLOÉ LOVESTORY zu schlichten.
»Ĭch finde, wir sollten uns abwechseln und schlage vor, das MICHAEL KORS SEXY AMBER mal dran ist. Michael, geh‘ du nach vorne, ich mag deinen wahnsinnigen Geruch.«

Ein Paar kommt gerade von der Fußgängerzone zur Tür herein, bleibt jedoch an der Türschwelle stehen. Er hält sich mit einer Hand die Nase zu, verzieht dabei das Gesicht und flüstert ihr zu:
»Laß‘ uns da bitte nicht reingehen. Ich kann all diese miteinander konkurrierenden Düfte nicht ausstehen. Diese Parfümerien grenzen an Geruchsbelästigung und stinken bis zum Himmel!«

Feiertag für einen Duft

„Herzlich willkommen in der alten Disco und zum Klassentreffen! Schön, dass ihr uns besucht. 25 Jahre Schnupperabitur, nicht zu fassen, wie die Zeit verweht!“ Niko und Tini dampfen vor Aufregung. Die Gastgeber bilden ein unzertrennliches Paar. Wir anderen zogen in die Welt hinaus, die beiden sind geblieben. Sie haben sich in den zerlumpten Vorhängen der vor zwanzig Jahren geschlossenen Dorfdiskothek eingenistet. Was wurde hier während unserer Schulzeit gefeiert!
Niko und Tini wabern über die stumpfe Tanzfläche, an deren Rand ich früher dem Treiben zuschaute. Sie weisen uns den Weg in eine Ecke.
„Hier zieht es nicht so“, kichert Tini.
„Fühlt euch wie daheim“, sagt Niko und versinkt im Polster eines Loungesessels.
Wir anderen schlängeln uns umeinander herum. Müffeln, dünsten, flehmen. Man drängt mich nach außen, als sei ich ein Raumspray. Wie früher.

„Erzählt doch mal, wohin euch der Wind getrieben hat. Was macht ihr beruflich?“, sagt Rohrik und verdickt sich zu einer Wolke. „Also, ich bin Toilettenduft.“
OHs und AHs dringen aus der Runde.
„Ja, okay, es ist schon etwas Besonderes. Aber es ist nicht einfach, um ehrlich zu sein. Die Bewohner meines Hauses sind ständig hinter mir her. Ich führe ein Leben auf der Flucht vor Spülsteinen, Essigreinigern und Bürsten.“
„Du wolltest dich damals doch bei Chanel bewerben“, lacht Axel.
„Meine Noten waren leider nicht geeignet“, grummelt Rohrik.
„Ging mir auch so.“ Axel stockt. „Nun klebe ich in Hautfalten, werde täglich vertrieben. Aber ich kämpfe und kehre immer zurück!“ Sein Lachen riecht nach Umkleidekabine.
„Schult doch um!“, fiept Flatu von Lenzia, unsere Jahrgangsbeste. „Ich schwebe auf Darmgasen und lebe die Tradition meiner Familie.“
Die anderen weichen zurück. Aus Respekt?
„Beliebt bin ich allerdings auch nicht.“ Flatu schnieft. „Und ihr?“
Mauke, die Zwillinge Fauli und Mauli und weitere Schnupperabiturienten bejammern ihr Dasein.
„Ach, Dolly, du bist ja auch hier.“ Axel hat Witterung aufgenommen und wabert heran. „Was ist denn aus dir geworden? Der Duft eines Mauerblümchens?“ Zu Abiturzeiten wünschte ich mir ein Deo zu sein, wenn Axel mich ansprach.
Das Lachen verklingt. Ich hole tief Luft, steige spiralförmig auf. „Man liebt mich. Niemand, dem ich in die Nase schwebe, vergisst mich. Tränen des Glücks sind mein Lohn.“
„Glückwunsch, du bist der Duft des Geldes“, erhebt sich Nikos Stimme aus dem Sessel. Tini hustet. Ich lasse Nikos Worte zwei Sekunden wogen, bevor ich antworte: „Ich bin Babyduft!“

Die Runde ist paralysiert, als würde eine Putzkraft den Saal betreten, um die Fenster auf Durchzug zu stellen. Die alten Kameraden miefen still vor sich hin.
Ich wirbele Staub über der Tanzfläche auf, summe „Flugzeuge im Bauch“. Dann rausche ich auf den Spalt in der Eingangstür zu, drehe mich um, erschnuppere das Elend von Axel, Mauli, Fauli und den anderen. Köstlich!
„Die Arbeit ruft! Bleibt, wie und wo ihr seid!“ Meine Stimme überschlägt sich.
Vor der Disco breiten die Aromen von Tannenharz und feuchtem Gras ihre Arme aus. Ich eile hinaus in die Nacht, nutze einen Windstoß, rase über die Wiese. Man erwartet mich sehnlichst, die nächste Geburt ist für 1:30 Uhr angekündigt.

Verdammt, ich bin ein Furz.
Das bin ich - eine lästige Flatulenz. Wie gerne wäre ich der Duft einer Rose, die einfach nur rankt und dazu noch hübsch aussieht.
Warum kann ich nicht der liebliche Duft einer Sommerwiese sein? Von mir aus auch frisch gemäht.
Na ja. Das steht mir nicht zu, wie es scheint. Manche rümpfen ihre Nasen, schauen erst in meine Richtung und drehen sich dann angewidert weg. Sie finden kein gutes Wort für meine Existenz. Manchmal streiten sie sich um mich. „Ich war es nicht.“ - ein Satz, den ich zu oft gehört habe. Niemand steht zu mir.
Wie gerne wäre ich das Resultat eines frisch gegrillten Steaks – gut durch, oder besser - medium. Man würde mich verehren.
Nein ich bin nur eine Blähung – ein schlechter Luftzug, der die Menschen abstößt. Ich wünschte, ich wäre wie der Hauch der Pizza, der eines Döners – eines halben gegrillten Hahns. Vanille. Verdammt - Vanille! So viele Menschen würden mich lieben.
Der Rauch des Lagerfeuers – so beneidenswert.
Parfums - auch sie sind mir weit voraus. Viele Menschen mögen die Essenz aus Alkohol und Ichweißnichtwas. Manchmal konnte ich untertauchen in ihrem Dunst. Das war toll. Ich schlich heraus, sah mich um und fiel nicht weiter auf. Die Menschen um mich herum waren so zufrieden.
Fliegen jedoch - die lieben mich. Ungewollte Fans, die mir stetig folgen. Sie folgen einem Star, der ich nicht sein will - nicht so.
Es konnte leider nichts Besseres aus mir werden. Wenn ihr wüsstet, wo ich herkomme – ganz üble Gegend.
Verdammt, ich bin ein Furz.

Der einsame Duft

Letzte Nacht habe ich das Licht der Welt erblickt. Zum ersten Mal konnte ich meine Fühler ausstrecken und meine neue Umgebung ein wenig erkunden. Davor war es dunkel, unangenehm beengt. Nun bin ich frei und kann andere an meiner Freude teilhaben lassen.

Ich schwirre durch die Luft, in der Hoffnung auf Freundschaft.
Ich rufe und als Antwort flattert ein Schmetterling herbei. Die Hälfte des Weges hinter sich, macht er aber leider wieder kehrt. Ich rufe erneut, er solle doch bleiben, aber er ist schon verschwunden.
Vielleicht sollte ich mal in eine andere Richtung wehen.
Mir begegnen eine Maus, ein paar Vögel, Bienen. Menschen laufen ebenfalls an mir vorbei. Aber keiner erwidert meine Rufe. Alle gehen sie an mir vorbei.

Eine Zeit lang schwebe ich traurig vor Einsamkeit nur so umher. Bis eine Fliege herbeisummt. Sie kreist einige Male um mich herum und verschwindet wieder.

Das war’s. Ich gebe auf! Ich bin ganz allein auf dieser Welt.

Die Stunden vergehen, kaum einer ist mehr gekommen und keiner geblieben. Nur der Wind zerrt an mir. Wirft mich hin und her. Aber das ist mir inzwischen egal.

„Will denn niemand mein Freund sein? Was stimmt mit mir nicht? Was habe ich falsch gemacht? Wenn keiner mein Freund sein will, dann kann ich mich genauso gut auch verduften“, sage ich schluchzend vor mich hin und fange an unaufhörlich zu weinen.

„Hey, was ist passiert? Vorhin sahst du noch nicht so betrübt aus.“ Ich erschrecke und drehe mich zu der Stelle um, von der die Stimme kam. Da saß eine kleine Fliege auf einem Grashalm und wippte auf und ab.
„Du bist es. Ich dachte nicht, dass du wieder zurückkehrst. Alle anderen sind auch weggegangen. Keiner wollte bleiben und mein Freund sein“, ich schaue betrübt und beschämt zu Boden.
„Wie du siehst, ich bin wieder hier. Ich musste nur ein paar Verwandten bescheid geben und Freunden und Arbeitskollegen und die wiederum deren Freunden und Verwandten. Das hat etwas gedauert.“
„Wie viele Freunde und Verwandte hast du denn?“, frage ich leicht schüchtern.
„Ach, so an die mehrere Tausend“, meint er und springt dabei vor Freude auf dem Grashalm herum. „Ich bin übrigens Karl.“
„Ich heiße Lucas“, erwidere ich erfreut und meinen Kummer allmählich hinter mir lassend.
„Freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen Lucas. Du kannst sie übrigens jetzt bereits am Horizont sehen. Sie freuen sich schon darauf dich kennenzulernen.“

Für einen besseren Rundumblick strecke ich mich so hoch ich kann. Und da sind sie! Ein ganzer Schwarm Fliegen, so wie Karl sagte.

Ich lasse mich überwältigt und glücklich in mein Häufchen zurückfallen und kann es kaum erwarten…

Neuwagengeruch

Es ist immer wieder begeisternd meine Wirkung auf allerlei Lebewesen zu beobachten. Menschen mögen mich in aller Regel und geben mir mit an. Gut, nicht mit mir direkt, das ist schon klar, aber mit meinem Habitat. Sie führen wirklich jedem den sie kennen ihren Neuwagen vor und genau dort lauere ich, zumindest bis es mir zu langweilig wird und ich mich verziehe. Oft versuchen sie mich mit Duftbäumchen oder derlei Spielereien wieder zurückzuholen, denn eigentlich vermissen sie mich. Nur mein neuester Besitzer hat wirklich keinen Spaß an mir. “Och nicht schon wieder”, höre ich ihn schimpfen. Oh doch, lache ich in mich hinein, ich habe erneut seinem Hund so sein Riechorgan verärgert, dass dieser prompt den niegelnagelneuen Kofferraum mit seinem Mageninhalt begossen hat. Nicht aus Bosheit, aber hallo ich hab auch einmal Feierabend. Jetzt viel Spaß mit der Urlaubsvertretung der Duft “Erbrochenes” wird mich sicher würdig vertreten.

Ich bin da

Sie öffnet den Reißverschluss ihrer Reisetasche und endlich bekomme auch ich wieder Luft und kann langsam herausströmen. Wie jeden Sonntagabend. Hier in der fremden Stadt. Ich habe mich an die Stunden im Düsteren gewöhnt und das Geruckel des Zuges macht mir auch nichts mehr aus.

Ich liebe den Moment, wenn Sie ihre Sachen aus der Reisetasche befreit und damit auch mich – den Geruch ihrer Kindheit, den Geruch von Heimat, zu Hause…

Sie steckt ihr Nase in ihren Lieblingspullover. Ich umspiele ihr Gesicht. Sie atmet tief ein und seufzt. Mittlerweile fließen keine Tränen mehr.

Ich bin da.

Darf ich mich vorstellen?

Ich bin weder fassbar noch kann man mich in Flaschen abfüllen.
Ein jeder erkennt mich sofort ,doch dufte ich für jeden anders.
Niemand kann meinen Geruch präzise in Worte fassen.
Entweder sehnt man sich nach mir oder hat sich an mich gewöhnt und vergessen.

Ich bin der Duft der Freiheit.

Es gibt Menschen die können mich riechen, nehmen meinen kalten, trockenen, reinen Duft wahr.
Für jeden dufte ich etwas anders. Eines haben aber alle gemeinsam. Ich wecke Erinnerungen an vergangene Tage in ihnen. Zu sehen wie die Augen der Menschen beginnen zu strahlen erfüllt mich mit heller Freude. Doch es gibt auch andere. Diese vertreten tatsächlich die Meinung, dass man mich nicht riechen kann. Dennoch bin ich da.

Ich schlängele mich durch Straßen und Gässchen. Kündige mich denen an, die mich wahrnehmen können. Vielen, ob Jung oder Alt, bringe ich Freude und Spaß. Manche nehmen mich einfach hin und für einige Menschen bin ich sogar ein Ärgernis. Für Letztere tut es mir leid, haben sie doch bestimmt als Kinder ihren Spaß mit mir gehabt. Der Ernst des Lebens ist ihnen vielleicht dazwischengekommen.

Gesprächsfetzten wehen zu mir herüber. „Mama, Mama! Kannst du ihn auch riechen? Bald ist es soweit.“ „Ja mein Schatz, du hast Recht. Jetzt rieche ich ihn auch.“

Mein Duft wird intensiver. Alle sollen sich auf meine Ankunft vorbereiten. Nur noch wenige Augenblicke, dann ist es soweit. Jedes Jahr aufs Neue und doch wird es mir nie langweilig. Meine Aufregung steigt ins Unermessliche. Jetzt… Genau jetzt… Es geht los! Der Himmel öffnet seine Schleusen. Die erste, mutige Schneeflocke wagt sich heraus und schon bald folgen ihr immer mehr. Kleine, perfekt geformte Eiskristalle beginnen leise auf die Erde zu fallen.

Für heute ist mein Werk getan, aber ich komme wieder. Versprochen.

Vanilla Kisses

Ich muss fast sechs Stunden darauf warten, bis sie endlich auf den Sprühkopf drückt. Umhüllt von einer Wolke aus Treibgas werde ich aus der elfenbeinfarbenen Metalldose katapultiert, hinein in den Umkleideraum. Um mich herum sehe ich Teenager-Mädchen, die sich gerade auf den Bänken umziehen. Ein paar von ihnen werfen meiner Besitzerin böse Blicke zu, doch unsere Nachbarin grinst und hält ihre Hand auf: »Kann ich auch mal?«
»Klar«
Ich komme mir vor wie ein Flaschengeist, der sein Zuhause verlässt, um Wünsche zu erfüllen. Ich vertreibe den Schweißgeruch von der Sportstunde und erfülle jeden Kubikmillimeter Luft mit meinem einzigartigen Vanillearoma. Meine Flasche wird weitergereicht und ich höre das Kichern, als eine andere Schülerin ihre Buffalo-Schuhe einsprüht.
»Mann, ey!«, ein anderes Mädchen, das gerade den Sitz ihres Tattoo-Chokers am Hals prüft, klappt plötzlich ihren Schminkspiegel zu und greift unwirsch nach meiner Flasche. Drohend wedelt sie mit ihr über dem Kopf. »Wenn ich dieses eklige Zeug noch einmal riechen muss, raste ich aus!«
Zu meinem Entsetzen gibt sie die Flasche allerdings nicht zurück, sondern lässt sie im großen Fach von ihrem Eastpak verschwinden. Wie es aussieht, werde ich sehr lange nicht mehr freigelassen werden. Ich genieße die letzten Momente, bis die Teenager die Umkleide verlassen und ich einsam spüre, wie meine Konzentration durch die Luftmoleküle auseinandergerissen wird.

Ich rette dich

Sie zu warnen, bevor es zu spät ist, war das Mindeste, was ich tun konnte.

Großzügig sprühte er seinen Oberkörper ein. Mit mir. Verschwenderisch, als würde ihm hier alles gehören. Süßlich schwer umhüllte ich seine finstere, von Hass erfüllte Seele. Meine hochwertigen Duftstoffe mit ihm vereinen zu müssen, widerte mich an.
Nervosität zeichnete sich in Schweißperlen auf seiner Stirn ab. Endlich würde er sich nehmen was ihm zusteht. Sie!

Auf diesen Moment hatte er lange hingearbeitet, alles penibel geplant. Er würde sie sich zurückholen, wenn nötig mit Gewalt.
Im dunkelsten Winkel ihres Apartments positionierte er sich und wartete auf ihr Kommen.

Ohne Zeit zu verlieren, breitete ich mich im ganzen Raum aus. Überall hin, hauptsache weg von seinem beißenden Körper. Würzig und schwer entfaltete ich mein Bukett. Bahnte mir einen Weg durchs Schlüsselloch und unter dem Türschlitz hinaus ins Treppenhaus.

Die kühle Luft im Hausflur erleichterte es mir, nicht so schnell zu verfliegen. Sie würde bald kommen. Wichtig war nur, konzentriert vor ihrer Tür auszuharren.
Selbst eine Schnupfennase müsste mich in dieser Intensität riechen. Hoffentlich.

Der Aufzug setzte sich in Bewegung, die Tür öffnete sich und sofort umhüllte ich sie mit kräftigen Aromen. Vor der Tür suchte sie nach ihrem Schlüssel. Mit der, ihr vertrauten Duftnote zog ich auf direktem Wege in ihre Nase.
Hochkonzentriert versuchte ich, ihre Schleimhäute zu reizen. Meine Art zu schreien „Bleib! Geh zurück!“
Ihr limbisches System schien zu verstehen. „Stopp!“, warnte sie ihre innere Stimme .
Kreidebleich war ihr schlagartig klar, dass hier was nicht stimmte. Ihr Lieblingsparfüm hatte
Sie in den letzten 48 Stunden nicht benutzt, da sie erst jetzt von der Geschäftsreise zurückkam. Wieso roch es also hier danach ?

Nur ein Mensch war dreist genug, sich an ihren Sachen zu vergreifen. Er ist gefährlich und unberechenbar. Selbst das Kontaktverbot schreckt diesen Mistkerl nicht ab.
Auf der Fußmatte zeichnete sich ein Schuhabdruck ab, der definitiv von einem Männerschuh stammte. Panik nahm ihr die Luft zum Atmen.
Leise wankte sie zum Aufzug zurück, drückte den Knopf, fuhr nach unten und wählte den Notruf.

In ihrem Haar hängend suchte ich mit ihr den Weg ins Freie. Endlich.

„Mhhm….!“, sagen Menschen,
wenn sie mich wahrnehmen,
schließen ihre Augen und schauen verzückt.

Sie strecken ihre Nasen ein wenig vor,
um mir näher zu sein.

Meine leichte Note von Holz,
dazu der Duft der Zeit,
und unmerklich, ein Hauch von Schweiß.

Ich vergehe, aber langsam,
ganz frisch, bin ich stark und kräftig.

Mit der Zeit, Jahr um Jahr,
werde ich angenehm milder.

Die Menschen lieben es,
in Regale zu greifen und zu blättern,
um meinen Duft zu entfalten.

Mein Name ist Buch.

Ich sitze auf der Welle und gleite dahin. Meine Windfinger spreizen sich und lassen etwas Gischt in den Himmel hüpfen. Von Weitem klingt Kinderlachen, wie ich es seit Jahren nicht vernommen habe. Ich springe auf und mache einen Salto, dann schwebe ich auf Gischtflügeln zum Strand. Da hocken sie im Sand, bewerfen sich mit einem Ball. Ich setze mich in ihre Haare auf dem Kopf und in der Nase. Sie atmen mich ein, ja, so werden Erinnerungen geschaffen! Vor Aufregung kann ich nicht stillhalten, so lange hat mich niemand mehr besucht, so lange war ich allein mit den Wellen und den Fischen. Ich schütte etwas Sehnsucht über sie, die sie finden werden, wenn sie wieder zu Hause sind, denn hierbleiben werden sie wohl nicht. Aber sie werden an mich denken, wenn sie ihre T-Shirts aus den Koffern holen und mich riechen. Eine Weile spiele ich mit den Kindern, lasse sie in mir baden wie in dem paradiesisch blauen Meer.
Da höre ich eine andere Stimme. Die Kinder spitzen die Ohren, dann laufen sie darauf zu. Sie kommt mir bekannt vor, vertraut schon fast, ein Gast aus früheren Tagen. Ich folge den Kindern, hefte mich an ihre Fersen und verstecke mich in ihren Schuhen.
Und da ist sie, ich erkenne sie, obwohl sie älter ist. Es ist Rosanne, meine alte Freundin Rosanne. Ich merke, dass es ihre Kinder sind, die sie in die Arme schließt und ich hülle sie alle ein, denn ich freue mich so darüber, sie wiederzusehen. Ich schmiege mich in ihre Haare, liebkose ihre Wangen, wie ich es schon tat, als sie noch ein Kind war und in die Arme ihrer Mutter eilte. Auch sie erkennt mich, ich spüre es genau. Sie hebt den Blick und schaut aufs Meer und atmet – und ich dringe in sie ein – ein – ein … ich bin der Duft ihrer Sehnsucht, mich hat sie nie vergessen, auch wenn sie sich erst jetzt wieder an mich erinnert. Ich bin wieder da und ich glaube, ich werde sie noch lange begleiten. Ich bin ihre Kindheit an der See, ich bin der Duft nach Meer.

Duft der Erinnerung

Ich umwehe Dich sanft und spielerisch, bin körperlos und unsichtbar. Ich bin der Duft der Erinnerung. Unterschätze mich niemals: Ich bin es, der Macht über Dich hat, über Deine Gefühle, Deine Lüste, Deine Ängste, Deine Sehnsüchte.

Hilflos bist Du mir ausgeliefert. Wenn ich aus einem Küchenfenster verlockend als herzhaft-würziger Duft eines Sonntagsbratens ströme - wird Dir dann der Mund genießerisch feucht? Nimmst Du gedanklich einen Bissen vom saftigen, zarten Fleisch, erspürt Deine Zunge die herrliche Kräuternote? Oder gehst Du ärgerlich und missgestimmt schnell am Duftfenster vorbei? Ich kann Dir begegnen als Erinnerung an die leckeren Festtagsgerichte Deiner Kindheit, wenn Deine Mutter die köstliche Bratensoße gerührt hat. Und ich kann Deine Trauer sein über die Entbehrungen düsterer und hungriger Jugendjahre.

Erkennst Du mich, wenn ich muffig-modrig oder herb und wild an Dir vorbeiziehe? Erkennst Du mich in all meinen feinen Schattierungen und Nuancen? Nimm Dir Zeit, mich genau zu erforschen. Denn nicht immer spielt das Leben Dir seltsame Streiche - manchmal bin ich es, der den Zauberstab der Gefühle schwingt. Dein Duft der Erinnerung.

Berry Kiss

Berry Kiss klingt billig haben sie gesagt, als ich zu ihnen ins Regal gestellt wurde. Allen voran der Flacon mit der Rose auf dem Etikett. Seit dem behandeln sie mich wie Luft. Als eine junge Frau vor dem Regal erscheint, drängeln sich alle nach vorn. Schließlich wollen alle ihren Duft verströmen. Die Frau sprüht verschiede Düfte auf kleine Kärtchen, aber nichts sagt ihr zu.
Die Rose ist beleidigt, als sie wieder ins Regal wandert. Ich bin ganz aufgeregt, als die Frau nach mir greift. Hoffentlich sage ich ihr zu. Sie sprüht mich auf ihr Handgelenk und mein beeriger Geruch erfüllt die Luft. Meine Freude ist groß, als die Frau mich lächelnd in den Einkaufwagen legt.

Küchenglück

Wie lange schon hatte er den Korken auf dem Glas mit der wundersamen Gewürzmischung nicht geöffnet?

Zum Glück ist Kork nie ganz dicht, sodass ihre Spuren die Umgebung ein wenig anreicherten. „Immerhin“, dachte sie, „so bekomme ich ein vages Bild von seinem Leben.“

Früher hatte er an jedem Samstag gekocht, für sich und für seine Liebste. Die roch ausgesprochen gut. „Na ja, für einen Menschen“, lächelte sie, „kein Vergleich zu meiner eigenen Komposition mit der Wärme der Koriandersaat im Vordergrund, dem stimulierenden Kardamom, dem erfüllenden Duft erstklassigen Timur-Pfeffers und etlichem anderen“.

Wie gerne hatte er gekocht! Mit welcher Begeisterung hatte er die Zutaten fein gemörsert und das Glas wieder und wieder aufgefüllt.

„Was war passiert? Aß er nichts mehr? War er krank? Welch ein Jammer!“

Erst spät begriff sie: Der Duft der Liebsten fehlte; er schien unglücklich zu sein.

„Wie ich auch“, dachte sie, „Gewürze sollen Freude bereiten, sollen wärmen und anregen; keinesfalls sollten sie im Glas ihre Kraft verlieren.“

Etwas musste geschehen, doch was nur? Als verkorkte Gewürzkomposition hatte man nur wenig Möglichkeiten. Eines Tages spürte sie ihre Chance. Es mochte um Allerheiligen gewesen sein, als eine angenehm nach der herben Note von Rosmarin und Sandelholz duftende Frau zu Besuch kam. Sie schien sich um ihn zu sorgen und prüfte seine Vorräte auf Brauchbarkeit und Alter.

„Jetzt!“, dachte sie. „Meine Chance“!, jauchzte sie, und mit Verve ließ sie den Korken wegfliegen.

„Meine Güte“, strahlte die Besucherin, „welch ein Duft! Benutzen Sie das denn nie?“

„Doch“, stammelte er, „es ist lange her, doch ich könnte …“

„Endlich!“, der Korken hüpfte noch einmal vor Begeisterung, das Gewürzpulver schüttelte sich auf, und der Duft breitete sich über die Küche bis in die Seelen der beiden Menschen aus.

Es bestand Grund zu den schönsten Hoffnungen.