Essen ist fertig
Bei meinem Freund Manfred hing ein Spielautomat im Kinderzimmer. Anfang der 70 er Jahre eine Sensation. Die Attraktion, vorrangig auffindbar in hinterfragungswürdigen Nischen der Wirtshäuser. Das Ausmaß: ein Meter in der Länge, einen halben breit und 30 Zentimeter tief. Wir erreichten auf Zehenspitzen den Geldeinwurf. An der Zimmertüre, dicke rote warnende Letter, eine Variation der in der Siedlung üblichen Beschilderung: Glücksspielverbot in öffentlichen Räumen. Auf diesen Unsinn legte sein Vater wert, erklärte mein Freund.
In Pyramidenform angeordnet rotierten zeitgleich drei Scheiben, bedruckt mit Symbolen und Zahlen. Unterhalb des Münzschlitzes ein Kippschalter, der stoppte. Ein begehrtes Ziel, auf Allen das gleiche Symbol wie zum Beispiel: Marienkäfer, Kirschen; oder Zahlen, 40/70/120/ 240, zu sehen. Die Ziffern entsprachen Pfennigen, die Bilder festgelegten Beträgen, meine Fixierung galt den Zahlen.
Ich bekam mit neun Jahren kein Taschengeld, es war schwierig, den geforderten Mindesteinsatz (40 Pfennig) zu organisieren. Manfred lernte mir, das Sparschwein der Volksbank mit einer Stricknadel zu öffnen. Ich erinnere mich an frustrierende Nachmittage, verspielte in dreißig Sekunden meine Barschaft, war pleite. An Erfolgreicheren fielen mit einem unvergessenen, Begeisterung auslösenden Geräusch, Münzen in die Plastikschale. Um weiter zu spielen, mussten drei Scheiben auf 40 stoppen, damit der Mindesteinsatz wieder zur Verfügung stand.
Ich hatte schon beim Betreten des Zimmers ein gutes Gefühl, die Vorahnung einer Glückssträhne. Schnell bekam ich meine 40 Pfennige zurück, die Serie wiederholte sich. Manfred beneidete den Erfolg. Es galt die Vereinbarung, bei Gewinn durfte weitergespielt werden. Die Scheiben stoppten auf 240. Der erste Gedanke, das Bare sofort in der Bäckerei für Süßigkeiten umzusetzen gefiel ihm nicht. Die nächste Runde reduzierte meinen Besitz auf zwei Mark. Die ausgelöste Euphorie führte zum Verlust des Zeitgefühls.
Es läutete, uns fuhr der Schrecken in die Glieder, der Papa. Unheilvolles ahnend schlich Manfred zum Öffnen. Ich spähte im Türrahmen stehend aus dem Zimmer, spürte die Bedrohlichkeit, die sich in gleicher Sekunde bestätigte. Der Vater polterte, ihm wurde nicht schnell genug geöffnet. Als er mich sah, entlud sich die Wut, sein Hass.
Er schlug ihm die Aktentasche, darin die Tupperbox, die Wurstbrote schmierte seine Frau täglich, links und rechts in Gesicht. Das war sein Einstieg, das Vorspiel. Es folgte ein schier unerträglich mit anzusehendes Verprügeln, eine Mischung aus Ohrfeigen und Faustschlägen, dabei traktierte er ihn bis zum Ende des Flurs. Ängstlich schlich ich mich in entgegengesetzter Richtung zur Haustüre. Auf gleicher Höhe mit Täter und Opfer sah ich deren Gesichter aus der Nähe. Der Vater hatte Entartetes und Vernichtendes im Antlitz, markerschütternde Schreie begleitete seine Hiebe. Anfangs brüllte Manfred noch, um seiner Not Ausdruck zu verleihen, dann verstummte er. Ich spürte, er kannte dieses Szenario. Das Gemetzel fand im „ Glücksspielzimmer“, an der Wurzel des Übels statt. Ich schäme mich bis heute, nicht geholfen zu haben, zu intervenieren und deeskalieren, ich flüchtete. An der Haustüre begegnete mir die Mutter mit dem Einkaufskorb. Sie erfasste die Situation blitzschnell. Ich verstand ihr stummes Kopfnicken, sie hielt die Klinke zum Kinderzimmer in der Hand, wartete, bis ich die Wohnung verließ. Es folgte das wiederholte Meisterstück erfolgreicher Deeskalation.
Retrospektiv ein Wunder, welch Brutalität ein Kinderkörper aushält. Vor allem die Schläge ins Gesicht, Manfred hatte großes Glück, von Frakturen abgesehen, keine Gehirnblutung davon zu tragen. Ungeahnt die Auswirkungen auf die Seele.
Meine Mama begrüßte mich mit „ Essen ist fertig“, der Appetit war mir vergangen.