Zeitlupe: Ein interstellarer Einblick
Ich hatte eine Mission und genau 25 Mal 365 Erdumdrehungen Zeit.
Die ersten Tage waren eine Tortur. Die Langsamkeit der Menschen brachte mich beinahe zur Verzweiflung. Sie bewegten sich mit einer Geschwindigkeit, dass es für mich aussah, als würden sie sich in Zeitlupe bewegen.
Ich musste mir von meiner Hauptbasis, die ich auf dem Erdtrabanten eingerichtet hatte, besondere Nährstoffeinheiten entwickeln lassen, die meinen Metabolismus und meine Bewegungsgeschwindigkeit auf Menschenniveau absinken ließen, damit ich sie genau beobachten konnte, wie sie lebten und was sie taten. Ich konnte sie studieren. Immer nur für fünf Erdumdrehungen im Stück. Niemals länger, da ich dann eine Pause brauchte, denn durch den verlangsamten Metabolismus begann sich meine Körperzusammensetzung zu verändern. Ich bekam Beulen.
Man muss dazu sagen, dass unser, mein Körper fast durchsichtig war. Schmal, humanoid, aber eben durchsichtig. Und etwas größer, als die eines Menschen. Ich war mindestens einen Kopf größer als die meisten Menschen. Mit fluoreszierenden Organen, ähnlich denen der Menschen, aber mit einem fast durchsichtig erscheinendem Quecksilber-Aluminium-Konzentrat. Dafür hatten die Menschen Blut.
Ich entwarf einen Menschenanzug aus Silikon, den ich irgendwann, als ich ein paar menschliche Eigenheiten meinte verstanden zu haben, Silvio nannte. Die Menschen neigten allgemein dazu, Dingen Namen zu geben. Was ich faszinierend fand.
Mit Silvio war ich in der Lage, mich unauffällig unter die Menschen zu mischen, ihre Gewohnheiten zu studieren und lernen, ihre Kultur zu verstehen. Ich konnte nun ihre Bewegungen nachahmen, nach langer Übung, ihre Sprache sprechen und sogar ihre Nahrung essen, auch wenn ich die Konsistenz von Pizza und die klebrige Süße von Schokolade merkwürdig fand.
Sie kauten ihr Essen, anstatt es durch Osmose aufzunehmen. Sie fuhren in metallischen Kisten herum, anstatt sich von einem Ort zum anderen per Gedankenkraft zu teleportieren. Und sie verbrachten Stunden damit, auf rechteckigen, kleinen Leuchtkästen zu starren, die sie „Smartphones“ nannten. Ich war maximal verwirrt. Und das war nur ein kleiner Ausschnitt, der wirklich, wirklich merkwürdig war.
Meine Begegnung mit dem, was ich als meinen „perfekten“ Menschen bezeichnete, war ein Glücksfall. Eines Tages, während ich in meinem Menschenanzug durch einen Park schlenderte, traf ich eine junge Frau. Sie war eine Wissenschaftlerin, klug, neugierig und mit einem menschlichen Konzept, das mich oft in Verwirrung stürzte. Sie war fasziniert von meiner seltsamen Art zu sprechen und meiner ungewöhnlichen, aber charmanten Unkenntnis über menschliche Sitten. Ich weiß bis zum heutigen Tag nicht, ob sie mir glaubte, dass ich ein Außerirdischer war, aber sie spielte das „Spiel“ mit. Ihr Name war Lisa. Ich fühlte mich auf Anhieb von ihr angezogen.
Sie nahm mich mit auf eine Entdeckungsreise durch die menschliche Kultur, von der seltsamen Praxis des „Netflix and Chill“ bis zum chaotischen und ohrenbetäubenden Erlebnis eines Rockkonzerts.
Wir verbrachten Tage damit, über die Eigenheiten der menschlichen Natur zu sprechen. Ihre Vorliebe für Katzenvideos, ihre seltsame Obsession mit Kaffee und ihre Neigung, sich in kleinen, engen Räumen zu versammeln, die sie „Bars“ nannten, um seltsame Flüssigkeiten zu trinken und laute Musik zu hören.
„Warum trinken Menschen Alkohol?“, fragte ich Lisa eines Tages. Ihre Antwort war ein Lachen und die Erklärung, dass es ihnen half, sich zu entspannen und die Sorgen des Alltags zu vergessen.
„Und warum müssen sie ihre Nahrung kauen?“, fragte ich weiter, immer noch verwirrt über die Notwendigkeit dieser seltsamen Praxis. „Es ist ein Teil des Verdauungsprozesses“, erklärte sie geduldig, „und außerdem schmeckt es gut!“ Ich versuchte, das Konzept des Geschmacks zu verstehen, aber es entging mir immer noch.
Mein Quecksilber-Aluminium-Konzentrat benötigte keine solchen Prozesse. Es versorgte mich mit allem, was ich brauchte, in einer effizienten, reibungslosen Art und Weise. Ich war in der Lage, alle Nährstoffe aus der Erdatmosphäre zu ziehen und zu verwerten.
Die Jahre vergingen, und ich begann, die kleinen Freuden des menschlichen Lebens zu schätzen. Die Wärme der Sonne auf der Haut, das Gefühl des Regens, das Lachen, die Liebe und die Gemeinschaft. Die Menschen hatten eine Art, das Leben in all seinen Farben zu erleben, die mir neu und faszinierend erschien.
Als es Zeit war für mich zurückzukehren, verabschiedete ich mich herzlich von Lisa. Sie war mittlerweile verändert, die Menschen nennen das „Altern“. Etwas, was man bei uns „temporale Desintegration“ nennt, aber wesentlich mehr Zeit braucht, als bei den Menschen. Sie gab mir eine kleine Schachtel mit Erinnerungen - Fotos, eine kleine Erdschneekugel und eine DVD mit meiner Lieblings-TV-Show „The Office“. Ich lachte an Stellen, bei den Lisa mich fragend anschaute und mir mitteilte, dass da niemand lachen würde.
Als der Tag kam, sendete ich meinen Bericht an die Zentrale. Ich plädierte für die Menschheit, für ihre Stärken, ihre Möglichkeiten und die Tiefe ihrer Erfahrungen.
Lisa stand neben mir, als ich die Nachricht absendete. Ich schaute in ihre Augen und fand mich immer mehr in die menschliche Erfahrung verstrickt. Ich liebte mittlerweile das Gefühl des warmen Sonnenscheins auf meiner „Haut“, das Geräusch des Regens gegen das Fenster und das Lachen von Lisa, wenn ich versuchte, Witze zu erzählen, die ich aus einer menschlichen Humor-Datenbank heruntergeladen hatte. Doch trotz meiner neuen Erfahrungen und der Freundschaft mit Lisa, sehnte ich mich nach der eleganten Einfachheit und Geschwindigkeit meiner Heimat.
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge kehrte ich zu meinem Planeten zurück, jedoch mit einem Rucksack voller unvergesslicher Erlebnisse und einer neuen Wertschätzung für die merkwürdige, aber liebenswerte Langsamkeit des Lebens auf der Erde.
Trotz der reichen und warmen Erfahrungen, die ich mit den Menschen geteilt hatte, entschied sich die Zentrale für die Umsiedlung der Erdbewohner auf einen anderen Planeten. Ihr Planet, die Erde, wurde zu einem Rohstofflieferanten für uns.