Hallo,
hier noch schnell mein Beitrag. Natürlich auf den letzten Drücker, man muss sich selbst doch treu bleiben. Da in einem Rutsch geschrieben, noch ungeschliffen und roh.
Bienenstichschnorrer
„Tschüss, Struppi, ich muss in die Schule!“
Mit einer Umarmung verabschiedete ich mich vom wichtigsten Familienmitglied, dessen wuscheliges Fell herrlich nach Hund roch. Mit wedelndem Schwanz begleitete er mich zur Wohnungstür, wo er mit hängendem Kopf stehen blieb. Schlau, wie er war, wusste er genau, dass er mich nicht begleiten konnte. Ich winkte ihm also noch einmal zu und hopste dann die dunkle Holztreppe hinunter. An den Kehren hakte ich mich mit meiner kleinen Hand in die Streben des Geländers und beschrieb einen schwungvollen Halbkreis, bevor die nächsten Stufen kamen. Die Treppe nur einfach runtergehen? Viel zu langweilig. Zu meinen beliebtesten Disziplinen gehörten auch auf dem Hosenboden die Stufen oder auf dem Geländer hinunterrutschen oder in Gegenrichtung auch hinaufhangeln.
Nach drei Stockwerken war ich unten angekommen.
Heute war ich etwas früher aufgebrochen, und das wollte schon etwas heißen. Denn im Zuspätkommen und etwas auf den letzten Drücker erledigen, war ich Weltmeisterin. Doch der kleine runde Gegenstand in meiner Hosentasche hatte mich angespornt, dieses Mal etwas zeitiger loszugehen. Ich lief durch unseren kleinen Hinterhof zur Vorderseite des Hauses, wo ein schwarzes Gittertor die Grenze des Grundstücks markierte. Fast alle anderen Häuser in unserem Viertel waren genauso aufgebaut. Die Hauswand am Gehweg entlang und an einer der beiden Seiten ein Tor zum Hof. So wirkten die Straßen wie Schluchten, die sich im Sommer aufheizten und im Winter Kanäle bildeten, durch die der kalte Wind pfiff. Trotzdem mochte ich unsere Gegend, Wertachviertel genannt, weil sich parallel zu unserer Straße der namensgebende Fluss befand, wo es sich herrlich spielen ließ. Auch die Häuser gefielen mir. Sie stammten aus der Zeit der Industrialisierung, kaum eines war später als 1900 gebaut worden. Das wusste ich damals natürlich noch nicht, ich liebte es einfach an den Gebäuden entlangzuschlendern und die verschiedenen Fassaden zu betrachten. Heute allerdings ließ ich mir nicht so viel Zeit, schließlich hatte ich vor der Schule noch etwas zu erledigen.
Unser Haus stand an der Ecke zur nächsten Straße und meistens schlug ich diesen Weg am Morgen ein. Heute aber ging ich die Schöpplerstraße entlang bis zum Aubele, einem kleinen Krämerladen, der um diese Zeit noch geschlossen war. Hier konnte man nach links zum Plärrersteg abbiegen, der über die Wertach führte und, wie der Name schon sagte, zweimal im Jahr zum beliebten Volksfest von Augsburg führte. Ich aber musste nach rechts abbiegen, wo am Ende der Straße unsere Schule lag. Vorher jedoch gab es mehrere Klippen der Versuchung zu umschiffen. Drei Stationen gab es hier, wohin, zum Leidwesen der Eltern, viel zu oft unser Taschengeld floss, statt mit einem wehmütigen Scheppern im Bauch des roten Sparschweins zu verschwinden. Mein Schweinchen gab sowieso nur ein müdes Klappern von sich, war sein Vorgänger doch eben erst geschlachtet worden, um von der Dame in der Sparkasse gezählt und in Rollen verpackt zu werden. Die Summe wurde dann ins Sparbuch geschrieben, unerreichbar und schwer greifbar für ein Kind. Da waren mir die zwei Fünzigpfennigstücke, die ich von meinem Opa bekommen hatte schon lieber. Leider musste ich eins von beiden unter den strengen Augen meiner Mutter in den Schlitz am Rücken der Spardose stecken. Das andere durfte ich behalten, zusammen mit dem Ratschlag, nicht alles auf einmal auszugeben. Doch genau das hatte ich vor! Es war mir nur schon immer schwer gefallen, mich zu entscheiden und genau das war auch heute mein Problem. Die fünfzig Pfennig wollten wohl überlegt, mit möglichst großem Lustgewinn ausgegeben werden. Das bedeutete ein genaues Abwägen der Möglichkeiten.
Der erste Blick, wenn man nun einbog, fiel auf die Bäckerei Häusler. Er machte oft das Rennen, einfach, weil die Verkäuferin nett war und beim Abzählen der Pfenniggutzle gerne mal zwei, drei mehr in die Tüte packte. Sie verstand etwas von Kundenbindung. Ich drehte das Geldstück in meiner Hosentasche hin und her. Sollte ich mir hier den Schoko-Schaum-Traum gequetscht in eine knusprige Semmel gönnen? Das Wasser lief mir im Mund zusammen. Ich konnte regelrecht fühlen, wie die Schokohaut auf meiner Zunge zersplitterte, der Zuckerschaum aus dem gebackenen Drumherum quoll und die Zähne sich letztendlich in die kleine runde Waffel bohrten. Es gab nichts besseres für 35 Pfennig. Außerdem hieß das noch entweder fünf weiße Mäuse oder mindestens 25 kleine runde Bonbons in allen Farben, die man wunderbar mit Freunden teilen konnte. Noch während ich überlegte, kamen vier Schüler aus der fünften oder sechsten Klasse um die Ecke und gingen die Stufen zum Eingang hinauf. Damit hatte sich die Sache erledigt. Sie brauchten sie wahrscheinlich ewig, bis sie fertig waren und ich wusste nicht genau, wie spät es war. Uhren und Uhrzeiten waren so nicht meine Sache. Meistens richtete ich mich nach meinen Freunden, der Sonne oder der Wertach. Letzteres war ganz einfach. Wenn der Fluss am späten Nachmittag langsam anstieg, wussten wir, dass es Zeit war nach Hause zu gehen. Dann nämlich leiteten die Fabriken flussaufwärts das Wasser aus ihren Kanälen, wieder zurück in die Wertach und wir liefen so schnell wir konnten zum Abendessen.
Der Bäcker war also gestrichen. Ich lenkte deshalb meinen Schritt zur anderen Straßenseite, wo eine Glastür in einen winzigen Kiosk führte. Neben Zigaretten, Zeitschriften und anderem Erwachsenenkram, gab es da einiges zu entdecken. Schokoladenriegel, Kaugummi mit Klebebildchen, Styroporflugzeuge zum Zusammenstecken, Biene-Maja-Sticker und Esspapier, fünf Pfennig das Stück. Es gab nur ein Problem! Wie sollte ich mich in der kurzen Zeit entscheiden. Ein Schokoriegel, vier Esspapier und ein Kaugummi? Oder lieber ein Päckchen Sticker und zwei Esspapier oder vielleicht lieber ein Kaugummi dazu? Ihr seht, das hätte dazu geführt, dass ich auf jeden Fall zu spät gekommen wäre!
Ich fasste also einen Entschluss. Es sollte heute etwas Besonderes sein. All mein Geld würde dabei auf einmal draufgehen, aber das war es wert. Ich ging am Kiosk vorbei und hielt an der nächsten Seitenstraße an. Sie trennte das südliche vom nördlichen Wertachviertel und war so etwas wie die Grenze zu meinem Revier. Ich überschritt sie nur, wenn ich zur Schule ging, ansonsten war es fremdes Terrain. Die Schißlerstraße war die „gefährliche“ Straße auf meinem Schulweg, das hieß, es fuhren dort ein paar mehr Autos, weil sie unter der Bahnlinie hindurch ins Nachbarstadtviertel führte. Ich hielt also brav an, sah nach links und rechts und als sich kein Fahrzeug blicken ließ, startet ich durch und hielt erst wieder an der Pestalozzistraße an. So hatte ich ein bisschen Zeit gutgemacht. Hier lag nun unsere gleichnamige Schule, doch meine Schritte führten mich zuerst zur anderen Straßenseite. Dort endlich sollte mein Geldstück eine neue Heimat finden.
Es kostete mich schon einige Überwindung, die Tür zu dem kleinen Lädchen aufzustoßen und hineinzugehen. Es war eine kleine Bäckerei, nicht so groß und hell wie der Häusler und die Frau hinter dem Tresen nicht so freundlich lächelnd. Im Gegenteil, die Dame mit den grauen Haaren und der Brille machte mir ein wenig Angst. Sicher hatte sie Röntgenaugen wie Superman, mit denen sie feststellte, ob man auch genügend Geld dabei hatte, um die Leckereien zu erstehen, die sie, ausgestellt hinter Glas, anbot. Doch jetzt konnte mich nichts mehr von meinem Entschluss abbringen.
„Ja?“ Die Stimme klang auffordernd und ein wenig ungeduldig.
Hatte ich zu lange gezögert? Ich wollte die Herrin der Backwaren nicht verärgern.
„Ein Stück Bnensch“, sagte ich. Neben meiner Nervosität, verhinderte auch meine neue Zahnlücke eine deutliche Aussprache.
„Was willst du? Sprich deutlich, junge Dame!“
Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde und konnte mir vorstellen, welche Farbe es annahm. Ich holte tief Luft und versuchte es noch einmal.
„Ein Stück Bienenstich, bitte!“
„Na, geht doch.“
Die Dame tauchte hinter den Glaskasten und öffnete ihn auf ihrer Seite. Von der meinigen konnte ich beobachten, wie sie das Objekt meiner Begierde drehte, um mit einem Tortenheber ein Stück davon zu einem Pappteller zu transportieren. Während sie kunstvoll Papier darum schlang, lugte ich nach draußen, um zu sehen, wer schon alles durch das große Tor in den Schulhof ging. Aha, Heike war zu sehen, das bedeutete, mir blieb noch Zeit einen Bissen zu nehmen, bevor die Glocke läutete. Sie war immer sehr pünktlich und ein perfekter Zeitanzeiger für mich.
Als ich mich wieder umdrehte, sah ich, wie die Frau das verpackte Gebäckstück in der Hand hielt und auf etwas wartete. Ich streckte erwartungsvoll die Hand aus, doch das führte dazu, dass sie ihre zurückzog.
„Das macht 50 Pfennig. Du hast doch Geld dabei, oder?“
Wieder wurde ich rot wie eine Tomate. Ich nickte nur, denn Worte wären jetzt bestimmt nicht aus meinem Mund gekommen, zog das Geld aus meiner Hosentasche und schob es mit einem kratzenden Geräusch über den Glaskasten. Dafür überreichte sie mir das raschelnde Päckchen. Mit einer genuschelten Verabschiedung floh ich so schnell wie möglich aus der Höhle des Backdrachens. Schnell überquerte ich die Straße und reihte mich ein in die Massen der hineinströmenden Schüler. Endlich war da auch die große Schuluhr, die mir überraschenderweise zeigte, dass ich noch acht Minuten bis zum Klingeln hatte. Genügend Zeit, um mich über meinen Schatz herzumachen. Ich suchte mir also eine ruhige Ecke und wickelte die süße Versuchung aus der Umhüllung. Trotz der gebotenen Eile, nahm ich mir einen Moment Zeit, um das für mich perfekte Gebäck zu betrachten. Der Bienenstich, bestand aus einem Boden und Deckel aus fluffigem Teig, mit einer köstlichen Sahnecreme dazwischen. Oben drauf war dick Puderzucker gestreut, der einem in die Kehle drang, wenn man so unvorsichtig war, einzuatmen, wenn man hineinbiss. Er war ein wenig gequetscht worden, weshalb an einer Seite Sahne herausquoll. Ich strich mit dem Finger dort entlang und beförderte ihn mitsamt anhängender Köstlichkeit in den Mund. Ich schloss die Augen, und gab mich ganz dem Genuss hin. Jetzt wollte ich mehr. Ich nahm den Bienenstich vorsichtig von seinem Papptablett und wollte gerade in das spitze Ende beißen, als mich jemand von hinten antippte.
„Hallo Sylvia, kann ich was abhaben?“
Er hatte mich gefunden. Theo, der immer wusste, wo es etwas abzustauben gab. Ich drehte mich um, doch das hätte ich nicht tun sollen. Mit großen bettelnden Augen sah er mich an.
„Bitte“, sagte er. „Der ist so lecker und ich trau mich da nicht rein.“
Was soll ich sagen? Ich konnte einfach nicht anders. Seufzend machte ich ein großes Stück vom Rand ab und reichte es dem passionierten Schnorrer. Und so saßen wir an der Seitentreppe und mampften zusammen unseren Bienenstich, bis uns die Schulglocke hineintrieb.
„Das nächste Mal zahl ich“, rief Theo noch und ich nickte, obwohl ich aus leidvoller Erfahrung wusste, dass das nie passieren würde.
Eines Tages hatte die kleine Bäckerei geschlossen und machte nie mehr auf. Ich suchte immer wieder nach einem vergleichbaren Bienenstich, fand aber immer nur süße Mandelkruste statt Puderzucker, was mich lange Zeit sehr traurig machte.
Aber ich habe was anderes gefunden, nämlich den Bienenstichschnorrer. Er ist jetzt Manager in einem Hotel. Was meint ihr, soll ich ihn mal heimsuchen und nach meinem versprochenen Bienenstich fragen?