Theres
Thalkirchner Brücke
Kommissar Silvester Wimmermoser vom Polizeipräsidium in München hat die Nase voll. Zum vierten Mal in dieser Woche ruft der Irokese von der Thalkirchner Isar-Brücke an und meldet einen Notfall. Zwar machten diese schwarzgewandeten und bis zur Unkenntlichkeit gepiercten Gothic-Gestalten tatsächlich ständig Mist und verletzten sich gegenseitig. Aber es handelte sich um lauter Lappalien. Und trotzdem war Wimmermoser verpflichtet, mindestens zwei Beamte ausrücken zu lassen, um die Lage vor Ort zu checken und, wenn nötig, durchzugreifen. Im ersten Fall dieser Woche musste so ein bleiches Gespenst infolge eines angeblichen Alkoholexzesses, oder, wie Wimmermoser vermutete, aufgrund eines wesentlich härteren Trips, krankenhausreif abtransportiert werden. Das nächste Mal wurde eine der weiblichen Vogelscheuchen von einer vollen Bierflasche am Kopf getroffen, konnte aber mit einer leichten Gehirnerschütterung nach Hause geschickt werden. Und beim dritten Mal galt es, einen im Gebälk der Brücke hoch über dem Fluss eingeklemmten Hund zu befreien. Sein Totenkopfhalsband hatte sich verheddert.
„So a graislige Stiegengelanderrass“, murmelt Wimmermoser, noch in der Erinnerung angesäuert, und bezieht sich damit auf die hässliche Promenadenmischung, derentwegen seiner Meinung nach der ganze staatsgewaltige Aufwand für die Katz gewesen war. „Richtige Memmen, diese Gothic-Punks, – aber, haha, immer auf martialisch gebürstet.“
„Was wollts denn jetzt scho wieder, ihr Deppn“, raunzt Wimmermoser ins Telefon und hält den Hörer einen halben Meter vom Ohr weg.
„Sie müssen unbedingt kommen“, tönt eine männliche Stimme gequetscht aus dem Lautsprecher.
„Schauts, dass ihr euern Schmarrn selbst regelts“, bellt Wimmermoser und haut mit der Faust auf den roten Knopf am Telefonapparat.
Als er nach einigen Minuten merkt, dass die Hand mit dem Telefon immer noch in der Luft schwebt, lässt er den Hörer krachend fallen, seufzt und rollt den quietschenden Schreibtischsessel zurück. Mit einem bemerkenswert elastischen Schwung windet er seinen Kugelbauch aus dem Bürostuhl und dreht sich zum hohen Altbaufenster um, während sein Blick noch zerstreut den Abdruck seines Gesäßes im abgewetzten Lederpolster streift.
Der Kommissar fühlt sich genervt und zugleich wie benommen, denn es stechen ihm nicht nur die überflüssigen Einsätze an der Thalkirchner Brücke in die Nase. Es sind auch die unwiderstehlichen Düfte, die vom Christkindlmarkt am nahen Marienplatz herüberwehen und durch den Spalt des angelehnten Fensters sickern, begleitet von adventlichen Volksmusikklängen, lebhaftem Geplapper, Lachen und Kinderjauchzen. Magisch angezogen nähert sich Wimmermoser dem Fenster, zerrt es weit auf und lässt sich die krausen Haare vom frischen Wind zerzausen. Unwirsch fährt er sich mit dem Handrücken über die Stirn, will die Erinnerungen wegwischen, denn Sentimentalität ist nicht seine Sache. Aber die vorweihnachtliche Stimmung reißt ihn willenlos mit sich und er versinkt in einem Strudel nostalgischer Sinnestäuschungen. In rascher Folge tauchen Bilder aus innerer Tiefe auf, als öffneten sich im Zeitraffertempo die Türchen eines Adventskalenders. Und die Bilder erfüllen sich mit Leben. Rote, dampfende Bratäpfel, Kinderpunsch und gebrannte Mandeln duften betörend, die rauchigen Schwaden der Currywurstbraterei wecken sofort einen Mordsappetit, Kerzenlichter, Schneekristalle und Sterne glitzern. Der Plätzchenteig, den die Oma anrührt, verführt ihn, den Finger in die sämige Süße einzutunken und abzuschlecken. Der Bissen eines Lebkuchens, den er heimlich vom Weihnachtsbaum pflückt, entfaltet am Gaumen das unverwechselbare, würzige Aroma. Wimmermoser schüttelt sich, wirft den Fensterflügel zu, verlässt beinahe fluchtartig die Polizeiwache und stürzt sich ins Gewimmel des Christkindlmarkts.
Am Stand seines ehemaligen Schulkameraden, dem Obermeier Fredi, zu Füßen des Alten Rathauses genehmigt sich der Kommissar einen Glühwein und überhört Fredis hinterhältige Frage, ob er denn schon Dienstschluss habe. Verspätet und mit einem leichten Suri kehrt Wimmermoser aus der Mittagspause ins Präsidium zurück und findet im Sekretariat seine völlig aufgelöste Assistentin Chiara Ganghofer vor.
„Herr Kommissar, Herr Kommissar, die Gothics“, haspelt sie, „Herr Kommissar, Sie haben die Gothics vergessen.“
Wimmermoser macht nur eine wegwerfende Handbewegung und meint mit ungewohnter, wie Chiara findet, geradezu besorgniserregender Sanftmut:
„Also, Fräulein Ganghofer, beruhigen‘S Ihnen, bevor’S an Ihrer Schnappatmung erstickn.“
Mit diesen Worten pflanzt sich Wimmermoser vor Chiaras Schreibtisch auf und bedeutet ihr mit einer ausladenden Geste, fortzufahren.
Chiara platzt heraus: „Die haben eine Tote an der Thalkirchner Brücke.“
Wimmermoser flucht, schlurft in sein Dienstzimmer, fläzt sich in den Schreibtischsessel und grübelt. Zehn Minuten. Währenddessen steckt Chiara immer wieder vorsichtig den Kopf um die Ecke und zieht sich lautlos wieder zurück, offensichtlich froh, dass ihr Chef nicht eingeschlafen ist. Wimmermoser brütet weiter. Nach fünfzehn Minuten mäandernder Gedankenflüsse kommt er zu einem erhellenden Ergebnis. Er beschließt, dass es Zeit ist, seiner jungen Mitarbeiterin, der eifrigen Kommissaranwärterin Theresia Wolf, kurz Theres, eine Chance zu geben, sich selbstständig an der Front zu bewähren, natürlich nicht ganz allein auf sich gestellt, sondern mit Rückendeckung durch Oberwachtmeister Fähnlein. Valentin Fähnlein, den Wimmermoser in den raren überschwänglichen Momenten unter kumpelhaftem Gelache und Schulterklopfen Vianello nennt, soll sich jedoch im Hintergrund halten. Da kann Theres mal zeigen, wie sie mit brenzligen Situationen umgeht, ob sie auch im Chaos den Überblick behält und die notwendigen Schritte zügig einleitet. Immerhin bietet er ihr ja die Möglichkeit, jederzeit Verstärkung anzufordern.
Und großzügig wird er, Kriminalkommissar Silvester Wimmermoser, verkünden, dass er sich im Fall der Fälle selbstverständlich nicht zu schade sei, die Verhaftungen der Verdächtigen höchstpersönlich vorzunehmen.