Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Schlechte Zeiten

Umgeben von mächtigen Buchen lag unser Grundstück mitten in einem kleinen Wald, der auch Fichten mit ihrem harzigen Aroma und zierliche Lärchen, deren Nadeln den Boden im Winter bedeckten, zu bieten hatte.
Der Wald erlaubte es uns nach Herzenslust zu toben, aber auch uns zurückzuziehen, zum Beispiel wenn Spaziergänger sich mit suchenden Augen näherten.
Es mangelte uns an nichts und wir bedienten uns gerne bei der Natur. Zum Beispiel stöberten wir Bucheckern auf, um diese zu knabbern, oder wir erwischten in der seltenen Walderdbeere einen Leckerbissen. Wenn nicht, suchten wir die gelegentlich vorkommenden Mehlbeeren von den Bäumen.
Trotzdem freuten wir uns auf die etwas unscheinbaren, kleinen Snacks, die Wanderer oft für uns hinterließen. Wir hatten das nicht nötig, aber dieses Verhalten der Besucher entsprang vermutlich alten Traditionen. Auch wenn sie uns oft nur aus der Ferne sahen, hatten sie dennoch das Verlangen ein kleines Gastgeschenk dazulassen. Kam es doch einmal zu etwas intensiverem Kontakt, so hatte dies meist zur Folge, dass sie umso mehr Naschkram spendierten.
Auffällig häufig waren es die Kinder, die etwas mitbrachten und die zudem oft in kleineren Gruppen in den Wald kamen. Vielleicht handelte es sich um Stadtkinder, die den Wald gar nicht kannten und seine Bewohner ebenso wenig? Jedenfalls konnten sie ihre Begeisterung manchmal kaum zügeln.
Wenn es zu laut wurde oder die Snacks ihren Reiz verloren hatten, konnten wir jederzeit woanders hinlaufen und meistens war später noch etwas Essen auf dem Boden zu finden.
Eines Tages jedoch passierte etwas Sonderbares: der vielleicht neunjährige Junge mit wuscheligen, nackenlangen blonden Haaren hielt eine wohlbekannte grüne Schachtel mit Leckereien in der Hand. Mit seinen matschverschmierten Stiefeln stapfte er in unsere Richtung, streifte die Handschuhe ab und griff in die Schachtel.
Er hielt die Leckerlis in der Hand, machte einige theatralische Gesten, und steckte sie sich dann selbst in den Mund. Mit breitem Grinsen mampfte er und rief dazwischen laut aus: „Das Zeug ist doch viel zu schade für die Rehe!“
Die anderen Kinder taten es ihm nach.

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Dein Duft ist verheißungsvoll, an sommersatte Stunden erinnernd, an dolce far niente und saftigschwere Süße, im ersten Atemholen göttlich, dann nur noch verhalten und schließlich verflogen, so tief ich auch die Nase in deinen flaumigen Pelz presse. Ich stelle mir vor, wie stark dieser Duft in deinem Fleisch wohnen wird und schon schmecke ich voraus, was meine Zunge meiner Nase berichten wird und umgekehrt.
Deine Wange streift meine Wange, schwer, weich und rund liegst du wie eine Frauenbrust in meiner Hand. Über den Flaum gleiten kosend meine Lippen so zart, als ob sie dich dahinter gar nicht berühren wollten. Sonnenwärme glüht aus dir in meine Hand hinein.

„Stell dir eine Zitrone vor“, sagst du und grinst gemein. Du hast mich beobachtet, die ganze Zeit. Bist du eifersüchtig? Weil meine Lippen dich so lange nicht kosten?
Aber ich kann es nicht verhindern, das Wasser schießt mir um meine Zunge herum zusammen, als habest du mit deinen Worten eine artesische Quelle angebohrt. Gelb wird nun mein Blick, und ich rieche das scharfe Aroma der Zitrone in meiner Vorstellung. Es kitzelt mich in der Stirn. Lass mich. Ich lächle.

Wenn ich meine Brille ablege und dich genauer in Augenschein nehme, sehe ich dein sanftes Rotorange noch besser. Hier mehr Rot, dort mehr orange, und auf der anderen Seite fast gelb, wölbst du dich meinem Blick entgegen, kleine Farbsprenkel bilden Haufen, wachsen ineinander, wandeln sich. Ein seltsamer kleiner Globus, ein fremder Planet mit roten und gelben Gaswolken. Er ist überzogen von einem grauen Nebel, einem zarthaarigen Flaum, der die Oberfläche zu beschützen scheint. Wasser rinnt über deine Rundung, im Tropfen am unteren Ende des glänzenden Rinnsals strahlt ein einzelner Sonnenlichtfunken.

Du beobachtest mich noch immer.

Ich raffe die Lippen und zeige dir die Zähne, nass vom Speichel. Mein Kiefer öffnet sich und ich setze die Zähne an. Soll ich? Soll ich noch nicht? Ich gestatte mir zu entscheiden, wann ich deine unversehrte Vollkommenheit zerstören werde und warte noch. In meinem Mund fließen von allen Seiten Bäche zu einem großen See zusammen.

„Na los? Worauf wartest du?“, sagst du.

Ja, jetzt. Ich beiße dich. Das erste Vergraben in dir ist ein endgültiges. Kühler Saft spritzt aus dir, wo ich deine Zellmembranen zerbissen habe, und läuft mir in den Mund, in den wartenden See. Ich höre, wie meine Zähne rauh an deinem Kern vorbeischarren. Ich schlürfe, meine Lippen saugen an deinem Fleisch, um ja keinen Tropfen zu verlieren. Ich kaue, höre meinen Zähnen und meiner wendigen, gierigen Zunge zu, wie sie dein Fleisch mit ihrer jahrzehntelangen Übung zerquetschen, zermatschen und deine rote, flaumige Haut zermalmen. Ich spüre meinen Kiefer auf und ab gehen und spüre meinen Schlund sich weiten beim Hinunterschlucken.

„Bah“, sagst du angewidert und stehst auf, um den Tisch abzuräumen.

Du schmeckst süß und sauer zugleich, erfrischend und durstig machend, nach Frucht und Flaum, nach Mango und Zitrone, ja auch Zitrone, und nach Vanille. Und dann schmeckst du nach Sonne und Wasser und Wärme, nach der Kraft der Erde und nach dem Licht und der Luft des Himmels, die dich haben wachsen lassen. Und nach meiner Lust und meinem Lebenshunger.

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„Kind, ett di watt. Du best fealst tau dünne.“ Das war permanent der am öftesten verwendete Satz meiner Oma. Bis heute kann ich Plattdeutsch in all seinen Dialekten verstehen aber nicht sprechen. Ich könnte vielleicht schon, doch in meinen Ohren hört es sich albern an. Freunde von mir, die sich auf Plattdeutsch kennengerlernt hatten, sprechen untereinander bis heute platt miteinander. Sobald sich jemand anderes – zum Beispiel ich - am Gespräch beteiligt, wechseln sie übergangslos ins Hochdeutsche… aber ich schweife ab…

„Kind, ett di watt. Du best fealst tau dünne.“ Kind iss was, du bist viel zu dünn. Oma wusste immer, sie tut meinem Bruder was Gutes, wenn es Bottermelksambalasse mit Pannekauken zum Mittagessen gab. Wenn mein Bruder und ich wie immer zu Fuß von der Schule kamen, und gerade den Bahndamm überquert hatten, ist mir schon der Geruch in die Nase gestiegen. Sauer und fettig. Oma hat uns immer unter der Woche bekocht. Papa war auf Montage irgendwo in Deutschland oder im Ausland, Mama im Büro bei Ostermeier.

Wie üblich stopfte mein Bruder sich direkt einen daumendocken, per Hand aufgerollten und mit reichlich Zapp übergossenen Pfannkuchen schon am Herd in den Mund, ohne vorher den Ranzen abzusetzen. Wir saßen immer auf der Eckbank in der Küche. Während mein Bruder sich hungrig über die dünne, mit ausgelassenem Speck und gebratener Blutwurst garnierter Buttermilchsuppe hermachte, bekam ich stattdessen frisches Graubrot mit Butter und Zapp. Mama war ja nicht da und konnte nicht meckern. Den Zuckerrübensirup liebe ich bis heute.

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Der Text ließe sich durch eine Endredaktion vermutlich noch straffen, indem z.B. einige Adjektive kritisch geprüft werden, ob’s im einen oder anderen Satz nicht auch ohne sie ginge. Und die bewertenden Substantive am Ende finde ich nicht nur unnötig, sondern overdone. Aber was du bei mir erreicht hast: Ich musste mich emotional wirklich zusammen-nehmen und sensorisch neu zusammen-setzen, um mein Lieblingsgemüse Nr. 4 (Wirsing - ja, tatsächlich) nach deinem Text nicht eklig zu finden. In der Text-Wirkung Chapeau!!! Dreimal Plus!

P.S.: Ich finde, du solltest deinen Texten Warnhinweise voranstellen, so wie „nichts für sensible Gemüseliebhaber“ o.ä. ;-))

  1. Du hast meine volle Empathie für dieses Kindheitstrauma.
  2. Klasse Erzählstil: Dicht, der Rhythmus hat mich gepackt und nicht mehr losgelassen.
  3. Am letzten Absatz würde ich nochmal arbeiten, er fällt (für meine Ohren) aus dem packenden Erzählton davor „irgendwie raus“. (Andreas Eschbach würde jetzt vermutlich sagen: Probier mal, wenn dir nichts Besseres einfällt, ihn einfach ersatzlos zu streichen).
  4. Aber mein Herzchen für diesen Beitrag hast du. :-))

„Ist die Todesstrafe nicht verboten bei uns?“
„Das ist keine Strafe. Das ist gut so.“
Ich biss mir auf die Lippe.
„Verdammt, ich meine –“
Mein Daumen wanderte über den harten Außenrand der Dose.
„Krebs ist keine angenehme Krankheit.“
Sie sah mich an, dann fiel ihr Blick langsam auf den Boden,wie jedes Mal, wenn ich das sagte. Für einen Moment schlossen sich meine Augen. Es dauerte mehrere Atemzüge, vielleicht sogar eine Minute, bis sie sich wieder öffneten. Sie blickte immer noch auf das grüne Linoleum des Klinikbodens.
Sie weinte nicht. Immerhin das hatten meine dauernden Kommentare erreicht. Sie saß da, wie in Watte gepackt.
„Willst du den Deckel abziehen? Immerhin ist es die letzte Dose.“
Sie schüttelte den Kopf.
Der Blechring schnitt in meinen Finger, dann sickerte langsam das braune, fischige Odeur hinauf in meine Nase. Katzen würden Whiskas kaufen. Sooft ich diesen Deckel abgezogen hatte, ohne darüber nachzudenken, jetzt füllte sich mein Magen mit Ekel. Braunem, feucht-fischigem Ekel.
„Papa?“
„Ja?“
Meine Kehle verkrampfte sich. Trotzdem begann ich wieder zu sprechen.
„Ein Raufbold wie Max findet sich schon zurecht. Egal wo oder wie. Und Katzen haben neun Leben, vergiss das ni–“
Diesmal biss ich mir auf die Zunge.
Sie lächelte. Ich lächelte zurück und beäugte denn den braunen Gatsch in meiner Hand.
„Bist du dir wirklich sicher, dass du Katzenfutter willst?“
„Ich schmecke schon lange nichts mehr. So kann ich noch einmal bei Max sein.“

Nein, Kehlkopfkrebs war nicht lustig. Nicht bei der eigenen Tochter.

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Unser erstes eigenes Kartoffelfeld legten wir an, als meine Tochter gerade zur Schule kam. Ich wollte ihr zeigen, was Pommes tun, bevor sie bei MacDonalds auf’s Fließband kommen. Das Feld war kaum größer als meine Tochter und wir furchtbar stolz in der Küche, so hatte MacDonald’s natürlich keine Chance.

Ab dem dritten Jahr geriet uns das Absammeln der Kartoffelkäfer deutlich zu arbeitsintensiv ‑ das Feld verschwand unter einem wurmfröhlichen Komposthaufen.

Daneben setzte ich Tulpenzwiebeln. Auch Anderes fand mit der Zeit seinen Weg zwischen die Grashalme unter dem Nussbaum. So gab es diesen Mai eine kleine, aber feine Ernte vom Bärlauch für’s Rührei. Auf dem Heimweg tickte in meinem Kopf ein Gedanke: Waren das wirklich Bärlauchblätter in meinem Korb?

Sicherheitshalber stellte ich zuhause den Korb erst einmal ab und mich vor’s Notebook, denn der Bärlauch hat laut den Kräutersammelwarnhinweisen der NDR-Homepage Verwechslungskandidaten: Wie unterscheide ich ihn also ganz genau, ganz sicher vom giftigen Maiglöckchen, oder vom fleckigen Aronstab? Mein Blick geht zum Korb. So appetitlich … Diese ganze Warnerei, merke ich, macht mehr Angst als die Fotos daneben helfen, die Ernte eindeutig abzugrenzen von möglicherweise gesundheitsgefährdenden Alternativen. Mann, das nervt. Echt!!!

Jetzt im Herbst bin ich oft im Wald und erweitere mein Wissen über Steinpilz&Co. Immer wieder bekomme ich wohlmeinende Warnungen zu hören vor giftigen Verwandten, nehme sie gebührend ernst und bilde mich akribisch weiter: Neben flockenstieligen Hexenröhrlingen gibt’s ja noch den Satanspilz: Erstere kann man essen, soll sie aber zur Vermeidung übler Verdauungsstörungen vorher durchgaren, zwecks Denaturierung (sprich: Unschädlichmachung) der darin enthaltenen Nervenkampfstoffe. Vom Satanspilz lässt man die Finger tunlichst ganz. Champignons hingegen sollten nicht verwechselt werden mit Knollenblätterpilzen, von denen bereits eine einzige Lamelle tödlich sein kann.

Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: Wie haben wir das damals bloß überlebt? Damals, als wir, zwölf Jahre alt und die Mutter im Schlepptau, durch die Wiesen ums Dorf stapften, jeder mit einem Korb unterm Arm? Auf der Jagd nach dem nächsten Champignon, der dann zuhause mit seinen Kumpels schöpfkellenweise Spaghetti in Sahnesoße ertränken durfte.

Am ehesten, lernten wir damals, wachsen Champignons auf Großviehweiden. Da, wo die dunkelgrünen Flecken sind. Dunkelgrün gleich Kuhkacke gleich pilzfreundlich gedüngt gleich Champignons. Kleine, cremeweiße, knackige, sehr appetitlich nach Anis duftende Champignons. Wie kann, fragten wir uns, etwas so gut schmecken, das auf Kacke wächst? Aber wir fragten uns das nicht lange, wir sammelten. Körbeweise. Zuhause wurde dann geputzt, geschnetzelt und eingefroren. So lecker das Pilzfrikassee war, mehr als zwei Teller schaffte keiner.

Dass Pilze in Kombination mit Alkohol ebenfalls mit Vorsicht zu genießen wären, hat mir damals auch keiner erzählt: Bei meiner Mutter musste ein Schuss Pinot Blanc ans Frikassee, sonst war’s nur halb so gut.

Ich kann mich auch nicht erinnern, dass sie uns damals vor Knollenblätterpilzen oder ähnlichen Champignonverwechselbaren gewarnt hat. Sind Mütter vielleicht doch nicht so nett, wie sie immer tun? Oder gibt’s Knollenblätterpilze nur nördlich des Weißwurschtäquators und wir im Badischen mussten uns um Gefahren, die näher am Polarkreis wachsen, gar nicht kümmern?

Nein, ich glaube, die Wahrheit ist viel einfacher: Damals gab’s kein Internet und wir hatten einfach Glück …

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Grumbeer Spatzen

„Das sehe ich schon, das esse ich nicht, das schmeckt auch nicht!“, mit dem Selbstbewusstsein eines aufmüpfigen Drittklässlers betrete ich die Wohnstube. Der Schulweg war lang. Ich bin hungrig. Mein Blick ist auf die Schüssel auf dem Tisch der Eckbankgarnitur gerichtet. Dort dampft eine hügelige, graue Masse. Ich weiß nicht, was das wieder Gesundes sein soll. Ich weiß aber, dass ich das nicht essen werde. Ganz sicher nicht. Meine Großmutter und Großvater lachen. Sie setzen ihr pädagogisches Geschick ein, um mich auf den Geschmack zu bringen. Eine Traditionsspeise sei es, schon die Großmutter meiner Großmutter hat sie zubereitet. Ich bleibe skeptisch und betrachte die Schüssel näher. Graue spindelförmige Klöße in einer Rahmsauce mit Zwiebeln und Speck, garniert mit frisch gerösteten Croutons. „Das sind die rohen Kartoffeln im Teig“, erklärt meine Oma die Farbe. Eine gute halbe Stunde später kocht sie aus dem Kochwasser der Kartoffelklöße eine Suppe. Die enthält viel Stärke, der Kartoffelteig aus zwei Dritteln rohen Kartoffeln gibt viel ab, beim Garen. Die Brühe ist nahrhaft, wenn auch deutlich weniger sättigend als ihre temporären Gäste. Meine Großeltern setzen sich zu mir. Sie löffeln ihre Suppe aus. Die Schüssel Grumbeer Spatzen habe ich allein gegessen. Überzeugen habe ich mich lassen, die Hoorigen zu probieren. Es war Liebe auf den ersten Biss - und zweiten Blick. Außen sorgt der rohe Teig für eine raue, haarige Textur und innen für den Biss der fingerlangen Klöße. Die würzige Rahmsauce hält sich gut daran. Die Klumpen sind fest für ein Kartoffelgericht. Außen etwas weicher, dann wird gekaut. Genau richtig für jemanden wie mich, der nicht gerne Fleisch ist. Die würzigen, gebratenen Speckwürfel und die knusprigen Croutons liefern einen krachenden Gegensatz. Hausmannskost mit Kontrasten wie beim Gourmetkoch. Noch heute ziehe ich die Grumbeer Spatzen jedem 3-Sterne Kochgericht vor. Zum Glück lebt meine Großmutter noch. Gelegentlich bin ich bei ihr. Wir kochen dann zusammen Hoorige. Die möchte ich später auch mal für meine Enkel kochen.

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Der Windstoß bringt die Kerze zum Flackern. Rasch schütze ich das kostbare Gut, damit ich nicht plötzlich im Dunklen stehe und werfe meiner Schwester einen verärgerten Blick zu.
»Ich muss mich für die Schule fertig machen. Gib mir die Kerze und verschwinde«, befiehlt sie und deutet auf die offene Tür. Dahinter liegt der Flur. Schwarz und voller Monster.
»Ich habe mir noch nicht die Zähne geputzt«, erwidere ich und hasse mich dafür, wie dünn meine Stimme klingt.
Heute Morgen ist meine Schwester gnädig und gestattet mir, zu bleiben. Während sie aus der zerdrückten Tube klägliche Reste auf unsere Zahnbürsten drückt, sehe ich aus dem Fenster. In der Nacht hat es geschneit und eine weiß schimmernde Decke liegt über den Beeten in unserem Vorgarten. Kein Wunder, dass unser Atem beim Ausatmen vor unseren Gesichtern kräuselt.
Zähneputzen verrichten wir schweigend, auf das Waschen mit dem eiskalten Wasser verzichten wir.
Ich überlege, ob ich meine Schwester bitten soll, zu schauen, ob Flecken auf meinem Pullover sind. Doch bei Kerzenschein ist das ein nutzloses Unterfangen und ich werde die Wahrheit erst sehen, wenn ich im unbarmherzigen Licht meines Klassenzimmers stehe.
Stattdessen folge ich meiner Schwester im Schein der flackernden Kerze in die Küche. Dort treffen wir auf unseren Bruder und unsere Mutter. Während mein Bruder stoisch auf die Tischplatte vor sich starrt, steht meine Mutter an einem offenen Küchenschrank.
»Macht eure Kerze aus«, sagt sie anstelle einer Begrüßung, ohne sich umzudrehen. »Wir wollen sie nicht verschwenden.«
Meine Schwester schnaubt. »Wann können wir damit rechnen, dass sie uns den Strom wieder anschalten?«
Die Bewegungen meiner Mutter verharren für einen Moment, bevor sie sich umdreht. Es knistert in ihren Händen, während sie zu uns an den Tisch kommt.
Für einen Moment denke ich, dass sie nicht antworten wird.
»Sobald dein Vater Geld schickt, bezahle ich die Rechnung«, verspricht meine Mutter leise. Eine wage, ungenaue Hoffnung, an der wir uns klammern, weil es keine Alternative für uns gibt.
Während meine Mutter uns mit schalen Versprechungen hinhält, angelt sie aus der knisternden Tüte zwei Scheiben Brot. Eine Scheibe bricht sie in zwei gleichgroße Teile, die sie mir und meiner Schwester zuschiebt. Die andere Scheibe bricht sie ebenfalls in zwei Teile. Das deutlich Größere gibt sie meinem Bruder, das Kleinere behält sie.
Die Butter ist uns vor drei Tagen ausgegangen, die Marmelade vor einer Woche, die Wurst vor zwei. Beim Brot hatten wir Glück, denn das gab es im Sonderangebot. Dunkles Bauernbrot von minimal für 0,59 Pfennig. In der Tüte erkenne ich weitere drei Scheiben. Und bis zum Monatsende, an dem mein Vater uns einen Teil seines Gehaltes schicken wird, sind es noch vier Tage.
Mein Magen knurrt angesichts dieser Rechnung und rasch beiße ich von meiner Hälfte ab, um den Laut zu überspielen.
Das Brot ist hart und trocken. Jeder Biss, jede Bewegung meines Kiefers verdoppelt die breiige Maße in meinem Mund. Trotz des Speichels, den mein Hunger produziert, gelingt es mir nur mühsam, einen Teil herunterzuschlucken. Dabei denke ich an Spaghetti carbonara und an Kartoffeln mit brauner Sauce. Anstelle der bitteren Roggennote schmecke ich Milchreis mit Apfelmus auf meiner Zunge. Ich rieche keine Hefe, sondern den Duft von warmen Apfelkuchen.
Nachdem der letzte Biss meine Kehle heruntergerutscht ist, fühle ich mich leer und unbefriedigt. Mein Magen protestiert angesichts des kläglichen Frühstücks. Aus Erfahrung weiß ich allerdings, dass zwei Gläser mit Wasser ihn zum Verstummen bringen. Zumindest bis zur Mittagspause, wo ich auf eine Mahlzeit in der Schule hoffen kann. Anders als meine Mutter, die heute nichts anderes zu sich nehmen wird, als ein bisschen Brot und dünner Kartoffelsuppe.

Bis heute kann ich keine Scheibe Brot essen, ohne das mein Verstand auf Reisen geht. Und selbst an einem überladenen Abendbrot-Tisch verspüre ich nagenden Hunger. Denn es gibt Hunger, die vermag nichts zu stillen. Auch nicht Phantasie.

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Schwarzwälder Kirsch

Der feine Nieselregen ist wie ein pieksiger Schleier auf meinem Gesicht. Immer wieder blinzle ich die kalten Tropfen von meinen Wimpern und ziehe die Schultern weiter nach oben. Papa drückt meine Hand und wir gehen etwas schneller. Als wir um die Ecke biegen, ist das gruselige Winterwetter fast vergessen. Schon von Weitem sieht man die Menschen, die sich vor den beiden goldumrahmten Schaufenstern tummeln, mit großen Augen die Auslagen begutachten und mal hierhin und dorthin zeigen, um sich gegenseitig auf die Leckereien aufmerksam zu machen. Die dunkle Holztür mit dem bunten Glasfenster und der grünen Markise, die zwischen den Schaufenstern liegt, öffnet sich und ein altes Ehepaar tritt auf die Straße. Tief atme ich den Schwall warmer Luft ein, der nach gerösteten Mandeln, Äpfeln und Kaffe riecht und verführerisch nach mir winkt.
Wir treten an eines der Fenster und bewundern die Schaustücke. So viel Zeit muss sein. Neben den Marzipanfrüchten türmen sich Nusszöpfe, Florentiner, Sandkuchen und seltsam aussehende Brötchen mit bunten Stücken darin, deren Namen ich nicht kenne. Das Schönste für mich ist die Hochzeitstorte. Drei Etagen aus cremigweißen Girlanden, Blüten und Herzen. Ich kann mich gar nicht sattsehen an den zierlichen Mustern und zeichne die Verzierungen mit dem Finger auf der Fensterscheibe nach.
„Bis du so eine bekommst, dauert es hoffentlich noch viele Jahre“, lacht mein Papa und schiebt mich in Richtung Eingang. Er zieht die massive Tür auf und lässt mir den Vortritt. Seine Hände auf meinen Schultern kämpfen wir uns durch das Gedränge aus Touristen, die bevorzugt die fertigen Keksmischungen in den bunten Dosen kaufen, in Richtung Vitrine. Hier drinnen ist es warm, fast stickig und ich ziehe mir die Mütze vom Kopf und lockere meinen Schal. An einer dicken Oma vorbei versuche ich, einen ersten Blick auf die Kuchen und Torten hinter dem Glas zu erhaschen. Ich entdecke fein gehobelte Schokolade, Türmchen aus Sahne, irgendwas Komisches mit einer lila Creme außenrum und glänzende gelbe Früchte. Ich schlucke und beginne, unruhig herumzuzappeln.
Endlich sind wir an der Reihe.
„Was darf es sein?“, fragt eine ältere Frau mit weißer Rüschenschürze und passendem Häubchen auf den grauen Haaren.
„Schwarzwälder Kirsch!“, antworten Papa und ich gleichzeitig und grinsen uns an. Tradition ist Tradition.
Wir nehmen unsere Bestellzettel und steigen die hölzerne Wendeltreppe hinauf, die immer ganz furchtbar knarzt und quietscht. Ich drücke mich durch den schweren dunkelroten Samtvorhang, dann ist es geschafft. Oben ist es ruhiger, kein Gedränge und lautes Rufen. Stattdessen summt die Luft von den leisen Gesprächen an den Tischen und dem Klirren der Kuchengabeln und Kaffeelöffel auf dem feinen weißen Porzellan. Papa ergattert einen Platz in einer der Fensternischen und ich setze mich mit einem erleichterten Seufzen. Ich bin kaum aus der Jacke geschlüpft, als eine Bedienung unsere Getränkebestellung aufnimmt und die Kuchenzettel entgegennimmt. Drei Minuten später sitze ich mit einem seligen Lächeln vor einer Tasse Kakao mit Sahne und einem wunderbar riesengroßen Stück Schwarzwälder Kirschtorte.
„Lass es dir schmecken, mein Schatz!“ Papa streichelt lächelnd über meine Wange und gießt sich dann seinen Tee ein.
„Gleichfalls“, nuschle ich, da ich mir das erste, viel zu große Stück bereits in den Mund geschoben habe. Andächtig kaue ich. Buttriger Mürbeteigboden, fluffig-schokoladiger Biskuit, süßsaure Kirschen, cremige Sahne und zartschmelzende Schokoflocken vermischen sich zu einem warmen Gefühl, das mich sanft durchströmt.
„Das ist so lecker!“ Ich puhle mit der Zunge einen Krümel aus meinem Mundwinkel.
„Es gibt nichts Besseres“, nickt Papa mit einem verschwörerischen Grinsen. Ich lächle ihn versonnen an. Ja, es gibt wirklich nichts Besseres!

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Bacon

Es war ein langer Abend.
Mein Hotelzimmer riecht immer noch nach einer Mischung aus abgestandenem Bier und schlechtem Whisky. Vielleicht hilft eine warme Dusche. Das Wasser läuft in unzähligen Rinnsalen über meinen Körper. Jede Zelle registriert das belebende Nass. Als ich fertig bin, folgt ein letzter Blick in den Spiegel. Die Haare wollen einfach nicht liegen. Da hilft aber jetzt nichts mehr. Es ist so, wie es ist.
Mein Weg in den Speisesaal gleicht mehr dem Schwanken auf einem Schiff bei Wellengang. Im Fahrstuhl lehne ich mich an die verspiegelte Wand, schließe kurz die Augen und lasse mich von der Musik berieseln. Wer stellt da nur die Playlisten zusammen? Irgendwie klingt alles wie das Gejaule eines sterbenden Tieres. Apropos Tier… ich brauch erstmal einen Kaffe und eine dicke Portion Rührei mit Bacon. Ohne das Zeug kann ich gar nicht leben.

Der Speisesaal ist gut gefüllt. Viele sehen so aus, als ob sie um vier in der Früh extra aufgestanden sind, um sich für dieses Event in Schale zu schmeissen. Manch geschminktes Gesicht brennt einem unvergessliche Bilder in die Augen. Über allem liegt der irritierende Geruch von fettigen Speisen, Kaffe und zu viel aufgetragenem, billigem Parfüm. Mein Blick bleibt an dem Tisch an dem großen Panoramafenster auf der gegenüber liegenden Seite hängen. Da sitzt Theo. Unser Techniker. Die anderen Jungs von der Band sind schon abgefahren. Alles brave Familienväter. Ich winke ihm blinzelnd zu. Hinter ihm schickt die Sonne ihre unbändige Kraft in Form von grellem Licht durch das Fenster. Und das morgens um neun. Ich steuere langsam auf ihn zu und vermeide dabei Zusammenstöße mit Gästen, die ihre übervollen Teller geschickt durch den Raum balancieren. Alles Profis.
„Guten Morgen. Gut geschlafen?“
Theo ist nicht mehr wie ein Umriss. Ein Scherenschnitt, der vor meinen Augen verschwimmt.
„Ja, du mich auch. Kaum ein Auge zugekriegt. Diese Hotelbetten. Fürchterlich!“.
Meine Stimme klingt mehr wie das Krächzen eines rostigen Wasserhahns, den man zu weit aufgedreht hat. Bevor Theo etwas sagen kann, bin ich auf dem Weg. Erst das Essen. Wie von selbst, einem natürlichen Instinkt folgend, steuere ich die silberne Schüssel mit dem Rührei an. Sie erscheint vor mir, umrundet von einem leuchtenden Kranz, und ruft nach mir. Ich mache den Teller voll. Bin ja nicht zuhause. Dann kommt der Bacon. Und davon eine Menge. Saftig glänzen die braunen Streifen, als ich sie vorsichtig einen nach dem anderen auf den Teller lege. Schön drapiert, um das Rührei herum. Der Kaffe ist nur noch Beigabe. Mit geübten Bewegungen fülle ich den Becher aus einer Thermoskanne, die wohl für Riesen gemacht wurde. Es riecht verbrannt. Typisch Hotelkaffee.
Ich balanciere mein Gut zum Tisch und reihe mich dabei in die rhythmischen Bewegungen der anderen Hotelgäste ein. Hier und da eine leichte Schwingung der Hüfte, um einen Stuhl oder Tisch zu umgehen. Ab und an ein plötzlicher Halt, um niemanden umzurennen (obwohl es dabei mehr um die Sicherheit meiner kostbaren Ware geht). Ich erreiche den Tisch mit einem triumphalen Grinsen und setze mich auf die gegenüberliegende Seite. Theo hat seine Teetasse (der Arme trinkt keinen Kaffe) in der Hand und schaut mich über deren Rand neugierig an. Ich atme tief ein und wieder aus. In der Zeit habe ich bereits die Gabel in der Hand. Und schon landet der erste Bissen Rührei in meinem Mund. Es ist eine Explosion der Geschmacksknospen die …
„Du warst gut gestern.“, reisst mich Theo aus meinen Gedanken.
„Was? Wie?“, murmele ich mit vollem Mund.
„Na, deine Gitarre gestern. Echt spitze! War ein gelungener Auftritt.“
„Jaja“, gebe ich genervt zurück. Ich will essen und nicht über den Gig mit meiner Band reden. Ich hab mich mindestens zwanzig Mal verspielt. Aber wie sagte einst mein Gitarrenlehrer:
„Gut bist du dann, wenn man deine Fehler nicht mehr hört“.
Theo versteht und lässt mich in Ruhe den zweiten Bissen nehmen. Das Ei erscheint wie eine Offenbarung. Es ist salzig und im Mund kann ich spüren, wie die kleinen Luftbläschen zerplatzen, die im Ei eingeschlossen sind. Hier hat jemand Ahnung und hat das Rührei mit Mineralwasser angesetzt. Jetzt kommt der vorläufige Höhepunkt. Ich schaufele den Bacon auf meine Gabel. Das Knacken im Mund ist unbeschreiblich. Und dann das Aroma. Ein Hoch auf den Geschmacksträger Fett.
„Du weißt schon, dass Tiere für deinen Bacon sterben mussten?“
Ich hatte Theo fast vergessen.
„Schwein!“, gebe ich mit vollem Mund zurück.
Theos Augen weiten sich und sein Blick brennt sich in mein Gesicht.
„Ein Schwein musste dafür sterben. Nicht irgendwelche Tiere.“, fahre ich hastig fort. Theo wirkt angespannt. Seine Silhouette vor dem Fenster scheint zu wachsen und wirkt bedrohlich. Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl nach hinten. So etwas kann ich jetzt gar nicht gebrauchen. Ich will essen! Sonst nichts!
„Über fünfzig Millionen Schweine werden jedes Jahr geschlachtet. Das sind doch wohl eine Menge Tiere oder nicht?“
Theatralisch knalle ich die Gabel auf den Teller. Bacon und Rührei hüpfen in ballettartigem Einklang.
„Sag mal, spinnst du? Ich will in Ruhe frühstücken und du kommst mir mit so einem Müll.“
„Ich mein ja nur…“. Theo hebt abwehrend die freie Hand. „Leute wie du sollten sich mal mehr Gedanken darüber machen, was sie da in sich hinein schaufeln.“
Vielleicht sollte man erwähnen, dass Theo Veganer ist. Aber eben auch ein verdammt guter Tontechniker. Niemand ist perfekt.
„Theo…“. Ich beuge mich vor und straffe die Schultern. „Wir kennen uns jetzt drei Jahre, sind jede Woche auf Tour. Ich hab in dieser Zeit locker schon zwei Schweine in allen möglichen Zubereitungsarten verdrückt. Von Hühnern ganz zu schweigen. Und jetzt kommst du mir mit sowas?“
Ich klinge verzweifelt. Unverständnis zeichnet sich in meinem Gesicht ab, wie eine blasse Karnevalsmaske. Theo kneift die Lippen zusammen und sagt nichts. Zeit für eine Gabel Rührei. Dabei fällt mir auf, dass ich auch hier etwas esse, was kurz davor war, zu leben. Ich kaue langsam und hab Schwierigkeiten beim Schlucken.
Theo umschließt seine Tasse, als ob er sich bei diesem Wetter die Hände wärmen müsste.
„Ich mein ja nur. Jeder redet übers Essen, als sei das etwas Heiliges.“ Ist es ja auch, denke ich.
„Aber keiner macht sich Gedanken darüber, was er damit anrichtet. Tiere müssen sterben, und das meist qualvoll, und wir zerstören die Umwelt, damit wir billiges Fleisch produzieren können. Findest du das etwa in Ordnung?“
Nein, finde ich nicht! Aber was soll ich jetzt sagen? Ich bin Täter.
Ich zucke mit den Schultern. Ich fühle mich ertappt. Schuldig. Und gar nicht mehr gut. Ein letzter Versuch der Rettung.
„Wer sagt denn, das Pflanzen keine Seele haben? Es gibt Untersuchungen, nach denen Pflanzen schneller wachsen, wenn man Mozart oder Beethoven laufen lässt. Bei Heavy Metal tut sich gar nichts. Also haben die doch auch ein Bewusstsein für gute Musik? Und du isst sie! Ha!“ Triumphierend schwinge ich die Gabel wie ein Dirigent durch die Luft. Theo schüttelt den Kopf.
„Oh Mann, lass den Unsinn. Das hat nichts miteinander zu tun. Außerdem geht es nicht darum, was wir essen. Es geht darum, wie wir essen. Die Natur ist ein Kreislauf. Und alles stirbt irgendwann mal. Die Frage ist nur wie. Wir müssen einfach mit dieser wahnsinnigen Massenproduktion aufhören und Lebensmittel qualitativ hochwertig machen.“
Mann, ist der Junge gut. Ich habe genug. Ich schiebe den Teller von mir weg und lasse mich in meinen Stuhl fallen. Instinktiv sehne ich mich nach dem schalen Bier und dem schlechten Whisky von gestern. Ich überlege einen Moment. Dann platzt es aus mir heraus. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht gibt es da etwas, das schon lange in mir gesteckt hat. Vielleicht war diese kurze Diskussion auch nur der Abschluss von vielen versteckten Gelegenheiten. Eine hochgezogene Augenbraue hier, eine gerümpfte Nase da, der abgelehnte Besuch eines Fast Food- Restaurants woanders. Theo hatte mir schon immer Zeichen gegeben. Wir hatten non verbal schon immer diskutiert. Und das seit drei Jahren.
„Okay, mein Freund. Ich mach dir einen Vorschlag: Die nächsten vier Wochen zeigst du mir, was du so isst. Du gibst mir Rezepte, berätst mich und ich verzichte auf Fleisch.“
Theo starrt mich an, als ob ich soeben um die Hand seiner Schwester angehalten hätte.
„Und das meinst du ernst?“, sagt er zaghaft.
„So richtig ernst!“, antworte ich selbstsicher.
Wie man das unter Männern so macht, reiche ich ihm die Hand. Damit ist die Sache beschlossen.
Auf der Rückfahrt denke ich lange nach. Was wir so alles tun, um uns die Bäuche voll zuschlagen. Es ist schon erstaunlich, was man bei Hunger alles ausblendet. Dabei leiden wir nicht mal an irgend einem Mangel. Wir leben im Überfluss. In einer Zeit der Gier und Rücksichtslosigkeit. Der einzige Mangel, den wir haben, ist die fehlende Empathie für unsere Welt.
Ich verspreche nicht, dass ich ab morgen ein besserer Mensch werde. Aber ich werde es zumindest versuchen. Und Theo… ist weit mehr, als der Techniker einer zweitklassigen Rockband.

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Du Glückliche , ich habe Grenadiermarsch gehasst :grin:. Und den rote Rüben Salat der ihn obligatorisch begletete genauso… Leider gab es dieses Restlessen sehr oft, besonders wenn sich der Monat zu Ende neigte und das Börserl meiner Oma immer leerer wurde. Grenadiermarsch erinnert mich noch heute daran, wie oft in meiner Jugend der Groschen umgedreht wurde und es doch immer zu wenig war… Schlimmer waren nur noch die „einbrennten Hund“, wie man im Wienerischen zu Kartoffeln mit Einrenn/Dillsauce mit Essiggurkerl sagt. Da bekomm ich heute noch einen Gänsepullover auf der Haut​:wink:

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Kohlsuppe zu Weihnachten
„Mama, was essen wir zu Weihnachten?“, fragte Christa ihre Mutter.
„Kohlsuppe“, antwortete diese, ohne von ihrer Näharbeit aufzuschauen.
„Schon wieder?“ Die Enttäuschung in Christas Stimme konnte ihrer Mutter nicht verborgen bleiben.
„Nein, natürlich nicht. Ich bereite uns aus den edelsten Zutaten ein Drei-Gänge-Menü zu.“
„Wirklich?“
„Du dumme Göre. Woher sollte ich wohl die Zutaten für ein Drei-Gänge-Menü herbeizaubern. Wir können froh sein wenn wir eine Kohlsuppe und zur Abwechslung ein wenig frisches Brot kriegen können.“
„Johannes hat in der Schule allen erzählt, dass es bei ihnen einen Braten mit allem Drum und Dran geben wird und sogar einen selbstgebackenen Kuchen mit richtigem Mehl und Butter. Warum haben wir so etwas nicht, Mutter?“
„Weil Johannes Vater einen Klumpfuß hat und deshalb nicht für den Krieg eingezogen wurde. Ich kann mich noch gut erinnern, er war damals in meiner Klasse. Als kleiner Junge war er so doof im Häcksler hängen zu bleiben. Soweit ich weiß findest du Johannes doof. Wie der Vater so der Sohn.“
„So doof kann sein Vater nicht gewesen sein, er hat ja deshalb nicht in den Krieg gemusst und kann jetzt Braten zu Weihnachten essen, während wir wässrige Kohlsuppe löffeln. Alle lachen mich und Joachim in der Dorfschule aus, weil wir nichts haben. Nicht mal einen Vater.“
„Du hältst jetzt besser deinen Rand und gehst ins Bett, sonst vergesse ich mich.“
Das war wie immer der Punkt, an dem jede weitere Diskussion mit Mutter ein Ende fand.
„Du brauchst gar nicht so grimmig zu schauen Christa. Das ändert nichts daran.“
„Und wenn es ein Weihnachtswunder gibt?“
„Ach Kind, an Wunder glaube ich schon lange nicht mehr. Ins Bett mit dir. Ich möchte heute Abend nichts mehr von dir hören.“
Christa verließ den Raum und stapfte missmutig die knarzende Holztreppe hoch. Momentan nutzten sie nur zwei Räume des alten Bauernhofs. Die Stube, in welcher sich der ganze Tag abspielte und das Schlafzimmer in welchem sie alle drei im großen Bett der Eltern zusammen schliefen. Die Stube war der einzige Raum, für den sie regelmäßig genug Holz zusammengesammelt bekamen, um ihn halbwegs warm zu halten. Das Schlafzimmer blieb dagegen kalt, außer man kuschelte sich ganz fest unter die Decke.
„Warum musst du dich ständig mit Mutter streiten?“, fragte ihr älterer Bruder Joachim. Er saß auf dem Bett und las im Schein einer Kerze ein Buch.
„Lass mich in Ruhe“, fauchte ihn Christa an. Eine Belehrung des älteren Bruders war, was sie jetzt am allerwenigsten wollte.
„Mutter hat Recht. So wie früher wird es nie mehr werden. Der blöde Krieg hat alles zerstört. Ich kann mich noch an Weihnachten 1940 erinnern. Da hatten wir alles und lebten noch in Berlin. Das war das letzte schöne Weihnachten.“
„Schön für dich. Da war ich noch nicht auf der Welt. Jetzt haben wir nur noch Kohlsuppe. Das wird kein schönes Weihnachten.“
„Für mich ist Kohlsuppe zu Weihnachten in Ordnung. Hauptsache wir haben etwas zu essen.“
„Nicht wenn sie nur aus Wasser besteht, Joachim. Ich hasse Kohlsuppe.“
Kohlsuppe hing Christa langsam aber sicher zum Hals heraus. Mutter hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Suppe mit Wasser zu strecken, so dass sie mindestens für drei Tage ausreichte. Jedes Mal wenn es Kohlsuppe gab, roch Christa dies schon auf dem Heimweg von der Dorfschule. Tagelang rochen die Kleider nach Kohl und jetzt im Winter lüftete Mutter nur noch selten die enge Stube wegen der Eiseskälte draußen und weil sie es sich nicht leisten konnten mehr als diesen einen Raum zu beheizen.

Die Tage bis zum 24. Dezember vergingen wie im Flug. Ein Wunder bezüglich des Weihnachtsessens bahnte sich nicht an. Die Mutter hatte ihren guten Schal und ein paar alte Schuhe für zwei Kohlköpfe, Gemüse, Butter und Brot eingetauscht. Fleisch war nicht zu haben, denn wer welches besaß, wollte es so kurz vor Weihnachten nicht mehr tauschen, für nichts auf der Welt.

Am Tag von Heiligabend waberte der Duft von Kohl durch die Stube. Christa hielt es nicht länger aus. Sie und Joachim begaben sich nach draußen zum Spielen, hielten es aber bei der strengen Kälte nicht lange aus. Das Essen stand bereit, als sie beide hereinkamen. Ein Fremder saß dort und löffelte dem Schmatzen nach zu urteilen genüsslich Kohlsuppe.
Joachim lief sofort auf den Mann zu und fiel ihm um den Hals. Erst jetzt begriff Christa wer der Fremde war.
„Papa, Du bist endlich wieder da.“
„Ja, es ist unser kleines Weihnachtswunder“, sagte die Mutter. „Kommt, setzt Euch an den Tisch. Es ist genügend Kohlsuppe für alle da. Auch für dich, Christa. An einem so schönen Tag muss doch selbst Dir Kohlsuppe schmecken.“
„Kohlsuppe wird trotzdem nie mein Lieblingsessen werden.“ Und in Gedanken fügte Christa für sich hinzu: „Aber es wird mich immer an dieses besondere Weihnachtsfest erinnern, an welchem mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte und wir endlich wieder eine Familie wurden.“

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Meine Oma hat Zwiebelsaft auch wohl mal erwähnt, glücklicherweise aber niemals verabreicht. Ihre Mutter wiederum bereitete wohl einen Hustensaft aus braunen Wegschnecken und Zucker zu. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie der wohl aussah und schmeckte. Vermutlich wollte man danach nie wieder Weinberg- noch Lakritzschnecken essen.

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Hausgemachte Linsensuppe

Schon am Vorabend war Mama damit beschäftigt, die trockenen Linsen in einer Schüssel mit Wasser einzuweichen. Sie deckte die Schüssel stets mit einem karierten Geschirrtuch ab und stellte sie neben die alte Brotschneidemaschine auf die Anrichte. Dort stand sie dann bis zum nächsten Vormittag.

In mir löste dieses Ritual eine gewisse Vorfreude auf das aus, was am Tag danach auf dem Mittagstisch stand.

Linsensuppe!

In den 1960er Jahren war Linsensuppe ein Arme-Leute-Essen, das es in den Arbeiterfamilien wie unserer in fast jeder Woche einmal gab. Wir Nachbarskinder waren gerne einmal bei den anderen zum Mittagsessen zu Gast und kamen in den Genuss der Kochkünste anderer Mütter und Omas. So musste ich im Laufe der Zeit feststellen, dass keine der anderen Hausfrauen in der Nachbarschaft so gute Linsensuppe kochen konnte, wie meine Mama.

Manche servierten ihren Familien in Wasser gekochte Linsen und der Sud war mit wenigen Kräutern „gepimpt“. Um Geschmack daran zu bringen, stand fast überall eine Flasche Maggi auf dem Tisch. Natürlich bedienten sich die Hungrigen daran und manche so sehr, dass ein penetranter Geruch nach dieser Würzbrühe in der Raumluft lag.

Gottseidank musste ich zuhause niemals zur Maggiflasche greifen, denn Mamas Linsensuppe schmeckte auch ohne dieses Zeug hervorragend.

Mama kannte offensichtlich das richtige Rezept, dem Wasser den nötigen, guten Geschmack zu verleihen. So kochte sie immer eine Speckschwarte mit. Eine in dünne Scheiben geschnittene Zwiebel kam in den Topf, ein Lorbeerblatt, in Würfel geschnittene Kartoffeln, je eine Prise Pfeffer und Salz, Möhrenstückchen und kleingehackte Petersilie.

Ein kleiner Brühwürfel, den man auch für eine Tasse Boullion nehmen konnte, wurde zerbröselt und in das Wasser gerührt. Das Ganze wurde dann so lange gekocht, bis die Kartoffeln weich wurden. Auf kleiner Flamme köchelte die Suppe weiter, mindestens eine Stunde.

Dann kam der Clou. Statt der sonst üblichen kleinen Fleischwürstchen kamen bei uns Rindswürste in die Suppe. Die Haut der Würste stach Mama mit einer Rouladennadel mehrfach an, damit sich der deftige Geschmack in die Suppe ausbreiten konnte.

Dieser feine, differenzierte Geschmack liegt mir heute noch auf der Zunge, wenn ich an Mamas Linsensuppe denke. Den letzten Pfiff gab es dann mit einem Schuss Melfor, einer milden Essigwürze aus unseren kleinen Ländchen. Die Anderen veredelten sich die Suppe mit einen Löffel Sahne. Beide Arten sind bis heute bei uns üblich.

Linsensuppe wurde zu einem meiner Leibgerichte.

Noch heute gibt es öfter Linsensuppe, wenn auch mit leicht veränderter Rezeptur. Während meines Studiums hatte ich mir wegen des oft schlechten Essens in der Mensa das Kochen beigebracht. So experimentierte ich viel, musste Manches essen, was an Körperverletzung grenzte, aber ich lernte und wurde immer besser.

Heute greife ich auf die damaligen Erfahrungen zurück und meine Linsensuppe schmeckt auch meiner Familie bis hin zu den Enkeln.

Als ich meine Frau kennenlernte und sie zum ersten Mal Linsensuppe auf den Tisch stellte, natürlich selbstgekocht, war mit schnell klar, dass sie die Richtige ist. Ihre Linsensuppe war köstlich.

Gibt es etwas Besseres als eine gute Linsensuppe? Ja, eine gute, aufgewärmte Linsensuppe von gestern!

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Es ist faszinierend, wie unterschiedlich das gleiche Essen in Erinnerung bleiben kann, oder?
Bei uns war es sicher auch sehr oft auf dem Tisch, wenn der Monat sich dem Ende genähert hat, auch wenn ich das als Kind so noch gar nicht wahrgenommen haben. Allerdings blieb mir der Rübensalat dazu auch erspart. :slight_smile:
Ich erwische mich sogar ab und an dabei „zufällig“ zu viele Kartoffeln abgekocht zu haben und damit muss ich ja noch was machen …

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Guten Morgen , ja, das macht unsere Leben ja so spannend, gleiche Situation - vollkommen andere Wirkung. Wobei ich natürlich nicht weiss, wie dein Grenadiermarsch geschmeckt hat. Kartoffeln liebe ich ja auch, aber eher mit Butter und Salz, oder als Rösti, Kartoffelpürre, Puffer und ganz besonders als Chips :grin: Das Mischmasch kann ich nur nicht mehr sehen…

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Es wird gegessen was auf den Tisch kommt

Es war mal wieder so weit, die Jagdsaison hatte begonnen. Wir selber lebten zwar nur auf dem Land, hatten überhaupt keine Beziehung zu den Jägern und Bauern, die alljährlich ihrer Jagdlust nach kamen, aber meiner Ansicht nach hatten wir immer wieder das zweifelhafte Vergnügen, mindestens eines der geschossenen Tiere, von den Jägern nach Beendigung der Jagd, geschenkt zu bekommen. Meine Eltern und meine Großeltern waren jedes Mal begeistert, nur wir Kinder nicht, und ich schon gar nicht. Für mich war der Geschmack von wild einfach nur widerlich.

Die Jäger, brachten uns in diesem Jahr einen Hasen und einen Versand vorbei. Der Hase wurde von Opa und meinem Vater direkt nach dem wir diese Tiere in Empfang genommen hatten, gehäutet, und die Innereien herausgeholt. Eine Tätigkeit, die die beiden immer alleine durchführten, da wir Kinder weder ein Interesse daran hatten, noch uns dieses Blut verschmierte Sauerrei ansehen wollten. Unsere Mutter und unsere Oma, nahm sich den Versand vor, rupfen ihm die Federn heraus, und sorgten auch da dafür, dass die Innereien und alles das was man nicht brauchte, aus dem Tier verschwanden.

Meine Eltern und Großeltern betrachteten sich, nach dem sie die Vorbereitung beendet hatten, die Tiere und beschlossen sie, direkt in die Pfanne, oder in dem Bräter, zuzubereiten. Eigentlich roch es köstlich im Haus, aber nur alleine der Gedanke, dass ich wild essen sollte ließ mir jeglichen Appetit auf das, was es an diesem Mittag geben würde, vergehen.

Wir Kinder spielten also noch draußen, und irgendwie entfiel mir dabei, dass bald etwas auf den Tisch kommen wird, von dem ich absolut nicht begeistert war.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir alle dann zusammen am Mittagstisch lassen. Unsere Mutter und Oma hatten Klöße aus rohen Kartoffeln zubereitet, die wir alle immer gerne aßen. Dazu gab es eine herrlich duftende Sauce, etwas Gemüse aus dem Garten und natürlich die gebratenen Tiere. Eigentlich wollte ich überhaupt kein Stück davon habe aber mein Vater meinte, es wird gegessen was auf den Tisch kommt. Damit war jegliche Diskussion ob ich etwas von dem Fleisch esse oder nicht, beendet.

Ich machte mich zuerst über die Klöße und die köstliche Sauce her, weil da konnte ich nicht viel verkehrt machen. Das Fleisch wollte ich einfach nicht anrühren und meinen Geschwistern ging es ebenso. Wir mochte den Geschmack von Wild nun einmal nicht. Irgendwie hatten wir auch ein komisches Gefühl, und das wurde uns auch prompt bestätigt als Oma plötzlich aufschrieb. Sie hatte auf etwas hartes gebissen und sich dabei prompt ein Stück vom Zahn herausgebrochen. Nach genauer Untersuchung stellte Großvater fest, dass es sich wohl noch um ein Stück Schrot handelt mit dem das Tier geschossen wurde. Als plötzlich auch mein Vater und meine Mutter anfingen komisch auf dem Fleisch herum zu kauen, und ein Schrotkorn nach dem anderen aus dem Mund holten, beschloss ich und meine Geschwister, dass wir auf gar keinen Fall in das Fleisch reinbeißen werden, da wir nicht auf irgendwelchen Schrot Kügelchen herumkauen wollten. Unsere Eltern und Großeltern beschlossen daraufhin, dass man die Tiere so nicht essen konnte und uns Kindern blieb es erspart.

Oma, hatte den ganzen Tag lang noch tierische Schmerzen, dadurch das ihr ein Teil vom Zahn abgebrochen war, so dass sie am nächsten Morgen direkt zum Zahnarzt fuhr. Als sie zurückkam, saßen meine Eltern und meine Großeltern zusammen in der Küche und beklagten irgendetwas. Was es genau war wussten wir zwar nicht, aber es gab wohl eine einstimmige Übereinkunft bei Ihnen.

Als im Jahr darauf, wieder die Jagdsaison begangen und wir wieder, von den Jägern ein geschossenes Tier bekommen sollten, lehnte mein Vater dankend ab. Er begründete es damals damit, dass es Großmutter und Großvater nicht so gut ginge und sie sich nicht um das Tier direkt kümmern könnten, um es zuzubereiten, und da wir keine Möglichkeit hatten es erst noch in einen Gefriertschrank zu legen um es länger aufbewahren zu können.

Von da an gab es Gott sei Dank nie wieder einen geschossenen Hasen, Fasanen oder ähnliches von den Jägern, und uns Kindern blieb das zweifelhafte Vergnügen diese essen zu müssen, erspart.

Wenn ich heute, über 50 Jahre später darüber nachdenke, schüttelt es mich immer noch an den Gedanken, dieses Fleisch essen zu müssen, da ich bis heute meine Abneigung zu dem Geschmack von Wildfleisch nicht abgelegt habe.

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Süße Erinnerungen

Mittwochs ist Muttertag. Sie freut sich über meinen Besuch und die Herbstblumen, die ich ihr mitbringe. Die Sonnenblume inmitten des dunklen Grüns des Straußes imaginiert den Sommer, der sich langsam verzieht. Es ist grau und regnerisch heute. Unsere Stimmung ist auch eher herbstlich.

„Wollen wir Fotos kucken?“, schlage ich vor. In den alten Fotoalben zu blättern lenkt ab und hilft gegen das Vergessen.

„Ich mache uns Tee“, antwortet sie.

Die Alben sind alt, manche Fotos verblassen. Das Papier riecht nach Staub. Bei einem kleinen quadratischen Schwarz-weiß-Foto hält sie inne und zeigt auf den jungen Mann.

„Ich vermisse ihn,“ sagt sie.

Der junge Mann ist mein Vater, der in kurzen Hosen und im weißen Unterhemd im Garten meiner Großmutter im Erdbeerbeet steht. Auf dem Arm hält er ein kleines Kind und strahlt in die Kamera.

„Deine erste Erdbeere,“ sagt meine Mutter und lächelt.

Ich kenne dieses Foto und die Geschichte dahinter. Dennoch frage ich.

„Wie alt war ich da?“

„Hmm,“ sie überlegt. Bei der Frage überlegt sie immer. „Du konntest gerade laufen.“

„Und? Hat sie mir geschmeckt?“ Diese Frage erübrigt sich eigentlich auch, denn jedes Mal, wenn ich dieses Foto betrachte, ist sie da, die Erinnerung an die köstlichste Frucht, die ich je im Leben gegessen habe. Süß war sie und saftig und irgendwie erdbeerig.

„Wir haben dich später häufig aus dem Erdbeerfeld holen müssen. Sie scheint dir also geschmeckt zu haben.“

Mutti erzählt von den Flecken im Kleidchen und dass ich zeit meines Lebens für Erdbeeren meine Großmutter verkauft hätte. Sie lacht endlich wieder.

Später auf der Heimfahrt denke ich an den Geschmack meiner ersten Erdbeere und frage mich, warum ich nie wieder eine Erdbeere gegessen habe, die genau so schmeckt.

Meine Gedanken wandern weiter.

Puffreis aus der Wundertüte - diese kleinen pappigen Körnchen, die nach säuerlichem Matheheft schmeckten. Gibt es die überhaupt noch? Und Brausepulver mit Waldmeistergeschmack. Ich spüre das Kribbeln auf der Zunge.

Erinnerungen prickeln auf wie das Brausepulver.

Der Milchmann, bei dem es für 1 Pfennig zwei kleine quadratische weiße und rosafarben Brausebonbons zu kaufen gab. Himmel, waren die lecker. Der Bäcker, der samstags den Kindern klebrige Fruchtbonbons schenkte, verpackt in spitzen Tütchen. Ich schmunzel. Die Dinger waren nicht so nach meinem Gusto. Manche davon fanden sich später in unserer Spielkiste wieder, wo sie sich am Spielzeug festgesaugt hatten.

Nuss-Nougat-Aufstrich kommt mir in den Sinn. Wie hieß der noch? Käptn Nuss, ja so hieß der. Meine Brüder und ich hatten jeder ein eigenes Glas, aus dem wir natürlich heimlich löffelten. Ich aus dem Glas meiner Brüder und sicherlich auch umgekehrt.

Ich denke an Zuckerwatte im Haar und an Kaugummi aus dem Automaten, der nach Plastik schmeckte und, endlich durchgekaut, so hart wurde, dass sich weitere Kaubewegungen erübrigten. Hach, auch der landete ab und an in der besagten Kiste.

Was für süße Erinnerungen. Nächsten Mittwoch werde ich sie mit Mutti teilen.

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das kann ich direkt hören … gefällt mir, die Beschreibung
mir gefällt überhaupt der ganze Text.