Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Rosenkohl mit gebratenem Schweinebauch

Sie hatten Mutter ins Krankenhaus gebracht. Der Weg war nicht weit, und sie schaffte es recht gut zu Fuß, diesmal sogar ohne die Schmerzattacken, die sie seit längerem in immer kürzeren Abständen quälten. Sechs Wochen würden die medizinischen Maßnahmen, vermutlich sogar eine größere Operation und die Heilung mindestens dauern, sagte die Ärztin.

Der Junge, sieben Jahre war er alt, verstand nicht recht. Wieso sah die Großmutter auf dem Rückweg so traurig aus? So schlimm kam ihm diese Angelegenheit gar nicht vor. Mutter war eine Weile nicht daheim. Na und? Wenn Großmutter es erlaubte, konnte er doch problemlos jeden Nachmittag ins Krankenhaus gehen. Von drei bis vier Uhr sei Besuchszeit, hatten sie gehört. Voraussichtlich hatte sie auf diese Art sogar Zeit für ihn, mehr als sonst, dachte er. Zu Hause stand sie den ganzen Tag am Zuschneidetisch oder saß vor der Nähmaschine, oft bis spät in die Nacht. Am Morgen war sie dann übler Laune und beklemmend wortkarg, schimpfte höchstens beim Frühstück über Kleinigkeiten. Das Krankenhaus kam ihm nicht schrecklich vor, auf dem Rückweg besserte sich seine Laune immer mehr.

Großmutter sorgte sich allerdings erheblich und machte ihm klar, dass man für eine ganze Weile noch weniger Geld haben würde als bisher, weil Mutter nicht arbeiten könne. Geld war in ihrer Familie immer ein Thema gewesen.
„Über Geld spricht man nicht“, hatte er neulich von einem entfernten Verwandten gehört. Den Satz hatte er sich gemerkt. Vermutlich gilt dies nur für reiche Leute, sinnierte er. Zu Hause gab es oft schon beim Frühstück besorgte Gespräche darüber, was man sich leisten könne und was nicht. So ganz verstand er das nicht. Er hatte nicht den Eindruck, verhungern zu müssen. Im Gegenteil, aus seiner Sicht gab es lauter schmackhafte Sachen: Milchreis mit Zucker und Zimt etwa oder Apfelpfannkuchen oder diese leckeren Armen Ritter, die Großmutter zauberte. Nur Omas Hang zu Graupensuppe, zu allem Überfluss mit Unmengen Möhren darin, störte ihn.

Den Heimweg über versuchte sie ihn zu trösten. Er blickte sie nur fragend an. Wieso trösten? Es war doch alles in Ordnung. Großmutter verstand ebenfalls nicht, und um ihm etwas Gutes zu tun, versprach sie ihm, dass er das Sonntagsessen selbst aussuchen dürfe, solange Mutter im Krankenhaus war.

Er strahlte. Überlegen musste er gar nicht.
„Rosenkohl mit gebratenem Bauchfleisch“, rief er sofort, „geht das“?
„Klar“, sagte sie, wunderte sich allerdings erheblich. Für einen Siebenjährigen, dachte sie, ist das ein seltsamer Wunsch. Welches Kind mag schon so etwas? Rosenkohl hatte man im Garten und Bauchfleisch war erschwinglich, zumal es einmal in der Woche ohnehin ein Fleischgericht gab, meist Frikadellen oder Bratwurst, doch Schweinebauch war durchaus drin und gab eine gute Soße.

Der Junge blieb seinem Wunsch wochenlang treu und freute sich auf die Sonntage. Er mochte diesen würzigen Bratengeruch, die wunderbare dunkle Soße und natürlich sein Lieblingsgemüse. Seiner Großmutter wurde es allmählich zu viel. Doch alle Überredungsversuche blieben erfolglos. Erst zuletzt gelang es ihr, das Bauchfleisch durch gebratenes Eisbein zu ersetzen.

Mutter blieb neun Wochen im Krankenhaus. Danach war die Schlaraffenlandzeit vorbei und Großmutter übernahm erleichtert wieder das Regime in der Küche.

parabsidia - 17. Oktober 2022

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Welschkraut.pap (5,4 KB)

Geil! :+1: die Geschichte bleibt im Kopf … jedenfalls in meinem
Danke fürs teilen :hibiscus:

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Dankeschön :slightly_smiling_face: Hier sind wirklich tolle Beiträge.Da ist man froh, wenn der eigene gelesen wird. Vielen Dank und einen schönen Tag.

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Schulspeisung

Da war ich also, auf dem Bauernhof, wo es in Hülle und Fülle etwas zu essen gab, wo geschlachtet, gewurstet und gekocht wurde, oft im großen Kupferkessel draußen in der Futterküche. Wurst und Schinken hingen in der Räucherkammer. Und ich war dünn und blass und nichts von alledem blieb auf meinen Rippen.
In diesen Jahren nach dem Krieg gab es eine Schulspeisung. Die gesamte Klasse wandert morgens vor Unterrichtsbeginn zum alten Rathaus am Bahnhof, wo die Gulaschkanonen vor sich hin dampften. Blechnapf und ein Löffel waren von zu Hause mitzubringen. Im riesengroßen Kessel brodelte eine dicke Brühe mit undefinierbaren Brocken darin. Jede Menge Kartoffeln, dazu ein paar Speckwürfel und Wirsing. Die gemauerten Ziegelsteine um den Kessel herum und die restliche Glut in der Feuerstelle darunter hielten die Suppe leidlich warm. Hinter dem offenen Kübel stand eine gewaltige Mamsell. Ihre Schürze hing recht bekleckert vorn über dem ausladenden Busen und die blanken Oberarme quollen aus den Ärmeln ihrer Bluse. Mit einer langen Schöpfkelle, die auch schon bessere Tage gesehen hatte, holte sie einen ordentlichen Schlag aus dem Kessel, um es den Schulkindern in die bereitgehaltenen Behältnisse zu kippen.
Das alles kannte ich nur vom Hörensagen. Als einziger der Klasse durfte ich nicht an dieser Essensorgie teilnehmen. „Die Bauern haben selbst zu essen“, hieß es. Ich wartete also wie ein gescholtener Hund vor dem Schulhaus am Fuß der Kirche, bis der Rest der Klasse feixend zurückkam. Einer der sogenannten Verantwortlichen merkte dann wohl den seelischen Schaden und nahm mich ebenfalls mit zum großen Fressen. Dem Staat oder den Amis, wer immer den Mampf finanzierte, verursachte ich keinen nennenswerten Schaden, hielt sich mein Heißhunger doch in engen Grenzen.

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Nostalgie des Birnenschalen-Gelées

Ich dachte an gar nichts Bestimmtes, als vom Grund der Kiste der lange vergessengeglaubten Kindheitserinnerungen, Düfte und Geschmacksnoten emporstiegen. Zur Zeit des sich nahenden Herbstes brach im Haus meiner Großmutter – welches ja eigentlich das Haus meines Großvaters war – immer jene Geschäftigkeit aus, die mit dem Reifwerden von Obst und Gemüse im Garten einhergeht. So mag ich denn damals die Ernte vom Birnbaum in der Kochstube bewundert haben, die in Körben oder Emailschüsseln zu ihrer weiteren Verarbeitung bereitstand. Frisch vom Baum verströmten die Früchte nur einen - kaum wahrnehmbaren - säuerlichen Geruch, wenn man sich ihnen in ihren Erntekörben näherte. Noch bargen sie die ungeahnten Sinnenfreuden in sich, hielten die erstaunlichsten Geschmacksexplosionen unter ihren intakten Schalen versteckt.
Die Zubereitung dieser Köstlichkeit traf mich jedes Jahr, wie eine unvorhergesehene Überraschung. Weihnachten war dagegen viel leichter schon lange vorher auszumachen. Man wußte, wann es kommen würde. Advent und so – klar. Doch keiner der Erwachsenen hätte jemals im Voraus angekündigt: »In soundsoviel Wochen wird es Birnenschalengelée geben.«
Und so war die Zeit also wieder einmal herangekommen. An einem Vormittag erfüllte dieses Parfum – intensivstes Birnenaroma – das ganze Haus. Wie der Blütennektar die Bienen, so lockte mich dieser hypnotische, sämtliche Zimmer erfüllende Duft, an den Küchenherd. Und die unstillbare Lust auf die beste aller Süßigkeiten, die ich ehemals kannte, wurde in mir übergroß. Jetzt hieß es Geduld haben. Keine leichte Sache für ein zehnjähriges Kind. Wie beim Fall in ein schwarzes Loch schien sich die Zeit ins Unendliche * zu dehnen, bis die ersehnte Gaumenbeglückung endlich genussfertig bereitstand.
Blasen werfend kochten die Birnenschalen mit Gelierzucker versetzt in einem relativ kleinen Kochtöpfchen auf dem Gasherd. Auf feinen Wassertröpfchen reisten die sublimen Geruchspartikel durch die Lüfte im Inneren des Hauses von Zimmer zu Zimmer und teilten jedem, der darin lebte mit, daß ein großartiges kulinarisches Ereignis bevorstand.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich - meine Großmutter fragend: »Ist er jetzt fertig?« – meine Ungeduld besser zu bezähmen, in den Garten und wieder zurücklief. Doch schließlich war die begnadete Köchin mit dem Ergebnis zufrieden und ich kam auf meinen kleinen Beinchen angerannt und konnte mir die ersehnte Köstlichkeit endlich abholen.
Von einem vollmundigen Laib, wie er nur damals von Bäckern bereitet wurde, bekam ich eine Scheibe Brot abgeschnitten, die der länge nach in der Mitte geteilt wurde, nachdem sie mit Butter bestrichen worden war. Aus dem - aus heutiger Sicht – altmodischen Küchenschrank holte die Großmutter ein kleines Glasschälchen, in welches hinein sie mir eine geringe Menge des duftenden und unsagbar wohlschmeckenden Birnenschalen-Gelées goß.
In meiner Erinnerung war diese Konfitüre niemals streichfest. Deshalb wurde sie auch nicht auf die Brotscheibe „geschmiert“, sondern man benutzte das längs halbierte Brotstück, um damit immer nur, die für den nächsten Bissen nötige Menge direkt aus dem Schüsselchen heraus zu löffeln. Bei diesem Geschicklichkeitsspiel mußte man sich beeilen, schnell abzubeißen, bevor wieder alles herunterrann.
Und dann erfüllte also endlich diese königliche Kost den Mund und vermittelte einem ein, Geist und Körper ganz durchdringendes Wohlgefühl. Es war, als könne man in den Herbst selbst hineinbeißen. Das Ergebnis jener Alchimie, die Erde, Sonne, Regen, Luft und Bienen im Verein mit dem Birnbaum hervorgebracht hatten, wurde vom Wissen der Großmutter, zu einem geschmacklichen Juwel veredelt. Pures Glück!
Doch in einer, höchstens zwei Wochen war dieses Paradies wieder vorbei. Denn die zu eingemachten Birnen verarbeiteten Früchte lieferten immer zu wenige Schalen – dachte ich. An Vorratshaltung war also nicht wirklich zu denken. Wie sie gekommen war, diese kurze fröhliche Zeit, war sich auch schon wieder vergangen. Und es blieb einem nichts übrig, als auf das nächste Sommerende zu warten.
Heute schmeckt nichts mehr so! Die Zeit scheint im Flug dahinzueilen. Nur die wenigen Augenblicke, die noch bleiben werden mit jedem Tag kostbarer.

  • {Mit gewissen Wörtern, wie hier zum Beispiel »Unendlichkeit« gehe ich privat sehr vorsichtig vor. Normalerweise würde ich diesen Begriff nicht in meinen Schriften verwenden. Da er hier jedoch ein bestimmtes Bild – oder sagen wir lieber, eine gewohnte, nicht zu verifizierende Idee, vermittelt, habe ich mich entschlossen, das Wort dennoch stehen zu lassen.}
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ich habe Tränen in den Augen… Sehr schön geschrieben… Vielen Dank!

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Food Porn: Male-Gaze is everywhere

Als du heute vor meiner Vitrine standest und deine Augen über die Auslagen beim Bäcker wandern ließest, durchlief mich eine Welle starker Hoffnung. Mir war, als wenn du Gefallen an mir fandest.

Sieh mich an, dachte ich. Schau vorbei an all den Möchtegern-Gebäcken, den viel zu kleinen Quark-Bällchen oder den winzig klebrigen Nuss-Ecken, von denen man drei am Stück verkaufen muss, damit der Kunde überhaupt merkt, dass er was in der Hand hält. Sieh vorbei an den weitgehend mit Luft gefüllten Apfeltaschen oder den viel zu fetten Käse-Sahne-Stücken, die vor künstlichen Aufhübschern nur so triefen und glänzen.

Sieh mich an, dachte ich. Ich bin ehrlich zu dir. Ich bestehe aus Rosinen und Mandeln, außerdem aus Zuckerguss. Drum nimm mich mit von hier! Ich mache keine leeren Versprechungen. Im Gegenteil: In mir ist mehr, als man denken möchte. Ich bin prall gefüllt mit saftigem Marzipan; alles unter weichem Plunderteig.

Und dann hörte ich deine Stimme. Dein Blick lag auf mir und du hattest einen sanften Glanz in deinen Augen, der zukünftige Freuden versprach. Du sagtest meinen Namen, bezahltest für mich und nahmst mich mit.

Und nun liege ich voller Verlangen vor dir und frage mich, was du machst. Worauf wartest du? Nimm mich in deine Hände! Ertaste, wie willig weich mein Teig mein Innerstes umhüllt. Verzehre mich, denn ich verzehre mich nach dir! Mach, dass sich nun mein Schicksal erfüllt! Glaub mir! Ich schmecke! Ich bin köstlich. Bin die Rosinen-Marzipan-Schnecke. Ich werde dein Inneres mit saftiger Süße erfüllen. Meine Rosinen werden Gaumen und Rachen reiben. Meine Mandeln werden sich bei deinen zum Stell-dich-ein begeben und mein Marzipan wird deine Sinne erheben. Unser Genuss wird ein sündhaft leckeres Treiben. Ich werde dich befriedigen. So bin ich eben.

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Hück kocht Oma

Lässig mit dem Unterhebelrepetierer die Waffe nachzuladen, um dann eine Münze in der Luft zu durchlöchern – das war mein Traum, als ich gerade mal zehn Jahre alt war.

Ich war entschlossen, Cowboy zu werden und zu schießen wie im Film, in dem James Stewart in Dodge City den Schießwettbewerb gewann. Deshalb wünschte ich mir zu Weihnachten eine Winchester 73. Leider lag dieses heiß ersehnte Geschenk weder zu jenem, noch zu späteren Anlässen unter dem Weihnachtsbaum, obwohl ich die Hoffnung nicht aufgab.

Wie in jedem Jahr ließ sich Vater Zeit mit dem Kauf des Tannenbaums. Am Morgen des Weihnachtstages zog er um die Mittagszeit los und ergatterte für einen Spottpreis unten im Dorf einen der letzten krummen Exemplare, einen Ladenhüter, der sicher selbst nicht mehr von ›Snoopy‹ oder den ›Peanuts‹ zum Fest ausgesucht wurde.

Papa kam nach seinem Schnäppchen nicht sofort heim. In der Dorfkneipe traf er seine Freunde, die es ebenfalls an diesem Mittag nicht in die heimischen Wände zog und stieß mit ihnen auf seinen günstigen Kauf an.

Zu Hause liefen die Vorbereitungen zum Fest derweil auf Hochtouren.

Nach der Bescherung, um sechs Uhr abends, gab es bisher immer gegrilltes Hähnchen aus Mutters Elektroherd. Den hatte sie zu ihrem Einzug in das schwiegerelterliche Haus geschenkt bekommen. Mit stolzgeschwellter Brust balancierte sie dann die Platte mit den drei Grillhähnchen zum Esstisch. Die krosse Haut, die sie mit der Grillfunktion zauberte, war unvergleichlich. Selbst ich bekam sogar einen halben Flattermann ab. Ohne diese Köstlichkeit war Weihnachten für mich unvorstellbar.

Dazu gab es Spargel aus dem Glas und weiße Soße. Unsere Kartoffeln aus dem Keller und eigenem Anbau wurden in dieser Tunke herrlich ertränkt und zermatscht. Ich hatte keine Ahnung, dass der neue Spargel nur im Frühling geerntet wurde. Für mich waren ausschließlich die biegsamen, zuckersüßen weißen Stangen im Glas frisch. Das Größte war es, eines der zarten und wachsweichen Spargelspitzen zu ergattern. Da brauchte man nicht zu kauen, die drückte ich nur gegen den Gaumen und der süßliche Geschmack breitete sich im Mund aus. Hinterher strullte (1) man so lustig stinkiges Spargelpiesel, das nur nach diesem Gemüse so roch.

Deshalb trank ich immer das übrig gebliebene Spargelwasser, was nicht für die Soße benötigt wurde. Aber egal welche Menge ich davon in mich hineinkippte, der Geruch hielt nur einen Tag lang an.

Papa verlangte dieses Jahr zum Heiligen Abend mal was anderes als Hähnchen. Würstchen mit Kartoffelsalat waren keine Option. Kotelett mit Schlönz, einem durchgeweichten grünen Salat mit Dosenmilch angemacht, hatten wir einmal die Woche auf dem Speiseplan. Am Wochenende gab es duftenden Schmorbraten und manchmal sogar Sauerbraten mit Klößen, die aus rohen Kartoffeln hergestellt waren. Dazu gab es zum Nachtisch die unvermeidlichen, eingemachten Pflaumen. Wir hatten fünf Pflaumenbäume im Garten, deren Ernte alljährlich in große Gläser landeten, die sich bis zum heutigen Tag im Keller wiederfinden. Für mich ist es ein Rätsel, wieso dieses Obst im Supermarkt so lecker frisch und knackig aussieht und unsere Eingekochten blassgrau und wie ausgelutscht im Glas umher schwammen. Die Erinnerung an diese Unmengen von Kernobst ist so traumatisch, dass ich bis heute keinen Pflaumenkuchen mehr esse.

Wie schon bemerkt, war es in diesem Jahr anders. Oma bot Wochen vorher an, Kaninchen zuzubereiten. Bis zum damaligen Zeitpunkt hatte ich so etwas noch nie gegessen. Weihnachten ohne Hähnchen? Unvorstellbar. Oma und Kaninchenbraten? Das konnte nicht gut gehen und wie würde das schmecken? Bisher hatte Oma auch noch nie zu Heiligabend gekocht.

Aber Papa setzte sich durch. »De Mam mäht Kning, su wie fröher. (2)«

Mutter war beleidigt und sollte sich diesmal um den Nachtisch kümmern. Da sie deshalb verärgert war, gab es sicher Quark mit Kakaopulver. Das war idiotensicher, sah vortrefflich aus und – schmeckte mir nicht. Außerdem wartete sie schon seit Stunden auf Papa. Dann war ihre Laune ohnehin auf dem Nullpunkt. Um ihr aus dem Weg zu gehen, stieg ich die steile, schmale Treppe hinunter in die Wohnung der Großeltern. Opa stand hinten im Schlafzimmer und rauchte. Trotz der niedrigen, winterlichen Temperaturen hatte er dazu das Fenster geöffnet, lehnte mit den Ellenbogen auf dem Sofakissen, auf dem Fensterbrett und blies die Qualmwolken in den Hof.

In der Küche durfte er nicht rauchen, dort war Oma mit den Vorbereitungen für den Kaninchenbraten beschäftigt. Sie hatte damals noch ihren alten gusseisernen Ofen, der nach dem Kochen mit Schmirgelpapier und Grafitpaste gereinigt und poliert werden musste. Sie hatte einen großen schwarzen Kessel mit einem Emailiedeckel auf dem Herd stehen. Den kannte ich. Massig und bedrohlich stand er im Regal hinter der Kellertür. Ich hatte mich schon oft gefragt, was da drin war, aber das Regal war zu hoch, um hineinzuschauen.

»Wat machst du mit dem großen Topf?«

»Do küt dat Kning erinn. (3)«

Der Topf sah alt und schmutzig aus, da konnte man doch nichts drin kochen. Oma erriet vermutlich meine Gedanken und erklärte es mir.

»Dat han ich domols, wo ich in Stellung wor, jeliert. Nur im Iserpott jeit dat. Der han ich vun de Herrschaft jeschenk jekräje, wie ich dinge Jroßvatter jehierot han. Et jit nix besseres wie ne iesere Pott für e jot Kning. (4)«

Oma putzte das Gemüse auf dem Küchentisch. Eine offene Flasche Rotwein stand daneben. Merkwürdig. Ich hatte Oma nie Wein zu dieser Tageszeit trinken sehen. Aber es war ja Weihnachten. Dann machten das die Erwachsenen vermutlich so.

Sie rieb die Schale von den Karotten mit dem Messer ab, schälte Kartoffeln, Sellerie und die Zwiebeln. Die Kartoffeln warf sie in einen anderen Topf mit Wasser, ein paar behielt sie davon übrig und schnitt sie in grobe Stücke, genau wie die Karotten und die Zwiebeln. Alles kam in eine Schüssel. Ich war sprachlos. Oma führte die Arbeiten routiniert und zügig aus. Bisher hatte ich sie nur beim Braten von Opas Kotelett gesehen.

Aber da war ja nichts weiter zu beachten, außer, dass sie auf die Katze aufpassen musste, die immer darauf lauerte, ein Fleischstück zu erjagen. Einmal hatte die es tatsächlich geschafft, Opas Kotelett vom Küchentisch zu klauen. Oma lief ihr schreiend und mit dem Kochlöffel schwingend bis in den Garten hinterher. An diesem Tag gab es abends für Opa Spiegelei auf Brot und Schinken.

Oma reinigte das Kaninchen im Spülstein und tupfte es mit einem sauberen Küchentuch trocken. Dann rieb sie den langen Körper mit Salz ein.

Sie warf ein großes Stück Fett in den Pott und ich sah zu, wie es langsam in der Hitze des Feuers schmolz. Behutsam legte sie daraufhin das Fleisch in den Topf und schob mich zur Seite. Es brutzelte und spritzte. Das nackte Mäulchen öffnete sich etwas mehr und die langen Schneidezähne bleckten aus dem Schädel heraus. Die Zunge war jetzt zu sehen. Fast schien es, als wollte das Tierchen noch was zum Abschied sagen. Mit einer großen Gabel stach Oma in die Flanke und drehte den Körper herum, damit es überall anbriet, wie sie erklärte. Einige Zeit später füllte sich die Küche mit Dampf aus herrlichem Bratenduft.

Draußen rumpelte es. Papa kam nach Hause.

»Wo blievs du dann? (5)«, rief meine Mutter vorwurfsvoll von oben herunter.

Opa kam vom Schlafzimmer durch die Küche und öffnete die Tür zum Flur.

»Häs do ene Boum? De Chresboumständer han ich ad im Wunnzimmer. (6)«

Beide Männer verschwanden im Wohnzimmer und stellten dort den Weihnachtsbaum auf. Das war Männersache.

Mama kam die Treppe herunter und öffnete die Tür von der guten Stube.

»Nä, wie sieht der dann us? (7)«, war ihr entsetzter Kommentar.

Oma ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Jetz kütt dat Jemös erinn. (8)« Sie warf die Zwiebeln, Karotten-, Sellerie- und Kartoffelstücke in den Topf und rührte den Inhalt um. Aus der Rotweinflasche schüttete sie den halben Inhalt ebenfalls hinein und das laute Zischen und Spritzen wich einem leisen Blubbern. Jetzt legte sie den Deckel auf und rieb ihre Hände an der Schürze ab.

»Dä, dat wor alles. Jetz muss et nur noch wigger koche bis et jar is. (9)« Plötzlich stieß sie einen Schrei aus. »Nä, jetz han ich doch de Peffer verjesse. Uh wieh. (10)«

Oma öffnete den alten Küchenschrank und kam mit einem Gläschen mit grünen Perlchen zurück, die in einer wässrigen Flüssigkeit schwammen. Den Inhalt schüttete sie erst halb und dann nach einem prüfenden Blick in den Topf, vollständig hinein.

»Dat is jröne Peffer, dat schmeck jot! (11)«

Grüner Pfeffer - niemals vorher hatte ich von so was gehört, oder solche grünen Kügelchen gesehen. Pfeffer hatte ich bis dahin nur in schwarzgrauer Pulverform erlebt, den Papa immer auf die Mettbrötchen streute und das mich zum Niesen brachte.

Draußen wurde es hektisch, lautes Stimmengewirr zeigte an, dass was Furchtbares passiert sein musste. Mama kam zur Küche rein und hatte Tränen in den Augen. »Dr Boum is umjefalle. Dä Opa määt dä jetz mit ener Kood am Schrank fas. (12)« Sie schniefte und verschwand wieder. »Ens luure, ob do noch jet zo rette is. (13)«

Mama war immer für das Schmücken des Baumes zuständig. Auch das hässlichste Bäumchen bekam sie mit Geschick und Dekomaterial zu einem prächtigen Weihnachtsbaum herausgeputzt.

»Oma, wie lange muss das Kaninchen noch braten?«

»Noch lang. Dä ruude Kappes is fädisch un die Ääpel setz ich donoh op. (14)«

Oma blieb gelassen, saß an ihrem Küchentisch und las unbeirrt weiter in ihrem Arztroman. Eines hatte ich schon in meinen jungen Jahren gelernt; Weihnachten war immer eine Mischung aus Katastrophen, Schimpftiraden, Geschenken und anschließendem Essen. Das gehörte so.

Ich legte mich auf die Couch, die ebenfalls in der Küche stand. Dort machte Oma immer ihr Mittagsnickerchen.

Erschöpft schlief ich ein und träumte von meiner Winchester, mit der ich mit grünen Pfefferkörnern auf bunte Weihnachtskugeln schoss.

Mama schüttelte mich an den Schultern. Draußen war es dunkel geworden.

»Kumm, Bescherung, dat Chreskindche wor do.«

Ich rieb meine verklebten Augen und schaute zum Herd. Dort standen die Töpfe mit den Kartoffeln und dem Rotkohl. Oma rührte in einem weiteren Stieltopf die Soße an. Der große Topf mit dem Kaninchen drin, war vom Feuer gezogen und stand auf der Seite der Herdplatte.

Mama nahm mich an die Hand und ging feierlich mit mir ins Wohnzimmer hinein. Leuchtend empfing uns dort der glänzende Weihnachtsbaum. Das Lametta bewegte sich im Schein der Kerzen, die sich in silbernen Weihnachtskugeln spiegelten. Unter dem Baum lagen einige Pakete.

Ich suchte vergebens nach einer langen Verpackung, in der eine Winchester Platz gehabt hätte. Stattdessen bekam ich in diesem Jahr eine Carrera-Bahn geschenkt, über die ich mich natürlich auch freute. Papa schenkte der Mama glitzernde Ohrringe, Opa und Oma erhielten Handschuhe und Schals und die Eltern von den Großeltern einen Umschlag mit Geld.

Mama und Oma brachten nach der Bescherung das Essen ins Wohnzimmer. Nur zu Weihnachten und zum Geburtstag aß man in diesem Zimmer. Der Tisch bog sich fast von all den Schüsseln und Tellern. An Festtagen wurde von Omas bestem Geschirr gegessen. Alle Porzellanteile hatten goldene Ränder und sahen ausgesprochen festlich aus.

Zum Schluss kam Oma mit dem Kaninchen herein. Auf einer länglichen Platte lagen die Stücke von Rücken und Läufen um den Kopf herum drapiert.

Ein mehrstimmiges ›Ahhh‹ begleitete das eilige Umherschieben des Geschirrs, damit die Platte noch Platz in der Mitte des Tisches erhielt.

Ich bekam ein Stück vom Kaninchenrücken, Kartoffeln mit genügend Soße und Rotkohl. Das Fleisch schmeckte herrlich würzig, war saftig und zart. Es fiel fast vom Knochen ab.

Oma lächelte, sie schien mit sich zufrieden zu sein. An diesem Tag war sie für mich die beste Köchin der Welt.

»Dat is lecker, häs do jot jemat (15)«, lobte Papa seine Mutter.

Ich probierte die grünen Kügelchen. Die waren so scharf, dass mein Kopf fast platzte vor Husten.

Ich hatte schon wieder keine Winchester geschenkt bekommen. Aber egal, denn wenn ich später Cowboy werden würde, dann hätte ich genug Geld, mir selber eine zu kaufen …

Übersetzungen:

1
Strullen = urinieren

2
»De Mam mäht Kning, su wie fröher.« – Die Mama macht Kaninchen, so wie früher.

3
»Do küt dat Kning erinn.« – Dahinein kommt das Kaninchen.

4
»Dat han ich domols, wo ich in Stellung wor, jeliert. Nur im Iserpott jeit dat.

Der han ich vun de Herrschaft jeschenk jekräje, wie ich dinge Jroßvatter

jehierot han. Et jit nix besseres wie ne iesere Pott für e jot Kning.« –

Das habe ich damals, als ich in Stellung war, gelehrnt. Nur im Eisentopf

Geht das. Den habe ich von den Herrschaften geschenkt bekommen,

als ich deinen Großvater geheiratet habe. Es gibt nichts Besseres als

einen Eisentopf für ein gutes Kaninchen.

5
»Wo blievs du dann?« – Wo bleibst du denn?

6
»Häs do ene Boum? De Chresboumständer han ich ad im Wunnzimmer.« -

Hast du einen Baum? Den Christbaumständer habe ich schon im

Wohnzimmer.

7
»Nä, wie sieht der dann us?« – Nein, wie sieht der denn aus?

8
»Jetz kütt dat Jemös erinn.« – Jetzt kommt das Gemüse hinein.

9
»Dä, dat wor alles. Jetz muss et nur noch wigger koche bis et jar is.« –

So, das war alles. Jetzt muss es nur noch weiter kochen bis es gar ist.

10
»Nä, jetz han ich doch de Peffer verjesse. Uh wieh.« -

Nein, jetzt habe ich den Pfeffer vergessen. Oh weh.

11
»Dat is jröne Peffer, dat schmeck jot!« – Das ist grüner Pfeffer, das schmeckt gut!

12
»Dr Boum is umjefalle. Dä Opa määt dä jetz mit ener Kood am Schrank fas.« –

Der Baum ist umgefallen. Der Opa macht ihn jetzt mit einer Schnur/Kordel am Schrank fest.

13
»Ens luure, ob do noch jet zo rette is.« – Mal schauen, ob noch was zu Retten ist.

14
»Noch lang. Dä ruude Kappes is fädisch un die Ääpel setz ich donoh op.« –

Noch lange. Der Rotkohl ist fertig und die Kartoffeln setze ich danach auf.

15
»Dat is lecker, häs do jot jemat!« – Das ist lecker, hast du gut gemacht!

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Vielen Dank und gerne ! :joy:

Im Singular heißt es Palatschinke. (Entschuldigt, ich habe irgendwie falsch gepostet. Es bezog sich auf den Beitrag mit Palatschinken (Plural))

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Tante Inges Kürbis

Ernsthaft! Niemand in meiner Familie mochte früher Kürbis. Nicht als Suppe, nicht aus dem Backofen, nicht einmal als Marmelade. Und schon gar nicht sauer eingemacht. Zugegeben - die heutige Vielfalt stand damals sowieso nicht zur Debatte, denn wir kannten sie gar nicht.
Ist ja auch schon eine gefühlte Ewigkeit her,
Bei uns gab es nur diese eine Variante mit den klebrig-faserigen Stückchen in gruselig saurer Flüssigkeit.
Leider hielt sich neben der Auswahl auch das mit dem Grusel in Grenzen, denn das schaurig-schöne Flair des amerikanischen Halloween mit passenden Süßigkeiten, künstlichen Spinnweben und witzigen Kostümen war genauso in weiter Ferne wie ein ordentliches Rezept.
So verhielt es sich auch mit der Magie.
Obwohl… Ich bin mit da nicht so sicher. Vielleicht haben Kürbisse ja doch mehr mit Geistern zu tun als allgemein bekannt. Doch davon später.
Es war also einmal vor langer Zeit in einer weit entfernten Galaxis, als niemand bei uns zu Hause auf die Idee kam, mal etwas Neues mit den gigantischen, orangefarbenen Kanonenkugeln auszuprobieren. Das ist traurig in einer sonst so von innovativen Rezepten begeisterten Familie. Aber in Bezug auf die Kürbisse war die Tradition stärker und meine Tante Inge zelebrierte alle Jahre wieder heldenhaft das große Kürbisschlachten.
Ebenso traditionsbewusst probierte meine Mutter ein Stückchen, nur um festzustellen, dass sie nun wirklich keinen Kürbis mochte. Ich hatte diese weise Entscheidung mit meinen sieben Jahren bereits getroffen, ohne überhaupt jemals eines von den glibberigen Teilchen gegessen zu haben. Nur mein Vater betonte immer wieder tapfer, wie sehr er sich auf die Kürbissaison freute. Schon sein Enthusiasmus hätte meine Tante stutzig machen müssen.
Sie selber mochte das Zeug übrigens auch nicht.
Allen diesen Umständen zum Trotz habe ich mich immer gefreut, wenn meine Mutter augenrollend verkündete, dass es mal wieder an der Zeit war, auf Kürbisjagd zu gehen. Dabei seufze sie so herzzerreißend, dass man glatt hätte meinen können, sie müsste den Kürbis selbst einmachen.
Oder, um bei Halloween und dem Grusel zu bleiben, sie war blass und panisch, als sei die Nacht der langen Messer bereits angebrochen und meine Tante Inge mit demselben hinter ihr her.
So etwas hätte die allerdings nie gemacht. Sie war viel zu nett und liebte ihre Familie. Und mit dem Horror hatte sie es genauso wenig wie mit den Kürbissen.
Ich hingegen fand es einfach nur klasse, schenkte der Große Kürbis mir doch jedes Mal einen ganzen Nachmittag mit meiner Tante, denn ich war die Einzige, die sich freudestrahlend bereit erklärte, ihr bei dem orange-klebrigen Einmachspaß zu helfen. Aber weil ich damals noch die Grundschule besuchte, war ich keine wirkliche Hilfe, sondern meistens nur im Weg. Aber, wie gesagt, meine Tante war einfach zu lieb. Also passte sie beim Kürbiskochen auch noch ganz nebenbei auf mich auf.
Zuerst mussten die Kürbisse - wirklich in der Mehrzahl - in die Küche gewuchtet werden. Das machte mein Onkel Peter mit der Miene eines zur Galeere Verurteilten. Er mochte auch keinen Kürbis.
Dann schickte meine Tante Inge mich in den Flur, denn jetzt kam das große Messer zum Einsatz, und sie wollte mich aus der Gefahrenzone haben. Nachdem sie die Kürbisse in Halloweenmanier geschlachtet hatte, durfte ich wieder reinkommen, und wir machten uns daran, Kerne, Fruchtfleisch und was sonst noch so Undefinierbares in einem Kürbis zu finden ist, herauszuholen.
Das hat super Spaß gemacht. Logo.
Kurz darauf blubberten sich die Kürbiswürfel auch schon in ihren großen Töpfen in die Kürbishölle. In der ganzen Wohnung roch es nach Essig, Zucker und nach Kürbis. Na ja, wie Kürbis eben so riecht. Ein wenig faserig, steinhart und nach Gespenstern.
Den Rest habe ich vergessen.
Wie von Zauberhand waren die Stückchen dann plötzlich in den Einmachgläsern, die Gummiringe schnappten ein und das Einkochen des Grauens war vorbei.
Nein, nicht ganz, denn jetzt musste noch sauber gemacht werden. Aufnehmen, abwischen, aufwischen, rauf- und runterwischen. Das Faszinierende dabei war - und hier komme ich wieder darauf zurück, dass doch etwas Magisches an den Kürbissen gewesen sein muss – das Erstaunliche war, dass die Kürbisse überall ihre Spuren hinterlassen hatten. Und damit meine ich: wirklich überall.
Wahrscheinlich hat es in der Wohnung von Tante Inge einfach gespukt. Das scheint mir die einzig logische Erklärung zu sein. Geister und Gespenster sollen in dieser Zeit ja frei herumschweben können.
Man weiß es nicht.
Aber ich weiß genau, dass unheimliche Kürbisreste die Wohnung in Besitz genommen hatten. Sie pappten an Schränken, Kisten und Kasten, Türklinken und Fensterrahmen, an Stellen, die wir nie und nimmer berührt hatten. Selbst von ganz hinten im Geschirrschrank, den wir gar nicht geöffnet hatten, leuchteten sie uns unheilvoll-orange entgegen. Später fanden wir sogar im Wohnzimmer einen klebrigen Würfel, der sich nur ungern vom guten Parkett lösen wollte.
Auch heute noch bin ich überzeugt, dass es die Geister der malträtierten Kürbisse selbst gewesen sein müssen, die uns rachsüchtig und erbarmungslos alle Jahre wieder zu dieser sisyphosartigen Putzaktion verdammten.
Erst wenn das Terrain sicher war, kamen meine Eltern, um ihre verkürbisste Tochter abzuholen, und Freude und Begeisterung über die extra für sie bereitgestellten Gläser zu heucheln.
Mein Vater musste alles im Alleingang aufessen.
Das ist so lange her, mittlerweile gibt so viele verschiedene und sehr leckere Kürbisarten, eine Million Rezepte und auch Halloween ist keine Unbekannte mehr.
Ich habe Jahre gebraucht, um mich von dem Sauer-eingelegter-Kürbis-Trauma zu erholen, und esse mittlerweile gerne das eine oder andere Schälchen Kürbissuppe.
Neulich habe ich sogar Kürbismarmelade eingekocht. Und wisst ihr was? Hinterher hat es in der ganzen Wohnung geklebt, auf Schranktüren, Lichtschaltern und Blumentöpfen, am Senfglas im Kühlschrank und dem Deckel meiner Shampooflasche, ja selbst auf der Fernbedienung für den Fernseher im Wohnzimmer, das ich während der Einmachaktion gar nicht betreten hatte, tauchten wie von Geisterhand orangefarbene Klekse auf.
Das ist doch der Beweis dafür, dass Kürbisse etwas Magisches an sich haben. Oder etwa nicht?

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Ich möchte deine Ich-Erzählerin so sehr beschützen! Du hast das sehr präzise beschrieben: das Gefühl, angestarrt und verachtet zu werden, diese Geste, mit der man sich dann den Pulli über den Bauch zieht. Ich glaube, die meisten heranwachsenden Mädchen kennen das. (Oder ist das heute anders? Es wäre schön, wenn es heute anders wäre.)

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Unvergessen ist mir der freitägliche Dick und Doof Abend meiner Kindheit. Statt Dick und Doff gab es auch „Väter der Klamotte“ zu sehen. Mein eigener Vater war meist dienstlich unterwegs, was rückblickend für einen Freitag Abend nur heißen konnte, dass er auf ein Feierabendbierchen mit Kollegen oder mit selbigen zum Kegel gegangen war.

Mir war es recht, denn freien Zugang zum TV hatten meine Schwester und ich nur, wenn mein Vater nicht da war und das Fernsehen für sich beanspruchte. Also ging es zeitlich vor dem Beginn der Slapstick-Scharzweiß-Sendungen in die Parallelstrasse zum Frittenverkauf. Dort bekam jeder eine große Tüte aus Zeitungspapier gerollt, mit Pommes Frites und dick Majonese drauf. Dann schnell zurück und ins Sofa gekuschelt und dann wurde viel gelacht und dabei die leckeren Fritten gefuttert.

Über die Beschaffenheit der Fritten selbst kann ich nicht viel sagen. Da ich nebenbei fernsah, habe ich wohl den Grundstein für ein schlechtes Essverhalten (unbewußtes Essen) vor Medien gelegt, dem ich bis heute sehr fröne. Trotzdem ist es eine wunderschöne Erinnerung. Entspannung pur.

Meine Mutter machte außerdem eine Reis-Gemüse-Pfanne, deren Fleischanteil aus Hühnerherzen gespeist wurde. Die konnte man tatsächlich tütenweise kaufen. Die ganzen Hühnerherzen wurden also angebraten und dann kam Gemüse und zuletzt gekochter Reis mit Gewürzen hinzu. Die Hühnerherzen schmeckten soweit gut. Sie hatten eine etwas gummiartige Konsistenz und man musste tüchtig kaufen, um das runde, feste Hühnerherz mit den Zähnen zu zermalmen. Manchmal stak eine Ader hervor.

Es war irgendwie immer auch ein bisschen gruselig, so wie ein Menschenfresser, mit einem Teller voller Menschenherzen, nur halt ein Hühnerfresser. Ich habe mir immer vorgestellt, wie viele Hühner für das Gericht gestorben sind und dann haben sie mir auch leid getan. Trotzdem aß ich es auf. Später habe ich das Gericht jedoch im Gegensatz zu vielen anderen meiner Mutter nie nachgekocht. Ich weiß gar nicht, ob man heute noch Hühnerherzen en gros kaufen kann.

Wenn man heute so ein Gericht in der Schulkantine anbietet, wird man wahrscheinlich gelyncht.

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Das habe ich noch nie zuvor irgendwo so gelesen, aber es ergibt Sinn. Chapeau!

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Wundervoll! Kaninchen gab es bei uns auch immer zu Weihnachten. Was für eine schöne Erinnerung und vielen Dank fürs Teilhabenlassen.

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Diese Erinnerung mag ich ganz besonders. Wie schön! Danke fürs Schreiben!

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Was für ein erster Satz! Beunruhigend und vielversprechend. Macht mit wenigen Worten eine ganze Welt auf. Und der Text hält, was der erste Satz verspricht. Gerade durch die Dialektbrocken fühlt man sich in Omas Küche versetzt. Und dass die Kugeln später in Form des grünen Pfeffers wiederkehren – :ok_hand:.

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ha, ha, ha. Das mag ich. Liebe geht halt doch durch den Magen.

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Mirakelbeere

Also sitze ich müde und mit zerschrammter Seele auf einer Bank im Botanischen Garten und wundere mich, dass die Sonne scheint, dass die Pflastersteine warm sind, obwohl es in mir nur düster und kalt ist, nein: nicht in mir, denn was bin ich denn?

Nichts. Nichts mehr zumindest, was ich als mich erkenne und das wenige, was bleibt, zerrt und ringt um sich selbst in jener Düsternis, die so gar nicht zum Sommertag passen will. Die grünen Wiesen, der Himmel tief und lichtblau, die Farbwolken blühender Kakteen – rot, gelb, lila – und auf dem Teich die Seerosen aus zartrosa Elfenbein – das alles ist da, ganz nah und so weit entfernt. Das alles berührt mich nicht. Ich sehe das Schöne, aber ich glaube nicht daran.

Drei Wochen. Einundzwanzig Tage, die ich in der Psychiatrischen Klinik zu Tübingen verbracht habe, Abteilung 25, Zwangserkrankungen und Depression. Einundzwanzig Tage, die ich, nachdem das erste tiefe Tal der Schwermut durchkrochen war, zum größten Teil schlafend verbracht hatte. Als hätte mein Körper beschlossen, die Macht zu ergreifen und jenes aufmüpfige Gehirn, diese hysterische Seele fürs Erste lahm zu legen.

Ich schlief also und selbst im Wachen schlich ich halb träumend die Korridore entlang, schlurfte über die ehrwürdigen Mosaikfußböden und duckte mich schließlich, als ich zum ersten mal wieder nach draußen ging – das Licht der eigentlichen Welt erblickte – unter jener Inschrift am alten Tor hindurch: Klinik für Gemüts- und Nervenkranke.

Nach und nach wurden meine Spaziergänge ausgedehnter. Heute Morgen beschloss ich, durch das Käsenbachtal hinauf zum Botanischen Garten zu wandern und dort einige Zeit zu verbringen. Die Bewegung tat und tut mir gut, es ging sich zunehmend leichter und hier oben angekommen, breitet sich vor mir die hügelige Landschaft aus: freundlich und friedlich und fremd über alle Maßen. Es sind viele Leute unterwegs, jetzt, am Wochenende, obwohl ich kein Gefühl mehr für die einzelnen Tage habe, und diese vielen Menschen stören mich nicht einmal. Vielmehr habe ich das Gefühl, sie huschen in mein Blickfeld und wieder hinaus. Ohne einen Gedanken, ohne eine Gegenwart zu hinterlassen.

Im Tropenhaus ringelt sich eine Wendeltreppe einen der Stahlträger hinauf. Ich hatte es mit Mühe geschafft, die kleine Plattform ganz oben unter dem Glasdach zu erreichen, stand ans Geländer gelehnt, leicht schwindelig von der Höhe und dem Gewimmel von Blättern, Ranken und Ästen unter mir. Hier war die Luft noch wärmer und feuchter als am Boden, sie hätte mich getragen, so dick war die Luft, sie hätte mich getragen, wäre ich nur über das Geländer geklettert, hätte ich diesen Schritt getan, den einen, in die Luft hinein, die würzig war und verheißungsvoll und wartete - und ich nahm doch die Treppe. Ging hinüber in den Bereich der Nutzpflanzen: Bananen, Erdnüsse, Mangos, Kaffee. Zwischen Kokospalmen und stacheligen Ananasstauden steht dort ein Busch, dessen metallgefasstes Visitenschildchen ihn als Synsepalum dulcificum vorstellt – ein eher unscheinbares Gewächs mit spärlichen Blättchen und Beeren, die von der Form her an kleine Oliven, in der Farbe an reife Tomaten erinnern. Davon pflückte ich zwei, steckte sie in den Mund und zerkaute sie.

Der Geschmack der Mirakelfrucht ist unauffällig – ein wenig säuerlich, kaum Süße und Aroma. Der kleine Kern darin lässt sich leicht zerbeißen, insgesamt ist das Erlebnis eher verhalten. Ich sitze auf der Bank im Botanischen Garten und warte darauf, dass die Synsepalum dulcificum ihre Wirkung entfaltet. Gerade eben habe ich mir am Automaten einen Becher Kaffee geholt, schwarz, ohne Zucker. Ich sitze und warte. Auf der Zunge noch immer der Kaum-Geschmack der Beeren, der Kaffee ist zu heiß und ich möchte ja warten. Bis etwas passiert. Es muss ja etwas passieren, oder nicht? Sonst bleibt die Welt stehen und alle Schatten frieren ein, keine Bewegung mehr, der absolute Nullpunkt. Entweder es passiert jetzt etwas oder niemals wieder passiert irgend etwas, die Sonne verharrt am Himmel, keine Zeit mehr, nichts mehr, nicht ich, nicht du, nicht wir. Mein Arm ist schwer, schwer wie Blei und kalt, ich führe den Becher an die Lippen und schlürfe einen behutsamen Schluck Kaffee.

Süß! So süß – keine Spur von Säure oder Bitterkeit, der schwarze Kaffee schmeckt wie ein überzuckerter Cappuccino, nicht lecker, aber so anders, ganz neu und unerwartet. Die Zunge prickelt ein wenig, ich hätte etwas für den Kopf mitnehmen sollen: Die Sonne ist doch stärker als erwartet. Noch ein Schluck. Dunkler Kaffee, ja, Dulcificum: Süß wie ein Blitzeinschlag und für einen Moment reißen die Wolken – nein, nicht am Himmel, der Himmel ist blau und makellos – reißen die Wolken auf und es wird ein wenig heller, das Gewitter hat sich entladen, Ruhe kehrt ein – lebendige Ruhe.
Ruhe wie die Stille nach einem Regenguss auf staubigen Straßen.

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