Hück kocht Oma
Lässig mit dem Unterhebelrepetierer die Waffe nachzuladen, um dann eine Münze in der Luft zu durchlöchern – das war mein Traum, als ich gerade mal zehn Jahre alt war.
Ich war entschlossen, Cowboy zu werden und zu schießen wie im Film, in dem James Stewart in Dodge City den Schießwettbewerb gewann. Deshalb wünschte ich mir zu Weihnachten eine Winchester 73. Leider lag dieses heiß ersehnte Geschenk weder zu jenem, noch zu späteren Anlässen unter dem Weihnachtsbaum, obwohl ich die Hoffnung nicht aufgab.
Wie in jedem Jahr ließ sich Vater Zeit mit dem Kauf des Tannenbaums. Am Morgen des Weihnachtstages zog er um die Mittagszeit los und ergatterte für einen Spottpreis unten im Dorf einen der letzten krummen Exemplare, einen Ladenhüter, der sicher selbst nicht mehr von ›Snoopy‹ oder den ›Peanuts‹ zum Fest ausgesucht wurde.
Papa kam nach seinem Schnäppchen nicht sofort heim. In der Dorfkneipe traf er seine Freunde, die es ebenfalls an diesem Mittag nicht in die heimischen Wände zog und stieß mit ihnen auf seinen günstigen Kauf an.
Zu Hause liefen die Vorbereitungen zum Fest derweil auf Hochtouren.
Nach der Bescherung, um sechs Uhr abends, gab es bisher immer gegrilltes Hähnchen aus Mutters Elektroherd. Den hatte sie zu ihrem Einzug in das schwiegerelterliche Haus geschenkt bekommen. Mit stolzgeschwellter Brust balancierte sie dann die Platte mit den drei Grillhähnchen zum Esstisch. Die krosse Haut, die sie mit der Grillfunktion zauberte, war unvergleichlich. Selbst ich bekam sogar einen halben Flattermann ab. Ohne diese Köstlichkeit war Weihnachten für mich unvorstellbar.
Dazu gab es Spargel aus dem Glas und weiße Soße. Unsere Kartoffeln aus dem Keller und eigenem Anbau wurden in dieser Tunke herrlich ertränkt und zermatscht. Ich hatte keine Ahnung, dass der neue Spargel nur im Frühling geerntet wurde. Für mich waren ausschließlich die biegsamen, zuckersüßen weißen Stangen im Glas frisch. Das Größte war es, eines der zarten und wachsweichen Spargelspitzen zu ergattern. Da brauchte man nicht zu kauen, die drückte ich nur gegen den Gaumen und der süßliche Geschmack breitete sich im Mund aus. Hinterher strullte (1) man so lustig stinkiges Spargelpiesel, das nur nach diesem Gemüse so roch.
Deshalb trank ich immer das übrig gebliebene Spargelwasser, was nicht für die Soße benötigt wurde. Aber egal welche Menge ich davon in mich hineinkippte, der Geruch hielt nur einen Tag lang an.
Papa verlangte dieses Jahr zum Heiligen Abend mal was anderes als Hähnchen. Würstchen mit Kartoffelsalat waren keine Option. Kotelett mit Schlönz, einem durchgeweichten grünen Salat mit Dosenmilch angemacht, hatten wir einmal die Woche auf dem Speiseplan. Am Wochenende gab es duftenden Schmorbraten und manchmal sogar Sauerbraten mit Klößen, die aus rohen Kartoffeln hergestellt waren. Dazu gab es zum Nachtisch die unvermeidlichen, eingemachten Pflaumen. Wir hatten fünf Pflaumenbäume im Garten, deren Ernte alljährlich in große Gläser landeten, die sich bis zum heutigen Tag im Keller wiederfinden. Für mich ist es ein Rätsel, wieso dieses Obst im Supermarkt so lecker frisch und knackig aussieht und unsere Eingekochten blassgrau und wie ausgelutscht im Glas umher schwammen. Die Erinnerung an diese Unmengen von Kernobst ist so traumatisch, dass ich bis heute keinen Pflaumenkuchen mehr esse.
Wie schon bemerkt, war es in diesem Jahr anders. Oma bot Wochen vorher an, Kaninchen zuzubereiten. Bis zum damaligen Zeitpunkt hatte ich so etwas noch nie gegessen. Weihnachten ohne Hähnchen? Unvorstellbar. Oma und Kaninchenbraten? Das konnte nicht gut gehen und wie würde das schmecken? Bisher hatte Oma auch noch nie zu Heiligabend gekocht.
Aber Papa setzte sich durch. »De Mam mäht Kning, su wie fröher. (2)«
Mutter war beleidigt und sollte sich diesmal um den Nachtisch kümmern. Da sie deshalb verärgert war, gab es sicher Quark mit Kakaopulver. Das war idiotensicher, sah vortrefflich aus und – schmeckte mir nicht. Außerdem wartete sie schon seit Stunden auf Papa. Dann war ihre Laune ohnehin auf dem Nullpunkt. Um ihr aus dem Weg zu gehen, stieg ich die steile, schmale Treppe hinunter in die Wohnung der Großeltern. Opa stand hinten im Schlafzimmer und rauchte. Trotz der niedrigen, winterlichen Temperaturen hatte er dazu das Fenster geöffnet, lehnte mit den Ellenbogen auf dem Sofakissen, auf dem Fensterbrett und blies die Qualmwolken in den Hof.
In der Küche durfte er nicht rauchen, dort war Oma mit den Vorbereitungen für den Kaninchenbraten beschäftigt. Sie hatte damals noch ihren alten gusseisernen Ofen, der nach dem Kochen mit Schmirgelpapier und Grafitpaste gereinigt und poliert werden musste. Sie hatte einen großen schwarzen Kessel mit einem Emailiedeckel auf dem Herd stehen. Den kannte ich. Massig und bedrohlich stand er im Regal hinter der Kellertür. Ich hatte mich schon oft gefragt, was da drin war, aber das Regal war zu hoch, um hineinzuschauen.
»Wat machst du mit dem großen Topf?«
»Do küt dat Kning erinn. (3)«
Der Topf sah alt und schmutzig aus, da konnte man doch nichts drin kochen. Oma erriet vermutlich meine Gedanken und erklärte es mir.
»Dat han ich domols, wo ich in Stellung wor, jeliert. Nur im Iserpott jeit dat. Der han ich vun de Herrschaft jeschenk jekräje, wie ich dinge Jroßvatter jehierot han. Et jit nix besseres wie ne iesere Pott für e jot Kning. (4)«
Oma putzte das Gemüse auf dem Küchentisch. Eine offene Flasche Rotwein stand daneben. Merkwürdig. Ich hatte Oma nie Wein zu dieser Tageszeit trinken sehen. Aber es war ja Weihnachten. Dann machten das die Erwachsenen vermutlich so.
Sie rieb die Schale von den Karotten mit dem Messer ab, schälte Kartoffeln, Sellerie und die Zwiebeln. Die Kartoffeln warf sie in einen anderen Topf mit Wasser, ein paar behielt sie davon übrig und schnitt sie in grobe Stücke, genau wie die Karotten und die Zwiebeln. Alles kam in eine Schüssel. Ich war sprachlos. Oma führte die Arbeiten routiniert und zügig aus. Bisher hatte ich sie nur beim Braten von Opas Kotelett gesehen.
Aber da war ja nichts weiter zu beachten, außer, dass sie auf die Katze aufpassen musste, die immer darauf lauerte, ein Fleischstück zu erjagen. Einmal hatte die es tatsächlich geschafft, Opas Kotelett vom Küchentisch zu klauen. Oma lief ihr schreiend und mit dem Kochlöffel schwingend bis in den Garten hinterher. An diesem Tag gab es abends für Opa Spiegelei auf Brot und Schinken.
Oma reinigte das Kaninchen im Spülstein und tupfte es mit einem sauberen Küchentuch trocken. Dann rieb sie den langen Körper mit Salz ein.
Sie warf ein großes Stück Fett in den Pott und ich sah zu, wie es langsam in der Hitze des Feuers schmolz. Behutsam legte sie daraufhin das Fleisch in den Topf und schob mich zur Seite. Es brutzelte und spritzte. Das nackte Mäulchen öffnete sich etwas mehr und die langen Schneidezähne bleckten aus dem Schädel heraus. Die Zunge war jetzt zu sehen. Fast schien es, als wollte das Tierchen noch was zum Abschied sagen. Mit einer großen Gabel stach Oma in die Flanke und drehte den Körper herum, damit es überall anbriet, wie sie erklärte. Einige Zeit später füllte sich die Küche mit Dampf aus herrlichem Bratenduft.
Draußen rumpelte es. Papa kam nach Hause.
»Wo blievs du dann? (5)«, rief meine Mutter vorwurfsvoll von oben herunter.
Opa kam vom Schlafzimmer durch die Küche und öffnete die Tür zum Flur.
»Häs do ene Boum? De Chresboumständer han ich ad im Wunnzimmer. (6)«
Beide Männer verschwanden im Wohnzimmer und stellten dort den Weihnachtsbaum auf. Das war Männersache.
Mama kam die Treppe herunter und öffnete die Tür von der guten Stube.
»Nä, wie sieht der dann us? (7)«, war ihr entsetzter Kommentar.
Oma ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Jetz kütt dat Jemös erinn. (8)« Sie warf die Zwiebeln, Karotten-, Sellerie- und Kartoffelstücke in den Topf und rührte den Inhalt um. Aus der Rotweinflasche schüttete sie den halben Inhalt ebenfalls hinein und das laute Zischen und Spritzen wich einem leisen Blubbern. Jetzt legte sie den Deckel auf und rieb ihre Hände an der Schürze ab.
»Dä, dat wor alles. Jetz muss et nur noch wigger koche bis et jar is. (9)« Plötzlich stieß sie einen Schrei aus. »Nä, jetz han ich doch de Peffer verjesse. Uh wieh. (10)«
Oma öffnete den alten Küchenschrank und kam mit einem Gläschen mit grünen Perlchen zurück, die in einer wässrigen Flüssigkeit schwammen. Den Inhalt schüttete sie erst halb und dann nach einem prüfenden Blick in den Topf, vollständig hinein.
»Dat is jröne Peffer, dat schmeck jot! (11)«
Grüner Pfeffer - niemals vorher hatte ich von so was gehört, oder solche grünen Kügelchen gesehen. Pfeffer hatte ich bis dahin nur in schwarzgrauer Pulverform erlebt, den Papa immer auf die Mettbrötchen streute und das mich zum Niesen brachte.
Draußen wurde es hektisch, lautes Stimmengewirr zeigte an, dass was Furchtbares passiert sein musste. Mama kam zur Küche rein und hatte Tränen in den Augen. »Dr Boum is umjefalle. Dä Opa määt dä jetz mit ener Kood am Schrank fas. (12)« Sie schniefte und verschwand wieder. »Ens luure, ob do noch jet zo rette is. (13)«
Mama war immer für das Schmücken des Baumes zuständig. Auch das hässlichste Bäumchen bekam sie mit Geschick und Dekomaterial zu einem prächtigen Weihnachtsbaum herausgeputzt.
»Oma, wie lange muss das Kaninchen noch braten?«
»Noch lang. Dä ruude Kappes is fädisch un die Ääpel setz ich donoh op. (14)«
Oma blieb gelassen, saß an ihrem Küchentisch und las unbeirrt weiter in ihrem Arztroman. Eines hatte ich schon in meinen jungen Jahren gelernt; Weihnachten war immer eine Mischung aus Katastrophen, Schimpftiraden, Geschenken und anschließendem Essen. Das gehörte so.
Ich legte mich auf die Couch, die ebenfalls in der Küche stand. Dort machte Oma immer ihr Mittagsnickerchen.
Erschöpft schlief ich ein und träumte von meiner Winchester, mit der ich mit grünen Pfefferkörnern auf bunte Weihnachtskugeln schoss.
Mama schüttelte mich an den Schultern. Draußen war es dunkel geworden.
»Kumm, Bescherung, dat Chreskindche wor do.«
Ich rieb meine verklebten Augen und schaute zum Herd. Dort standen die Töpfe mit den Kartoffeln und dem Rotkohl. Oma rührte in einem weiteren Stieltopf die Soße an. Der große Topf mit dem Kaninchen drin, war vom Feuer gezogen und stand auf der Seite der Herdplatte.
Mama nahm mich an die Hand und ging feierlich mit mir ins Wohnzimmer hinein. Leuchtend empfing uns dort der glänzende Weihnachtsbaum. Das Lametta bewegte sich im Schein der Kerzen, die sich in silbernen Weihnachtskugeln spiegelten. Unter dem Baum lagen einige Pakete.
Ich suchte vergebens nach einer langen Verpackung, in der eine Winchester Platz gehabt hätte. Stattdessen bekam ich in diesem Jahr eine Carrera-Bahn geschenkt, über die ich mich natürlich auch freute. Papa schenkte der Mama glitzernde Ohrringe, Opa und Oma erhielten Handschuhe und Schals und die Eltern von den Großeltern einen Umschlag mit Geld.
Mama und Oma brachten nach der Bescherung das Essen ins Wohnzimmer. Nur zu Weihnachten und zum Geburtstag aß man in diesem Zimmer. Der Tisch bog sich fast von all den Schüsseln und Tellern. An Festtagen wurde von Omas bestem Geschirr gegessen. Alle Porzellanteile hatten goldene Ränder und sahen ausgesprochen festlich aus.
Zum Schluss kam Oma mit dem Kaninchen herein. Auf einer länglichen Platte lagen die Stücke von Rücken und Läufen um den Kopf herum drapiert.
Ein mehrstimmiges ›Ahhh‹ begleitete das eilige Umherschieben des Geschirrs, damit die Platte noch Platz in der Mitte des Tisches erhielt.
Ich bekam ein Stück vom Kaninchenrücken, Kartoffeln mit genügend Soße und Rotkohl. Das Fleisch schmeckte herrlich würzig, war saftig und zart. Es fiel fast vom Knochen ab.
Oma lächelte, sie schien mit sich zufrieden zu sein. An diesem Tag war sie für mich die beste Köchin der Welt.
»Dat is lecker, häs do jot jemat (15)«, lobte Papa seine Mutter.
Ich probierte die grünen Kügelchen. Die waren so scharf, dass mein Kopf fast platzte vor Husten.
Ich hatte schon wieder keine Winchester geschenkt bekommen. Aber egal, denn wenn ich später Cowboy werden würde, dann hätte ich genug Geld, mir selber eine zu kaufen …
Übersetzungen:
1
Strullen = urinieren
2
»De Mam mäht Kning, su wie fröher.« – Die Mama macht Kaninchen, so wie früher.
3
»Do küt dat Kning erinn.« – Dahinein kommt das Kaninchen.
4
»Dat han ich domols, wo ich in Stellung wor, jeliert. Nur im Iserpott jeit dat.
Der han ich vun de Herrschaft jeschenk jekräje, wie ich dinge Jroßvatter
jehierot han. Et jit nix besseres wie ne iesere Pott für e jot Kning.« –
Das habe ich damals, als ich in Stellung war, gelehrnt. Nur im Eisentopf
Geht das. Den habe ich von den Herrschaften geschenkt bekommen,
als ich deinen Großvater geheiratet habe. Es gibt nichts Besseres als
einen Eisentopf für ein gutes Kaninchen.
5
»Wo blievs du dann?« – Wo bleibst du denn?
6
»Häs do ene Boum? De Chresboumständer han ich ad im Wunnzimmer.« -
Hast du einen Baum? Den Christbaumständer habe ich schon im
Wohnzimmer.
7
»Nä, wie sieht der dann us?« – Nein, wie sieht der denn aus?
8
»Jetz kütt dat Jemös erinn.« – Jetzt kommt das Gemüse hinein.
9
»Dä, dat wor alles. Jetz muss et nur noch wigger koche bis et jar is.« –
So, das war alles. Jetzt muss es nur noch weiter kochen bis es gar ist.
10
»Nä, jetz han ich doch de Peffer verjesse. Uh wieh.« -
Nein, jetzt habe ich den Pfeffer vergessen. Oh weh.
11
»Dat is jröne Peffer, dat schmeck jot!« – Das ist grüner Pfeffer, das schmeckt gut!
12
»Dr Boum is umjefalle. Dä Opa määt dä jetz mit ener Kood am Schrank fas.« –
Der Baum ist umgefallen. Der Opa macht ihn jetzt mit einer Schnur/Kordel am Schrank fest.
13
»Ens luure, ob do noch jet zo rette is.« – Mal schauen, ob noch was zu Retten ist.
14
»Noch lang. Dä ruude Kappes is fädisch un die Ääpel setz ich donoh op.« –
Noch lange. Der Rotkohl ist fertig und die Kartoffeln setze ich danach auf.
15
»Dat is lecker, häs do jot jemat!« – Das ist lecker, hast du gut gemacht!