Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Theres

Thalkirchner Brücke

Kommissar Silvester Wimmermoser vom Polizeipräsidium in München hat die Nase voll. Zum vierten Mal in dieser Woche ruft der Irokese von der Thalkirchner Isar-Brücke an und meldet einen Notfall. Zwar machten diese schwarzgewandeten und bis zur Unkenntlichkeit gepiercten Gothic-Gestalten tatsächlich ständig Mist und verletzten sich gegenseitig. Aber es handelte sich um lauter Lappalien. Und trotzdem war Wimmermoser verpflichtet, mindestens zwei Beamte ausrücken zu lassen, um die Lage vor Ort zu checken und, wenn nötig, durchzugreifen. Im ersten Fall dieser Woche musste so ein bleiches Gespenst infolge eines angeblichen Alkoholexzesses, oder, wie Wimmermoser vermutete, aufgrund eines wesentlich härteren Trips, krankenhausreif abtransportiert werden. Das nächste Mal wurde eine der weiblichen Vogelscheuchen von einer vollen Bierflasche am Kopf getroffen, konnte aber mit einer leichten Gehirnerschütterung nach Hause geschickt werden. Und beim dritten Mal galt es, einen im Gebälk der Brücke hoch über dem Fluss eingeklemmten Hund zu befreien. Sein Totenkopfhalsband hatte sich verheddert.

„So a graislige Stiegengelanderrass“, murmelt Wimmermoser, noch in der Erinnerung angesäuert, und bezieht sich damit auf die hässliche Promenadenmischung, derentwegen seiner Meinung nach der ganze staatsgewaltige Aufwand für die Katz gewesen war. „Richtige Memmen, diese Gothic-Punks, – aber, haha, immer auf martialisch gebürstet.“

„Was wollts denn jetzt scho wieder, ihr Deppn“, raunzt Wimmermoser ins Telefon und hält den Hörer einen halben Meter vom Ohr weg.

„Sie müssen unbedingt kommen“, tönt eine männliche Stimme gequetscht aus dem Lautsprecher.

„Schauts, dass ihr euern Schmarrn selbst regelts“, bellt Wimmermoser und haut mit der Faust auf den roten Knopf am Telefonapparat.

Als er nach einigen Minuten merkt, dass die Hand mit dem Telefon immer noch in der Luft schwebt, lässt er den Hörer krachend fallen, seufzt und rollt den quietschenden Schreibtischsessel zurück. Mit einem bemerkenswert elastischen Schwung windet er seinen Kugelbauch aus dem Bürostuhl und dreht sich zum hohen Altbaufenster um, während sein Blick noch zerstreut den Abdruck seines Gesäßes im abgewetzten Lederpolster streift.

Der Kommissar fühlt sich genervt und zugleich wie benommen, denn es stechen ihm nicht nur die überflüssigen Einsätze an der Thalkirchner Brücke in die Nase. Es sind auch die unwiderstehlichen Düfte, die vom Christkindlmarkt am nahen Marienplatz herüberwehen und durch den Spalt des angelehnten Fensters sickern, begleitet von adventlichen Volksmusikklängen, lebhaftem Geplapper, Lachen und Kinderjauchzen. Magisch angezogen nähert sich Wimmermoser dem Fenster, zerrt es weit auf und lässt sich die krausen Haare vom frischen Wind zerzausen. Unwirsch fährt er sich mit dem Handrücken über die Stirn, will die Erinnerungen wegwischen, denn Sentimentalität ist nicht seine Sache. Aber die vorweihnachtliche Stimmung reißt ihn willenlos mit sich und er versinkt in einem Strudel nostalgischer Sinnestäuschungen. In rascher Folge tauchen Bilder aus innerer Tiefe auf, als öffneten sich im Zeitraffertempo die Türchen eines Adventskalenders. Und die Bilder erfüllen sich mit Leben. Rote, dampfende Bratäpfel, Kinderpunsch und gebrannte Mandeln duften betörend, die rauchigen Schwaden der Currywurstbraterei wecken sofort einen Mordsappetit, Kerzenlichter, Schneekristalle und Sterne glitzern. Der Plätzchenteig, den die Oma anrührt, verführt ihn, den Finger in die sämige Süße einzutunken und abzuschlecken. Der Bissen eines Lebkuchens, den er heimlich vom Weihnachtsbaum pflückt, entfaltet am Gaumen das unverwechselbare, würzige Aroma. Wimmermoser schüttelt sich, wirft den Fensterflügel zu, verlässt beinahe fluchtartig die Polizeiwache und stürzt sich ins Gewimmel des Christkindlmarkts.

Am Stand seines ehemaligen Schulkameraden, dem Obermeier Fredi, zu Füßen des Alten Rathauses genehmigt sich der Kommissar einen Glühwein und überhört Fredis hinterhältige Frage, ob er denn schon Dienstschluss habe. Verspätet und mit einem leichten Suri kehrt Wimmermoser aus der Mittagspause ins Präsidium zurück und findet im Sekretariat seine völlig aufgelöste Assistentin Chiara Ganghofer vor.

„Herr Kommissar, Herr Kommissar, die Gothics“, haspelt sie, „Herr Kommissar, Sie haben die Gothics vergessen.“

Wimmermoser macht nur eine wegwerfende Handbewegung und meint mit ungewohnter, wie Chiara findet, geradezu besorgniserregender Sanftmut:

„Also, Fräulein Ganghofer, beruhigen‘S Ihnen, bevor’S an Ihrer Schnappatmung erstickn.“

Mit diesen Worten pflanzt sich Wimmermoser vor Chiaras Schreibtisch auf und bedeutet ihr mit einer ausladenden Geste, fortzufahren.

Chiara platzt heraus: „Die haben eine Tote an der Thalkirchner Brücke.“

Wimmermoser flucht, schlurft in sein Dienstzimmer, fläzt sich in den Schreibtischsessel und grübelt. Zehn Minuten. Währenddessen steckt Chiara immer wieder vorsichtig den Kopf um die Ecke und zieht sich lautlos wieder zurück, offensichtlich froh, dass ihr Chef nicht eingeschlafen ist. Wimmermoser brütet weiter. Nach fünfzehn Minuten mäandernder Gedankenflüsse kommt er zu einem erhellenden Ergebnis. Er beschließt, dass es Zeit ist, seiner jungen Mitarbeiterin, der eifrigen Kommissaranwärterin Theresia Wolf, kurz Theres, eine Chance zu geben, sich selbstständig an der Front zu bewähren, natürlich nicht ganz allein auf sich gestellt, sondern mit Rückendeckung durch Oberwachtmeister Fähnlein. Valentin Fähnlein, den Wimmermoser in den raren überschwänglichen Momenten unter kumpelhaftem Gelache und Schulterklopfen Vianello nennt, soll sich jedoch im Hintergrund halten. Da kann Theres mal zeigen, wie sie mit brenzligen Situationen umgeht, ob sie auch im Chaos den Überblick behält und die notwendigen Schritte zügig einleitet. Immerhin bietet er ihr ja die Möglichkeit, jederzeit Verstärkung anzufordern.

Und großzügig wird er, Kriminalkommissar Silvester Wimmermoser, verkünden, dass er sich im Fall der Fälle selbstverständlich nicht zu schade sei, die Verhaftungen der Verdächtigen höchstpersönlich vorzunehmen.

6 „Gefällt mir“

Der Durchbruch

Der kleine Moritz saß auf dem Sofa, vor ihm die verhasste, langsam erkaltende, Leber. Daneben seine Mutter, Druck ausübend. Er solle endlich essen. Im Wohnzimmer lief gerade eine Episode aus der Serie ‚Bezaubernde Jeannie‘. Moritz kam es schier hoch. Zum wiederholten Male sollte er Leber essen, wo ihm doch bereits der Geruch absolut zuwider war. Wie eklig. Er wollte nun endlich seine geliebte Serie sehen. „Jetzt muss ich aber essen wie ein Verrückter,“ brach es unvermittelt aus ihm heraus. Die Leber war mittlerweile kalt. Moritz’ Mutter hatte die Schnauze nun auch voll. Auf seine Ansage hin knallte sie ihm eine, für den Kleinen völlig unvermittelt. „Was passiert nun jetzt?“, fragte sich der kleine Moritz. Da fing seine Mutter an, das perverse Essen abzuräumen. Endlich. „So, jetzt kannst Du Deine Jeannie ansehen,“ sagte sie. Freudestrahlend verließ der kleine Moritz den Tatort, zu seiner Lieblingssendung. Das war das letzte Mal in seinem Leben, daß er hätte Leber essen sollen.

2 „Gefällt mir“

Uaaaaaaaah, es gruselt! Es gruselt ganz wunderbar, sehr passend zu Halloween. Tolle Geschichte! :+1: :ghost: :girl:

Omis Apfelpfannkuchen

Melancholisch sehe ich aus dem Fenster. Heute wäre meine Omi 99 Jahre geworden. Ich habe sie Omi genannt, da ich zwei Omas hatte und sie ja als kleines Kind irgendwie unterscheiden musste. Für mich war klar, dass sie Omi ist, was sich kleiner, zierlicher und süßer anhörte (so wie sie eben war), als das hart klingende Oma. Als Kind war das für mich völlig klar und schlüssig und in den Jahren änderte sich daran auch nichts. Leider wurde sie dement und verstarb vor 5 Jahren. 5 Jahre, ein kleines Jubiläum, aber eben eins, das man nicht feiern will. Mein Mann, der nichts vom Geburtstag meiner Oma wusste, fragte mich ausgerechnet heute, ob wir nicht Apfelpfannkuchen essen wollen. Da musste ich erst lachen, was dann in Schluchzer überging. Er war völlig verwirrt wegen meiner Reaktion und nahm mich erstmal in den Arm. Antworten auf seine Fragen konnte ich ihm erstmal keine geben, sein Vorschlag hatte mich aus dem Konzept gebracht. Er ließ mich erstmal hier am Fenster sitzen und wollte mir Zeit geben, mich zu beruhigen und ihm dann zu antworten. Und nun sitze ich hier und denke an die leckeren Apfelpfannkuchen aus meiner Kindheit, mein allerliebstes Lieblingsgericht, aber natürlich nur, wenn sie von Omi waren. Mein Vater macht noch heute sehr gute Apfelpfannkuchen, aber sie kamen trotz allem nie an die von meiner Omi heran. Ich erinnere mich, wie ich manchmal beim Äpfel schälen und schneiden helfen und es mir danach in ihrem Fernsehsessel gemütlich machen durfte, bis der erste Pfannkuchen fertig war. Die ganze Wohnung roch süßlich und nach Teig und Apfel. Natürlich bekam ich als einzige Enkeltochter immer den ersten Pfannkuchen. Sobald er dampfend vor mir stand, durfte natürlich nicht noch etwas Zucker oben drauf fehlen, dann stopfte ich mir auch schon das erste Stück in den Mund. Wie oft ich mir dabei die Zunge verbrannte, weil ich es nicht abwarten konnte, den leckeren Geschmack zu kosten. Ich muss lächeln. Wie schnell der erste Pfannkuchen verputzt war und wie lang es doch erschien, dass endlich der nächste auf dem Teller landete. Ha, wie ungeduldig man doch als Kind ist. Regelrecht verschlungen habe ich einen nach dem anderen. Heute würde ich die Pfannkuchen mehr genießen, sie langsam genüsslich essen, aber das geht nun nicht mehr. Wieder fließen Tränen. Nach dem Rezept habe ich sie natürlich nie gefragt, war sie doch meine Omi, die bestimmt 100 Jahre oder älter werden würde. Als Kind hat man keine Vorstellung vom Tod. Später dann waren plötzlich andere Dinge wichtiger, das Lernen für die Schule, dann die Uni, Freunde treffen, das eigene Leben leben. Besuche wurden seltener und kürzer, heute im Rückblick war so manches damals wichtig Erscheinendes total nichtig. Aber ändern geht nun nicht mehr. Am Schluss zählte ich trotz ihrer Demenz noch zu den wenigen Personen, die sie erkannte. Ich erinnere mich noch daran, wie sich mich einmal nach einem Glas Milch mit Honig fragte, sie könne nicht einschlafen. Ich machte es ihr so wie sie es all die Jahre in meiner Kindheit für mich machte, wenn ich bei ihr übernachtete. Es war eines der letzten Male, das ich sie sah. Meine Omi und ihr Essen machten meine Kindheit zu einer noch schöneren und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Sie würde sich bestimmt freuen, wenn ich heute zu ihrem Gedenken Pfannkuchen essen würde. Ich stehe vom Stuhl auf und gehe zu meinem Mann. „Lass uns heute Apfelpfannkuchen machen. Hab ich dir eigentlich mal die Geschichte von meiner Omi erzählt, als sie bei den Pfannkuchen statt des Zuckers Salz verwendet hat?“ Man hört unser Lachen durch das ganze Haus.

3 „Gefällt mir“

Ein Essen wie früher

Jetzt sitze ich hier, in der Ecke in des Wohnzimmers auf dem alten Sessel und halte ein Buch in meiner Hand, dessen Geschichte mich wieder einmal zu fesseln vermag. Der Roman Liest sich spannend und dennoch ist es mein Geist, der aus der Geschichte flieht um in der Welt meiner Jugend nach Abenteuer zu suchen.

Ich lese die Worte des Buches zwar, doch der Geist formt ein Bild eines Duftes, der in das Zimmer durch das aufgeklappte Fester kommt. Ich kenne diesen Geruch, aber ich erkenne nur Fragmente der Erinnerung aus meiner Jugend- ich bin schon lange nicht mehr in der Geschichte des Buches in meiner Hand und lasse mich einhüllen in den Nebel meiner Jugend, welcher immer mehr meiner Gedanken füllt.

Ich fange an zu schmecken was ich rieche und zu fühlen was ich denke. Ich wandere zurück in eine Zeit, wo Familie noch das Zentrum unserer Behaglichkeit darstellte und wo das Rollenverhalten so ausgeprägt war, dass wir Kinder dies als gesetzt und gegeben hingenommen haben. Es war Sitte, dass wir uns einmal am Tag, meist abends zum gemeinsamen Essen trafen und besprachen, was der Tag an Veränderung brachte. Wie wichtig fühlten wir uns als Kind, wenn WIR berichten durften was gut und was schlecht war und das wieder Klaus in der Schule die Hausaufgaben nicht gemacht hatte , aber ich sie mit Mama ganz akribisch vor der Schule durchgesprochen hatten. Es waren die wirklichen wichtigen Themen unserer Zeit und wir Kinder hatten eine besondere Rolle am Tisch. Wir beachteten das Essen damals nicht, wussten nicht wie schwer es war diese Speisen auf dem Tisch zu haben, wussten nicht, dass Mama so manche Wäsche extra bügeln musste, um uns dies zu ermöglichen.

Und heute denke ich zurück an die Zeit und sehe nur das Essen. Frische Salzkartoffeln mit Sauerkraut und Bauchfleisch. Ich rieche den erdigen Duft der Kartoffel und den das säuerliche Aroma, dass sich um diesen Duft schmiegt. Das Sauerkraut war aus dem Keller, wo es Jahr für Jahr neu eingelegt wurde und nur selten dann entdeckt wurde, wenn meine Mutter das Geld für das Bauchfleisch hatte. Ich fühle Familie und sehe unsere gemeinsamen Gespräche. Ich denke mir, wie gut es uns doch gegangen ist im Vergleich zu denen, welche zufrieden waren mit Suppe und Brot.

Dann stocke ich…
Was ist der Mensch nur für ein Geschöpf? Denken wir an die Vergangenheit, sehen wir das schöne und erinnern uns an Gerüche und an Essen das wir mochten. Wie schnell ist vergessen, wie meine Mutter leiden musste, wie ich Schwierigkeiten hatte mich bei meinem Vater zu outen. Ein Vater der sich in der Rolle des Häuptlings so wohl fühlte, dass kein anderes Rollenverhalten zugelassen wurde. „Du wirst mal der Herr im Hause sein“ rufe ich mir in das Gedächtnis. Ein Satz, der mich lange beschäftigte, weil ich nie damit so verwurzelt war. Ich hatte schon damit zu tun in einer Zeit groß zu werden, wo schwul sein bedeutete, krank zu sein, fehlerhaft zu sein, therapiebedürftig zu sein. Eine Zeit, wo schlagen noch ein Mittel war, das mein Vater gerne dazu benutzte seine Argumente zu bekräftigen. Eine Zeit von der wir „Gott sei Dank“ uns entfernt haben.

Was ist der Mensch nur für ein Geschöpf? Wenn all das die „Gute Alte Zeit „ bedeutet, wenn Essen eine Lust ist, die vor Toleranz zu stehen mag. Wenn Gerüche uns dazu bringen unsere Errungenschaften klein zu denken und uns dazu bringen alte Werte zu entdecken. Werte, die keine Werte waren, sondern der Beginn einer Entwicklung, die uns nachdenken lässt. Nachdenken über unser Handeln, über unsere Erde und über Menschen die Menschen sind und keine Rasse.

Nein denke ich mir, ich will das Essen nicht so hoch bewerten, dass es mich dazu bringt, eine falsche Zeit gut zu finden. Ich schaue hoch aus dem Fenster und hole mich zurück in die Ecke des Raumes, wo ich sitze. Mein Blick schweift und findet das Buch in meiner Hand.

Ein gutes Buch denke ich und versinke in eine Welt weit von unserer entfernt…

3 „Gefällt mir“

Käse-Fleischwurst-Spieße
Wieder einmal sitze ich zu Hause, an meinem Küchentisch. Den halben Vormittag habe ich damit verbracht, meine Bastelschere zu suchen. Wieso sollte ich sie auch dort hinlegen, wo sie hingehört? Mittlerweile bin ich in der Küche angekommen. Ich wühle mich durch die Schubladen und stelle mit meinem Blick auf die Uhr fest, dass es bereits Zeit fürs Mittagessen ist. Bestätigend grummelt mein Magen. Also werde ich das Suchen der Schere wohl unterbrechen müssen. Ich öffne den Kühlschrank und schaue mich etwas ratlos um. Gekocht wird erst heute Abend, und auch wenn Hunger da ist, so richtig weiß ich nicht, worauf ich Appetit habe. Mein Blick fällt auf ein Stück Käse und die Fleischwurst daneben. Es ist zwar keine wirklich gesunde Mahlzeit, aber definitiv lecker. Ich hole alles hervor und schneide mir davon einen Teil in Würfel. Während ich die ersten Stücke in den Mund schiebe, öffne ich bereits die nächste Schublade und suche weiter nach der Schere. Irgendwo muss die doch abgeblieben sein. Stattdessen halte ich auf einmal eine lange Packung in der Hand, am oberen Ende schauen kleine Holzspitzen heraus. Ich muss schmunzeln, als ich sie sehe. Die Schaschlikspieße erinnern mich an meine Kindheit. Ich nehme sie mir mit an den Tisch und beginne damit, die Käse- und Wurststückchen aufzuspießen. Immer abwechselnd. Genauso haben wir es früher auch immer gemacht. Früher. Ein Seufzen entfährt mir und ich blicke versonnen aus dem Fenster, während meine Gedanken in die Vergangenheit abdriften. Damals gab es hin und wieder diese Käse-Fleischwurst-Spieße. Manchmal hat meine Mama uns welche zum Nachtisch gemacht. Meinem Bruder und mir. Während sie dann bereits die Küche aufräumte, saßen wir am Tisch und hatten unseren Spaß.
„Die muss man erst rösten“, lachte mein Bruder und drehte seinen Spieß in den Fingern über seinem Teller. Ich machte es ihm nach. Die kleinen Spitzen stachen leicht in meine Finger und ich spürte das Kribbeln auf der Haut, das durch die Bewegung verursacht wurde. Nach kurzer Zeit probierte ich ein Stück davon. Er schaute abwartend zu mir rüber.
„Die müssen noch weiter geröstet werden“, teilte ich ihm mit. Kurze Zeit später schaute er von seinem drehenden Spieß wieder auf.
„Jetzt probier ich wieder eins.“ So drehten wir unsere Spieße weiter, lachten und aßen immer mal wieder ein Stück, bis sie schlussendlich leer waren.
Es schmeckte immer wieder lecker und ich glaube, immer noch diese glückliche Zeit spüren zu können. Es war lustig, sowas mit meinem Bruder anzustellen. Manchmal haben wir beim Fleischwurstessen auch so getan, als wären wir Biber, wenn wir hineingebissen haben. Urkomisch.
Damals hatten wir beiden noch mehr Zeit füreinander. Ich seufze erneut, als ich meinen nun vor mir liegenden Spieß betrachte und darüber nachdenke. Wie oft haben wir beim Mittagessen zusammen gelacht und hatten Spaß, auch wenn es einen so leckeren Nachtisch nur selten gab. Heute kann ich nicht mal sagen, wann ich meinen Bruder zuletzt gesehen hatte. Seit der Pandemie ist einiges anders geworden und man sieht seine Liebsten nur selten. Dennoch ist es nicht dasselbe, hier zu sitzen und allein einen Spieß zu essen. Nach kurzem Zögern greife ich also nach dem Telefon und rufe meinen Bruder an. Auch wenn das bedeutet, dass ich heute wahrscheinlich Tofu Fleischwurst kaufen muss. Die Bastelschere kann warten.

5 „Gefällt mir“

Danke, schön das es gefällt

Das Weihnachtsessen meiner Mutter ist und bleibt für mich immer etwas Besonderes. Bei uns war es bis zum Auszug meiner Schwester und mir immer Tradition, am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag Verwandte zu besuchen oder besucht zu werden. Diese Termine waren so gelegt, dass wir einmal Besuch bekamen und einmal auswärts aßen. Was bedeutete, dass meine Mutter einmal selbst kochen musste.
Unser Weihnachtsessen bestand aus Pute, Rotkraut, Knödel, gemischtem Gemüse und der Bratensoße.
Was das Essen für mich so besonders machte, war nicht nur das unglaublich leckere Festmahl an sich, sondern die Zubereitung. Als junges Mädchen war der ganze Tag für mich magisch. Für meine Mutter wohl eher stressig.
Sie stand morgens sehr früh auf, da die Pute vorbereitet werden und in den Ofen musste. Unser Besuch war immer zur Mittagszeit da und musste früh am Abend aufgrund der langen Anfahrt wieder los. Daher war es eher ein Mittag- als ein Abendessen. Und so eine Pute für acht Personen ist groß. Die braucht eine Weile im Ofen.
Wenn ich an diese Tage denke, habe ich sofort wieder den Geruch der gebratenen Pute in der Nase, die bereits im Ofen schmorte, wenn ich aufstand. Das ganze Haus roch nach diesem würzigen Bratenduft und erfüllte mich mit Wärme und der Vorfreude auf das gemeinsame Essen.
Wenn ich die Treppe herunterkam, stand meine Mutter in der Küche, den Rücken mir zugewandt und bereitete bereits den Knödelteig vor. Meine Schwester und ich durften anschließend die noble Aufgabe übernehmen, die Teigkugeln zu formen, während meine Mutter sich um Rotkraut und Gemüse kümmerte.
Ich fand und finde es immer noch unglaublich, wie sicher und präzise meine Mutter die Prozesse und Zeiten für alles im Kopf hatte. Die Pute war immer so zart und saftig, dass das Fleisch beim Zerschneiden praktisch von selbst zerfiel. Für die knusprige Putenhaut hätte ich töten können. Die Knödel zergingen auf der Zunge und Rotkraut und Gemüse waren bissfest und nicht zerkocht. Die Bratensoße aus dem Putensaft war ein Gedicht und nie zu dünnflüssig.
Die geheime Zutat, die dieses Festmahl perfekt machte, war mit Sicherheit das anschließend gemeinsame Essen mit der Familie. Das Lachen und die Gespräche, das Genießen und das wohlverdiente Lob an meine Mutter waren der letzte Schliff zur Perfektion für mich. Der Gedanke an diese Zeiten zaubert mir immer noch ein Lächeln ins Gesicht.
Ich habe übrigens einmal versucht, das Weihnachtsessen in diesem Umfang nach zu kochen. Ich hatte sogar eine schriftliche Anleitung von meiner Mutter erhalten. Sagen wir es mal so: Das Ergebnis war essbar. Ich bleibe lieber beim Formen der Knödel.

2 „Gefällt mir“

Danke für die Likes!

Hallo, ich bin neu hier und habe diesem Beitrag auch ein Like gegeben. Ich möchte selbst auch einen Beitrag hochladen, weiß aber nicht, wie ich das hier mache. Bitte um einen Kurzen Tipp Danke!!!

Genau wie du diesen Beitrag in diesem Thread erstellt hast.
Ganz unten auf „Antworten“ klicken, Text reinkopieren, unten nochmal auf „Antworten“ drücken, fertig.

Tyrannei

„Iss!“

Ihr Blick war hart. Alles andere an ihr war weich und rund. Ein rundes, leicht schwammiges Gesicht mit runder, rötlicher Nase, runden, vollen Lippen und mehr als einem runden Kinn. Ein runder, gedrungener Körper, geschwollene, weiche, runde Knöchel. Aber nicht ihr Blick. Der war hart, kalt und unnachgiebig.

Ich saß vor einem trockenen Wurstbrot. Graubrot mit Mortadella, leicht schimmelig wohl, oder zumindest roch es bereits so. Ich war 12 Jahre alt und ich war klar schuldig. Schuldig der Unlust auf Graubrot mit Wurst, das ich für wenige Pfennige auf dem Weg zur Schule zugunsten einer Apfeltasche vom Bäcker vernachlässigt hatte. Schuldig der Unordnung im Ranzen, denn zwischen Mappen und Büchern, Federmäppchen und losen Zetteln hatte ich das lieblos eingepackte Brot glatt vergessen. Schuldig, so das Beweismaterial nicht rechtzeitig in irgendeinem Mülleimer losgeworden zu sein.

Bis sie vor mir stand. Vorwurfsvoll und verächtlich die übliche Litanei über den Wert von Brot und Wurst anstimmend, die ich beinahe stoisch ertrug. Sie war es nicht, die das Geld nach Hause brachte. Und sie scherte auch das Wissen nicht, dass ich das trockene Brot ungern aß. Ich bevorzugte das Brot meiner Oma, das es frisch vom Bäcker gab, das so warm und wohlig roch und dessen Rinde noch krachte, wenn man hineinbiss. Und wie immer kam es mir so vor, als würde sie nicht über den Wert des Essens, sondern über meinen sprechen. Oder vielleicht über den eigenen, wenn sie mehr „Wertschätzung“ forderte für die Mühe, aus Tütenbrot, Margarine und Wurst ein Schulbrot zubereitet und mit mitgegeben zu haben. Ich kannte den ewigen Vorwurf nur zu gut: sie mühte sich - ich war undankbar. Und sie hatte recht. Dankbar war ich immer nur dann, wenn die Litanei ein Ende fand und ich in mein Zimmer entlassen wurde, wo ich ihrer Herrschaft entfliehen und in meinem Kopf alternative Welten schaffen konnte. Doch jetzt war sie wieder das runde, aufgeregt tobende Monster mit den harten Augen und ich bemühte mich, ihre schneidende Stimme auszublenden und beobachtete den Speichelfaden, der sich in ihren Mundwinkeln bildete. Immer. Der eine, kleine Faden im rechten Mundwinkel, der sich auseinander- und wieder zusammenzog, wenn sie schrie. Überhaupt waren Speichel und Vorwürfe das Einzige, mit dem sie wirklich großzügig umging.

Nur blieb es nicht bei Vorwürfen. Diesmal nicht. Sie befahl mir, mich an den Küchentisch zu setzen, legte das Wurstbrot, das Tage alt war und roch, auf den Küchentisch, stellte eine billige Orangenlimonade dazu.

„Iss!“ Der Befehlston verlangte Gehorsam. Sie wusste um ihre Macht und meine Ohnmacht. Das „Nein“ steckt 12-jährigen in der Kehle fest, bis sie alt genug werden, es endlich herausschreien zu dürfen. Dann trifft es, als Echo einer alten Verletzung, vielleicht den Partner, die eigenen Kinder oder nur den Spiegel. Und Flucht? Wohin? In der Welt von Zwölfjährigen gibt es nur die elterliche Herrschaft und deren Spielregeln. Im Geburtenglücksfall Demokratie und Rechtsstaat, im Unglücksfalle Tyrannei und Diktatur. Also aß ich.

Der erste Biss in die Stulle und der Geschmack waren widerlich. Auf der Wurst hatte sich bereits ein schleimiger Film gebildet, das Brot hinterließ die Idee von Schimmel, eine Assoziation von Baumrinde, den Mundraum ausfüllende Trockenheit und ließ sich nicht schlucken. Ich kippte Limonade hinterher. Die Mischung schmeckte faulig und verursachte Ekel, wie es der Geschmack der Orangenlimonade über die nächsten Jahre beständig tun würde. Der Eindruck von Verdorbenem legte sich auf die Zunge, erfüllte die Kehle, brannte sich als Erinnerung ein. Ich verlor während des Essens das Zeitgefühl, aber ich erbrach nicht und hoffte, sie wäre darüber enttäuscht.

Es dauerte, doch irgendwann war das Brot Geschichte. Und später, viel später auch die Tyrannei.

8 „Gefällt mir“

Eine echte Bockwurst, Käthe!

Anfang 1945 wurden alle Frauen und Kinder aus der Uckermark, nahe der polnischen Grenze, evakuiert. Da alle anderen Mitglieder der Familie in irgendeiner Form dienstverpflichtet waren, oblag es meiner Großmutter und meiner Tante Lotte, uns drei in Sicherheit zu bringen. Sie packten jeder einen Koffer, setzten mich in meinen Kinderwagen und begaben sich auf eine Reise ins Ungewisse.

Im Frühjahr strandeten wir nach einer wochenlangen Irrfahrt in der Nähe von Hannover in einem kleinen Dorf. Wir waren auf einem Rittergut gelandet. Der Gutsherr hatte das alte Herrenhaus vor einiger Zeit in Wohnungen für seine Landarbeiter eingerichtet. Man wies uns hier eine Behausung zu, ganz oben unter dem Dach, eine Stube und eine Wohnküche. Endlich konnten die beiden Frauen nach den schweren Wochen auf dem Treck durchschnaufen. Sie hatten es geschafft und uns in Sicherheit gebracht. Tante Lotte konnte auf dem Hof arbeiten, Großmutter bezog eine kleine Unterstützung. Sie richteten sich so gut wie möglich ein und versuchten, das Beste draus zu machen.

Bis in die 50er Jahre hinein erinnere ich mich an meine Kindheit an diesem Ort als eine fröhliche und unbeschwerte Zeit. Ich hatte Freunde, mit denen ich jeden Tag neue Abenteuer erlebte. Ich durfte auf einem sanften Pferd mit einem Verehrer meiner Tante immer im Kreis herum den Mist festreiten. Ich erinnere mich heute noch gut an den sanften Wiegeschritt und an die Wärme des kräftigen Pferdes. Mit meinen Freunden suchte ich in den Büschen nach Eiern, die die ausgebüxten Hühner an den unmöglichsten Stellen ablegten, wir sammelten Nüsse und ab und zu fielen uns ein Apfel oder sogar ein kleiner Korb Kirschen aus dem riesigen Obstgarten des Gutsherrn ganz zufällig in die Hand. Wir sammelten mit den Erwachsenen Kartoffeln, stoppelten Ähren, die beim Müller in Mehl eingetauscht wurden, ernteten Erbsen und vereinzelten die kleinen Rübenpflanzen, wofür es sogar fünfzig Pfennige vom Verwalter auf die Kinderhand gab. In all dieser Zeit war mir nie bewusst, wie bitterarm wir waren. Oma und Tante Lotte hielten alle Sorgen von mir fern.

Für ein paar Mark mehr verdingte sich Tante Lotte jährlich in der Rübenernte. Die Landarbeiter gingen zu dieser Zeit bereits stempeln, da war jeder zusätzliche Taler willkommen. Sie holte mit dem Pferdewagen die Rüben vom Feld und brachte sie zur Waschanlage auf dem Hof des Ritterguts. So war es auch in diesem Jahr. Es war Anfang November und knackig kalt. Ich musste die verhassten Strümpfe aus selbst gesponnener Schafwolle tragen und kann jedem nur raten, niemals ohne Not so etwas Kratzendes anzuziehen. Aber das nur nebenbei. Tante Lotte drehte seit Sonnenaufgang ihre Rübenrunden und hatte nach fünf Stunden Feierabend. In der Gutsküche stand für alle Arbeiter täglich ein mächtiger Topf mit heißer Suppe, an diesem Tag Erbsensuppe, bereit. Die Köchin war eine Freundin meiner Oma und versorgte uns unter der Hand mit.

An diesem Tag warteten wir, gemeinsam mit unserer Freundin Käthe darauf, dass Tante Lotte nach Hause kam. Wir freuten uns auf die warme Suppe. Endlich hörten wir meine liebe Tante die Treppe hochkommen. Ich sprang auf und lief ihr entgegen. Zu meiner Überraschung hatte sie zwei Kochgeschirre mitgebracht.
In der Küche angekommen, stellte Tante Lotte beide Gefäße auf den Tisch und lächelte in die Runde. Sie hob den Zeigefinger in die Luft, dann senkte sie ihn ab und klopfte auf den Deckel des rechten Topfes.

„Jetzt ratet mal, was hier wohl drin ist.“ Oma sah bloß hoch und meinte, was es wohl sein sollte, eben Suppe. Freundin Käthe zuckte nur mit den Schultern und mir war es egal, denn etwas Süßes war da ganz bestimmt nicht drin.

Behutsam öffnete Tante Lotte den Deckel. Wir reckten erwartungsvoll die Hälse. Endlich griff sie in den Topf und als die Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger eine Wurst.

Sie zeigte sie meiner Oma und mir, dann streckte sie das Wunderwerk ihrer Freundin entgegen und sprach mit feierlichem Ernst:

„Eine echte Bockwurst, Käthe.“

Und Käthe echote überwältigt: „Eine echte Bockwurst, Lotte.“ Sie klatschte vor Begeisterung in die Hände.

„Im echten Darm und mit einem Räucherpunkt, so wie eine echte Bockwurst sein muss.“

Mit gemessenen Bewegungen legte meine Tante jedem eine Bockwurst auf den Teller, als wäre sie aus goldenem Glas. Andächtig schnitten die beiden Frauen schmale Scheiben ab und stöhnten vor Wonne bei jedem Happs.

Wie es mit Oma und mir war, erinnere ich nicht mehr. Ich glaube, wir haben sie ganz und gar unfeierlich einfach weg gemampft.

Wenn ich eine Bockwurst kaufe, muss sie genau so sein: in einem echten Darm, mit einem dunklen Räucherpunkt.

8 „Gefällt mir“

Immer wieder Sonntags

Das sonntägliche Mittagessen bestand in meiner Kindheit immer aus der gleichen Zusammenstellung: Fleisch, Gemüse und Kartoffeln. Fleisch und Gemüse variierten; die Kartoffeln blieben gleich, immer Salzkartoffeln.

Fleisch vom Rind als Gulasch, Schmorbraten oder Rouladen, gelegentlich auch mal als Steak oder Filet; Fleisch vom Schwein als Nackenbraten, Rollbraten, Filet oder Kassler; seltener Huhn als gegrilltes halbes Hähnchen; Lamm und Pferd nie. Die Entscheidung, was es gab, traf der Einzelhandel. Was im Sonderangebot war, kam auf den Tisch. Da es damals keine Wurfprospekte in die Briefkästen gab, klapperte meine Mutter immer die Lebensmittelabteilungen der großen Kaufhäuser ab (wir wohnten damals im Zentrum von Hamburg). Was im Angebot war, wurde gekauft. Die Ausnahme waren die hohen Feiertage, wo es „traditionelles“ Essen, wie z.B. Gans mit Rotkohl, gab.

Beim Gemüse verhielt es sich ähnlich. Solange wir keinen Schrebergarten hatten, entschied ebenfalls der Einzelhandel, was es gab, später dann die Tiefkühltruhe. Bohnen, Erbsen, Möhren, Blumenkohl, Rosenkohl, Grünkohl, Wirsingkohl – die Auswahl war groß und für das meiste konnte ich mich gar nicht erwärmen. Bohnen habe ich besonders verabscheut (etwas, das heute noch zutrifft); wenn sie gestovt (in einer Milch-Mehl-Soße) daher kamen, umso mehr.

Mein absoluter Favorit war Kassler mit Blumenkohl. Das hätte ich jeden Sonntag essen können. Leider waren meine Eltern nicht die größten Blumenkohl-Fans und Kassler war nicht immer im Sonderangebot. So blieb mir nur, die Gemüseportionen klein zu halten („nur 3 Bohnen, bitte“) und beim Fleisch, je nach Art mal weniger zu essen.

Heute ist das zum Glück anders. Meine Frau und mein Sohn sind mit Speisen zufrieden, die es bei uns früher nur werktags gab: Kartoffelpuffer, Nudeln mit Soße und Fleischbällchen, Spinat mit Ei. Es muss nicht immer das „Dreigestirn“ aus der Kindheit sein: Fleisch, Gemüse und Kartoffeln.

3 „Gefällt mir“

Erdbeersahne

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte ich in den fünften Stock. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Meine Mutter hatte mich fünfmal vom Balkon aus rufen müssen, bis ich auf ihr: „Komm essen!“ reagierte. Sicher würde ihr Gesicht rot vor Zorn sein. Keuchend zog ich mir die Stiefel aus und stellte sie auf die Matte neben der Wohnungstür. Ich atmete tief durch, fischte mit vor Winterkälte steifen Fingern den Wohnungsschlüssel heraus, steckte ihn ins Schloss und drehte. Zu meiner Überraschung wurde die Tür in diesem Moment von innen aufgerissen. Niemand war zu sehen. Ich trat ein und drehte mich, um die Tür zu schließen. In diesem Moment schoss die Hand meiner Mutter wie eine Viper aus der Dunkelheit hinter der Tür und gab mir eine schallende Ohrfeige.

Mein Herz stockte, bevor das Brennen auf der Wange mich an die Ohrfeige erinnerte. Tränen schossen mir in die Augen. Ich schniefte und schrie sie an: „Spinnst du?“ Klatsch. Die zweite Ohrfeige mit dem Handrücken geschlagen traf meine andere Wange. Dabei erwischte der Ehering meine Lippe. Ich schmeckte das Blut im Mundwinkel und wollte es mit dem Ärmel meiner Jacke abwischen.

Doch meine Mutter riss meinen Arm herunter. „Nimm dir gefälligst ein Taschentuch. Du versaust sonst die schöne Jacke.“

Ich kramte ein Taschentuch aus meiner Hosentasche hervor und tupfte das Blut ab.

Sie zeterte: „Was glaubst Du eigentlich wer du bist? Ich rufe und rufe und du kommst nicht? Was sollen die Nachbarn denken?“

Da war es wieder. Dieses: ‚Was sollen die Nachbarn denken?‘ Ist mir doch egal, was die Nachbarn denken! Ich hasste meine Mutter, wenn sie so war. Wenn sie tobte und schrie. Wenn sie mich schlug. Dabei waren das die ersten Ohrfeigen seit langer Zeit. Die letzte hatte ich vor drei Jahren bekommen, da war ich 9 Jahre alt. Ich schob meinen Unterkiefer nach vorn und sah ihr voller Hass in die Augen.

Das hatte sie nicht erwartet. Überrascht drehte sie sich weg und raunte: „Geh auf dein Zimmer. Ich rede erst wieder mit dir, wenn du dich entschuldigt hast.“ Dann verschwand sie in der Küche.

Das war mir recht. Ich wollte sowieso nie wieder mit dieser Frau reden. Ich zog meine Jacke aus, legte die schneefeuchten Wollhandschuhe auf den Heizkörper im Flur und ging in mein Zimmer. Erleichtert schloss ich ab. Hansi flog mir auf die Schulter und knabberte liebevoll an meinem Ohrläppchen. Ich nahm ihn auf den Finger, legte mich aufs Bett und setzte ihn neben mich. Dann erzählte ich ihm, was gerade passiert war, wie sehr ich meine Mutter hasste und dass ich mich auf gar keinen Fall entschuldigen würde. Sie müsse sich entschuldigen. Hansi lief zu meinem Gesicht und schmiegte seinen kleinen Kopf an meine Wange. Ich streichelte seine zarten Federn. Irgendwann wurde ihm das zu viel und er flog in seinen Käfig. So kam die Nacht. Ich öffnete die Tür einen Spalt und sah durch das Licht der Wohnzimmertür, dass meine Eltern fernsahen. Wie ein Stich ins Herz spürte ich die Enttäuschung, dass mein Vater mir nicht beigestanden hatte. Ich schlich ins Bad, um mir die Zähne zu putzen und rasch wieder zurück.

Am nächsten Morgen weckte mein Vater mich. Es war ein Schultag. 7.00 Uhr musste ich in der Schule sein. Er hatte mein Pausenbrot vorbereitet und Frühstück gemacht. Der Tee wie immer zu heiß, um ihn zu trinken. Nach der Schule würde er abgekühlt sein und dann immer noch schmecken. Meine Mutter war nicht zu sehen. Umso besser.

Der Schultag verging, ich kochte mir Fadennudelsuppe und trank den Tee. Danach ging ich wieder in mein Zimmer, machte Hausaufgaben und spielte mit Hansi. Nachmittags hörte ich wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Meine Mutter kam von der Arbeit. Ich sah auf die Uhr. Sie war später dran als sonst. Ich hörte sie im Flur die Jacke an die Garderobenleiste hängen und in der Küche rumoren. Teller klapperten, Papier raschelte, die Besteckschublade wurde auf- und zugeschoben. Dann: Stille. Minutenlange Stille.

Ich hielt es nicht mehr aus und wollte nachsehen. Da klopfte es leise an meiner Tür.

„Petra?“

„Ja.“

„Wollen wir uns wieder vertragen?“

Schmollend erinnerte ich mich an das, was gestern passiert war und knurrte: „Vielleicht.“

„Ich habe auch deine Lieblingstorte besorgt. Erdbeersahne.“

Ich schloss die Tür auf und öffnete sie. Meine Mutter stand mit Tränen in den Augen da, bereit mich zu umarmen. Doch so leicht wollte ich es ihr nicht machen. „Erdbeersahne? Vom Uschner-Bäcker?“

„Vom Uschner-Bäcker. Ich bin nach der Arbeit extra den Umweg dahin gelaufen. Für dich.“

Jetzt gab es für mich kein Halten mehr. Wir umarmten uns. Sie drückte mich so fest an sich, als wolle sie mich nie wieder loslassen.

Ich liebte meine Mutter. Vor allem, wenn sie so war.

8 „Gefällt mir“

Debreziner und Bier um 16 Schilling – eine Zeitreise
Ende der 90iger Jahre studierte ich in Graz. Um den Süden Österreichs kennen zu
lernen, packte mich damals die Lust, zwei Tage quer durch die Wälder und die Berge
nach Klagenfurt zu fahren.
Wohin sich keine Touristen verirren und wo hiesige Bewohner sowieso wissen, wo es
lang geht, werden Hinweisschilder rar. Auf meine Fragen hatten Einheimische mir
übereinstimmend eine Abkürzung über einen abgelegenen Seitenpass beschrieben.
„Einfach immer Richtung Einöd halten!“
Ich hatte den Ortsnamen lustig und passend gefunden. Inzwischen, nach eineinhalb
Stunden herumirren in einem dichter werdenden Wald ohne Ende, war mir das
Lachen vergangen.
Ich hatte mich verfahren, war irgendwann falsch abgebogen. Die Schotterstraße
wurde zur Forststraße, die immer steiler anstieg. Ich rauchte nervös eine Zigarette
nach der anderen und fröstelte, weil die Fensterscheiben heruntergekurbelt waren.
Die Nacht brach bereits an, und die Sicht schränkte sich auf gespenstische Schatten
am Straßenrand ein, welche die Scheinwerfer meines alten R4 aus dem schwarzen
Unterholz ausschnitten.
Unvermittelt gabelte sich die schmale Straße. Kein Wegweiser, nur auf der rechten
Seite ein verwittertes Holzschild an einen Baum genagelt, mit der Aufschrift „Huberwirt 1 km“.
Vielleicht konnte ich dort übernachten?
Das Gasthaus stellte sich als Schuppen heraus, der seitlich an ein großes Bauernhaus angebaut worden war.
Neben der der einfachen Holztür lehnte die Tafel einer Bierfirma auf der in ungelenken Blockbuchstaben „Gaststube offen“ stand. Etwas schüchtern trat ich in die „Gaststube“.
Ich befand mich in einem überdimensionierten Würstelstand, der in einen umgebauten Schuppen verpflanzt wurde. An der rechten Wand des schlauchförmigen Raumes
standen in einer Reihe vier einfache Holztische ohne Tischtuch. Links war eine
schmale langgezogene Theke, dahinter ein alter holzbefeuerter Kombiherd mit eisernen Herdplatten. In zwei großen Stahltöpfen blubberte heißes Wasser. Hinten, in der
linken Ecke sah ich unter einer Arbeitsplatte einen alten Kühlschrank neben einem
Stapel Bierkisten. Darüber an der Wand hingen Pfannen, ein Nudelsieb und mehrere
Schöpflöffel.
Die Luft war rauchgeschwängert von Zigarettenqualm und dem Geruch verbrannter
Holzscheite aus dem Kombiherd.
Drei Gäste - zwei davon offensichtlich Bauern, die von der Feldarbeit kamen - saßen
an einem Tisch und spielten Karten mit einem feisten, ebenfalls bäuerlich wirkenden
Mann, in weißer Küchenschürze. Bei meinem Eintreten unterbrachen alle ihr
angeregtes Gespräch und musterten mich prüfend.
„Guten Abend, kann man hier etwas essen?“
Der Mann mit Schürze legte seine Karten verkehrt auf den Tisch und stand auf.
„Griaß di Gott. Wos mechtest denn? Debreziner weren haß.“Ich war nicht fähig zu fragen, was denn sonst zur Auswahl stand und sagte einfach
„Ja, das wäre fein.“
„Und a Bier dazua, oder?“
Ich kannte bereits das rhetorische „oder“ der Österreicher und bestätigte: „Ja, bitte
ein Bier“.
Ich setzte mich gleich auf den ersten Tisch neben dem Eingang, um mich nicht zwischen der Theke und den Kartenspielern vorbeiquetschen zu müssen.
Wortlos stellte der Wirt eine Flasche Bier ohne ein Glas vor mich hin. Die Blicke der
anderen Gäste folgten jeder seiner Bewegungen, bis sie für eine Sekunde an mir
hängenblieben. Aus den Augenwinkeln stellte ich fest, dass sie ebenfalls keine
Gläser zu ihrem Bier auf dem Tisch hatten. Also war es hier normal, aus der Flasche
zu trinken.
Um ein Gespräch zu vermeiden, zündete ich mir eine Zigarette an und machte einen
betont selbstversunkenen Eindruck, während ich auf das Essen wartete.
Der Wirt warf ein paar Würste in einen der Töpfe und öffnete einen Schuber am Ofen
des Herdes. Ich sah mich um und versuchte, scheinbar in mich versunken, diesen
Ort bewusst zu erfassen.
Die feuchtwarme Luft war geschwängert mit dem fetten Geruch nach diversen Würstchen, vermischt mit dem Geruch von Bier und Zigarettenqualm. Dampf vom Kochen
kondensierte an der kalten Außenwand als Tropfen auf bereits vorhandenen Schimmelflecken. Vom Topf mit Deckel fielen Tropfen herunter und zerplatzten zischend
auf der heißen Herdplatte. Dazu passten Schweißperlen auf der Halbglatze des
Wirtes. Auf seiner Küchenschürze sah ich fleckige Spuren eines ganzen Tagesgeschäftes.
In der Mitte meines Tisches stand eine vergilbte Maggi-Flasche neben einem Salzund Pfefferstreuer. Mit dem Salz vermischt glänzten gelbliche Reiskörner, die wohl
das Salz trocken halten sollten. Trotzdem waren die Löcher in der eingebeulten Alukappe völlig verklebt.
Der Wirt erlöste mich aus meiner angespannten Betrachtung, indem er ein Paar
dampfende rotbraune Würstchen auf einem kleinen Porzellanteller mit Veilchenmotiv
brachte und einen Brotkorb mit zwei dicken Scheiben Schwarzbrot. Dazwischen
stellte er eine Familientube Senf.
„Mahlzeit!“
„Danke.“
Der Wirt setzte sich wieder zu den Anderen, hob seine Karten auf und rief: „Weiter
geht‘s!“
Ich hatte kein Besteck bekommen. Hier war es offensichtlich üblich, Bier aus der Flasche zu trinken und einfache Speisen mit den Händen zu essen.
Ich überwand meinen Ekel vor den verkrusteten Senfresten unter dem Verschluss
der riesigen Tube und drückte einen Batzen Senf auf den Teller. Beim Loslassen gab
die Plastikflasche ein schmatzendes Geräusch von sich.
Die Debreziner waren heiß und glänzten feucht. Ich tunkte eines in den Senf und
während ich abbiss, zog meine Nase einen unerwartet wunderbaren Geruch vonFett, Fleisch und Senf ein. Blitzartig wurde mir bewusst, wie riesig mein Hunger war
und wie appetitlich dieser Debreziner schmeckte. Ich biss hinein, die Wursthaut
platzte zwischen meinen Zähnen.Warmes Fett spritzte an meinen Gaumen.
Im ganzen Leben hatte ich noch nie so eine gute heiße Wurst gegessen. Das frische
Schwarzbrot war weich, hatte eine leckere Kruste und roch intensiv nach irgendwelchen Gewürzen. Alles zusammen vermischte sich mit dem Geschmack des Debreziners zu einem harmonischen Festmahl. Alle Fremdheit des Ortes wurde unbedeutend. Ich vergaß Raum und Zeit und alle Sinne reduzierten sich auf Schmecken, Riechen, Kauen.
Ohne eine Abschlusszigarette zu rauchen, zahlte ich.
„Macht sechzehn Schilling alles zusammen.“
Ich rundete auf zwanzig auf und fragte: „Wie komme ich von hier nach Einöd oder in
das nächste größere Dorf?“
Der Wirt hob überrascht seine buschigen Brauen.
„Des ganze do isch Einöd. Des Dorf isch aber nur zwoa kilometa weita.“
„Gibt es dort eine Übernachtungsmöglichkeit?“
„Jo. Du gehscht wohl am beschten zum Sandwirt. Hinta der Kirch‘n rechts.“
Ich bedankte mich und rief ein „Gute Nacht und Tschüss“ in die Runde.
„Pfiat di Gott und servus“.
Zehn Minuten später und zwei Kilometer weiter parkte ich vor dem Sandwirt. Ich
schmeckte am Gaumen und auf Zunge noch immer den herrlichen Geschmack des
Debreziners.
Ich konnte mein Ziel nicht verfehlen, denn bereits am Ortseingang grüßte eine
beleuchtete Hinweistafel mit riesigen Lettern: Hotel - Pension - Gasthof, Sandwirt.
Visa, Mastercard. Darunter prangte eine Zusatztafel. „Diese Woche mexikanische
Gourmetplatte und Degustationsmenues.“
Meine Zeitreise war beendet.

7 „Gefällt mir“

Sorry, dass mit dem Antworten auf einen Beitrag muss ich noch üben … :slight_smile:

Vielen Dank an alle, die meine Kurzprosa gelesen haben.
Ich fühle mich gesehen und wahrgenommen.
Danke!
Ich bin sehr gespannt, wir es organisatorisch nächste Woche weitergehen wird.
Generell finde ich es schwierig mit den „Likes“, weil ich keinerlei Abstufungen vornehmen kann.
Ich bin ein Anhänger der ESC Methode, mit 12, 10, 8 bis 1 Punkt. Aber das geht natürlich nur, wenn man alle Texte gleichzeitig bewertet und nicht immer wieder neue dazukommen …

Aber ich bin schon sehr gespannt auf das nächste Thema!

Viel Erfolg an alle Teilnehmer und viel Kraft an die Organisatoren!

Wer suchet, der findet.
gui

2 „Gefällt mir“

Studentenfutter

Die Welt schwankte wie bombardierte Hochhäuser in Kiew. Malte hielt sich so hart an der Absperrung fest, dass das Weiß seiner Fingerknöchel hervortrat. Um ihn herum die Lärmquellen der Partymeile. Gruppen, die im Suff grölten, Musik aus den angrenzenden Clubs und den Lautsprechern Vorsaufender. Polizeisirenen. Eine Kakophonie des Exzesses, eines Samstagabends wie er sein sollte. Wenn er nur nicht wieder so dermaßen übertrieben hätte.

Das Zittern der Beine ließ langsam nach, die Achterbahnfahrt im Kopf leider weniger. Das Resultat unzähliger Wodka Lemon und der Beweis, dass der Club doch nicht mit Alk geizte, wie es seine Mitbewohner behaupteten. Drauf geschissen. Er würde schon klar kommen, hatte bisher immer geklappt. Er brauchte nur was im Magen. Eine heiße fettige Pizza oder einen Döner. Er löste sich von der sicherheitsgebenden Reling und stach mutig ins Meer der Abendwelt, trotzte den Gezeiten wie Edward »Blackbeard« Teach. Nach wenigen Schritten geriet er ins taumeln, irgendwer riss am Ärmel seiner Lederjacke.

»Bruder, gehts dir gut?«

»Alter ist der fertig, sollen wir einen Krankenwagen rufen?«

Malte nuschelte eine Erwiderung. Er brauchte nur was zum Fressen. Doch statt eloquenter Artikulation verließ seinen Rachen lediglich ein Schwall Erbrochenes. Irgendwer schrie pikiert. Seine Beine knickten ein, er stürzte und schlug sich die Handinnenflächen und Knie auf.

Die Welt, das Neonlicht der Geschäfte und Laternen verengte sich zu einem Prisma aus Strahlen. Keine Chance, in der Verfassung weiterzulaufen. Er krabbelte wie ein Achtmonatiges in den Schutz einer Mülltonne und eines Geschäfts. Er lehnte die glühende Stirn an die kühlende Glasfassade und evaluierte die Misere.

Der Zustand würde ein wenig anhalten. Überleben war angesagt. Augen zu, frische Luft einatmen, tief …

Der wiederkehrende Strudel riss ihn zurück in die Gegenwart. Nope, hier war nichts mit Augen zu. Atmen. Atmen und überleben. Sein Magen rumorte, der Hunger fraß sich wie das flüssige Toxin durch seine Organe. Er stützte sich, suchte eine angenehme Sitzposition, als seine Hand in etwas Lauwarmes griff.

Maltes Sicht fokussierte sich. Eingepackt in eine rot-weiße Folie lag er. Nach Fett, Knoblauch und Fleischgewürzen riechend. Die Erlösung. Ein Döner.

Die Seiten des Fladenbrotes waren leicht angeknabbert und Rotkohl ergoss sich mit Tomaten- und Gurkenstückchen auf den Asphalt, doch ansonsten war er perfekt. Er hielt ihn sich unter die Nase, so als könne er etwaige Gifte erschnüffeln, doch alles was seinen Geruchssinn tangierte, waren die Aromen krossen Hähnchenfleischs und Zazikis. Er zögerte, seine Gedanken kämpften den jahrtausendalten Kampf der Menschheitsgeschichte: Hunger gegen Stolz.

Wo kein Kläger, da kein Richter. Er biss ein großes Stück ab, Krautsalat vermischte sich mit saftigem Fleisch, würziger Sauce, feurigen Chiliflocken und salzigem Schafskäse. Der Selbsterhaltungstrieb hatte gewonnen. Er verschlang das weggeworfene Goldstück wie ausgehungerte Hamstermütter ihren Nachwuchs.

Und wie er so gestärkt in den sternenklaren Nachthimmel sah, die Hände an der Jacke abschmierte und über den Sinn des Lebens angesichts eines drohenden Atomkriegs philosophierte, fiel ihm das stupide Motto seiner Mitbewohner und des heutigen Abends ein: Besser widerlich, als wieder nicht.

Tja, abgeliefert.

4 „Gefällt mir“

Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

„Sie haben ihn umgebracht.“ Ihre Stimme ist tonlos. Vor Tauer, die ich mir nicht einmal vorstellen kann.

Keine Tränen.

So groß ist das Entsetzen und der letzte Rest von Verleugnung.

„Sie haben meinen Jungen umgebracht.“ Sie hält ein Geschirrtuch in Händen. Legt es zusammen, auf die Hälfte und noch mal auf die Hälfte. Sorgsam, fährt mit den Fingern über jede Kante. Ich vermute, dass ihr die Handlung nicht bewusst ist.

„Wer? Wer hat Ihren Sohn umgebracht?“ Ich setze mich ihr gegenüber, sehe mich verstohlen um. Eine kleine Wohnung, verwohnt und alt, aber sauber. Durch das Fenster sehe ich die Nacht und das kränklich gelbe Licht der Straßenlaterne.

Es zieht zu diesem Fenster herein und ich unterdrücke mein Schaudern. Auch, weil ihre tonlose Stimme so schrecklich nüchtern ist.

„Sie waren es. Die anderen. Die, mit denen er früher herumgehangen ist.“ Sie nimmt das Tuch wieder auseinander, glättet es auf dem Tisch. Fängt erneut an, es zu falten. Halb und halb und halb.

„Können Sie mir sagen, wo ich „Die“ finden kann. Haben Sie mir einen Namen?“ Sie sieht mich nicht an mit ihren trockenen Augen. Der Mund bebt.

„Er hatte eine Tüte mit Brötchen dabei.“ Ich sehe auf meinen Notizblock, um nicht ihren Blick suchen zu müssen. „Eine Tüte Fertigsoßenpulver und …“, ich wende mich zum schwachen Schein der Straßenlaterne. Ein Licht hat sie bisher nicht angemacht, sitzt da in der Düsternis ihrer kleinen Wohnung und ihrer noch finstereren Gedanken. „Kleingeld, 60 Pfennig, was uns alle verwundert hat. Keinen Euro oder sonstiges Geld, Papiere, Ausweis.“

Ein bitteres Lächeln, die Augen geschlossen. „Seine Leibspeise. Brötchen in Soße getunkt.“ Sie blickt mich an und ich kann nicht anders: ich scheue vor diesem Blick zurück. Die Augen sind blau wie Polareis. Auch ihr Sohn hatte solche Augen. Aber seine Augen hatten dieses arktische Blau verloren und starrten blicklos in den kalten Regen hinauf.

„Brötchen in Soße getunkt.“ Das Tuch wird auseinandergenommen. „Wir hatten nie irgendetwas. Sein Vater war … weg und mein Junge verdiente sich Geld beim Bäcker um die Ecke. 60 Pfennig die Stunde. Und ab und an Brötchen und Tüten mit Soßenpulver.“

Dann wieder Stille. Dicht und gelb vom Laternenlicht. Einzig das leise Geräusch des Stoffes, der gefaltet wird.

„Wer hat ihn umgebracht?“ Ich greife mir in den Hemdkragen. So zugig diese Wohnung ist, mir ist heiß. Diese Frau … ihre Abgestumpftheit bestürzt mich. Er war ihr Sohn. Er lag mit offenen Polareisaugen und offenen Mund erschlagen unter den Bäumen. Die Brötchen vom Regen aufgeweicht, die Tüte mit dem Soßenpulver aufgerissen und über sein Gesicht gestreut. Braune Schlieren, Blut und Soße.

„Er … mein Junge … Bastian …“ Zum ersten Mal sagt sie seinen Namen. Und zum ersten Mal eine Reaktion. Ihre Hand fährt zum Mund, um einen Schluchzer aufzuhalten.

„Frau Müller …“ Ich bin versucht, nach ihrer anderen Hand zu greifen. Die, die noch immer das Geschirrtuch hält. Aber ich wage es nicht. Die Haut sieht kalt aus und mich fröstelt bei der Vorstellung.

„Frau Müller, wer hat ihren Sohn umgebracht?“ Meine Stimme wird lauter als ich beabsichtige. Die Enge dieser Wohnung und die Dichte der unbegreiflichen Trauer setzen mir zu.

„Sie alle, die hiergeblieben sind. Der Schläger von oben, die Hure von gegenüber, die ganze Meute, die es nicht geschafft hat, aus dieser schäbigen Hölle hier zu entkommen.“

Sie schöpft Atem, zitternd, leise. Allein die Menge der Worte scheint sie erschöpft zu haben.

„NEID!“, schreit sie plötzlich und schlägt mit dem Tuch auf den Tisch. „Sie haben ihm das nicht gegönnt, diese Aasgeier, diese …“ Eine Hand fährt an ihre Kehle, sie japst nach Luft.

Ihr Ausbruch, so unerwartet, lässt mich zusammenschrecken. Mein Block fällt mir aus der Hand, der Stift kollert unerreichbar unter den Tisch.

„Die Brötchen und die Soße … Es war ein Ritual zwischen uns. Er hat versprochen, wenn er die 60 Pfennig auch mitbringt, hat er es geschafft.“

„Was geschafft?“ Ich weiß, dass er das Jura studiert und seine erste Stelle in einer Kanzlei angetreten hat.

Frau Müller sinkt auf ihrem Stuhl zusammen. Blicklos starrt sie auf das Tuch in ihrer Hand. Krallt sich daran, fährt damit über das eisige Blau der Augen, das jetzt schmilzt.

„Wenn er die 60 Pfennig mitbringt, nimmt er mich mit. Er wollte sie hier auf den Tisch legen und mich „auslösen“. Weil diese 60 Pfenning das erste Geld waren, das er je verdient hat.“

4 „Gefällt mir“