Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Interessant. Dieser kleine Ausblick versorgt mich mit Anleihen an klassiche Anime-Erzählungen mit einem kleinen Anflug von leichtem Grusel. Sollte es, sofern die Geschichte weiter geschrieben würde in die Richtung Horror gehen, wäre hier ein großes Potential. Eine interessante Momentaufnahme.

Eine schöne, rührende Geschichte. :+1:

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… böse, böse, böse, … :wink:

Ganz vielen lieben Dank für eure Likes :smiling_face_with_three_hearts:

Tränen gelacht. Ja, das sind Vaterfreuden. Mit meinem Lütten ist das ähnlich. Am „schlimmsten“ ist es, wenn er schon wach ist, bevor ich meinen ersten Kaffee hatte.

Eine schöne Geschichte.

Ich bin mir jetzt absolut nicht sicher, wo ich genau meinen Beitrag ablegen soll. Aus Verzweiflung nehme ich jetzt den Button ANTWORTEN. Sorry, wenn das falsch ist.

Ich bin zwölf und meine Mutter liegt im Krankenhaus. Also wäre ich jetzt die Frau im Haus, sagt der Vater zu mir. Darum beschließe ich, dass ich etwas kochen werde. Am besten ein Gericht, welches wir beide gern essen. Schließlich soll sich die Kranke nicht auch noch Sorgen machen, ob wir ohne sie zurechtkommen.
Ich überlege kurz und entscheide mich für Hefeklöße. Das Rezept ist schnell gefunden und im Kühlschrank entdecke ich sogar einen frischen Würfel Hefe. Akribisch halte ich mich an die Anweisungen im Kochbuch und bin ganz stolz auf meinen Teig, denn er geht tatsächlich auf. Da ich seit je her eine Vorliebe für rohen Kuchenteig habe, koste ich davon. Ein Hefekloß ist ja auch nur gekochter Kuchen. Der Teig schmeckt und ich beginne mich für eine begnadete Köchin zu halten. Nur eine Sache macht mir Sorgen. Ich glaube, mich zu erinnern, dass meine Mutter die Klöße in einem Sieb über Wasserdampf zubereitet hat. In dem Kochbuch steht aber, dass ich sie in kochendes Wasser geben soll. Ich zögere eine Weile, entscheide mich dann für die Methode aus dem Buch. Wer ein Kochbuch schreibt, der sollte doch wissen, wie es gemacht wird. Also setze ich einen Topf mit Wasser an. Bis es kocht, forme ich aus meinem Teig Kugeln, die die Größe eines Tennisballs haben. Ich lege sie mit Abstand auf die bemehlte Tischplatte. Sie sehen schön gleichmäßig aus, wie sie da so in der Sonne liegen. Das Geräusch von sprudelndem Wasser erinnert mich daran, dass ich nur noch eine Aufgabe vor mir habe. Also nehme ich einen der Hefeklöße und lasse ihn vorsichtig in das kochende Wasser gleiten. Geschafft! Er ist nicht zerfallen und ich kann den Nächsten holen. Als ich mit dem zweiten Kloß zum Herd zurückkomme, schnaufe ich entgeistert. Kloß Nummer eins ist riesengroß geworden und nimmt den halben Topf ein. Wenn ich nun den Zweiten dazu gebe, dann passen die anderen nicht mehr mit hinein. Entsetzt stelle ich fest, dass sich diese Vermutung bewahrheitet. Was jetzt? Ich werfe einen Blick auf die restlichen Klöße und wische mir mit meiner mehlbeschmierten Hand über die Augen. Kann es sein, dass die auch immer größer werden? Ich hatte sie doch so hingelegt, dass zwischen ihnen reichlich Abstand war. Da passt jetzt kaum noch ein Finger dazwischen. Panisch wandert mein Blick zwischen dem Herd und dem sonnenbeschienenen Tisch hin und her. Ich weiß nicht, was ich machen soll! Zum Glück geht gerade in dem Moment die Tür auf und die Oma kommt herein. Sie will etwas sagen, aber ich unterbreche sie. „Omi, Omi, hilf mir bitte! Die blöden Dinger werden immer größer! Es ist wie beim Märchen mit dem süßen Brei.“
Ich kann mich nicht erinnern, wie die Oma die Misere gelöst hat und wie die Hefeklöße am Ende geschmeckt haben. Seither gab es bei mir nur tiefgefrorene Klöße, die im Dampfbad zubereitet werden. So einen Stress will ich mir nicht noch einmal antun.

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Bratschnitten mit Salz oder Brötchen mit Soße?

»Was wollt ihr haben? Brötchen mit Soße oder Bratschnitten mit Salz?«

Obwohl Kirsten die Antwort längst kannte, stellte sie immer diese Frage, sobald Mama und Papa die Wohnungstüre hinter sich zugezogen hatten.

Dass wir alleine zuhause bleiben durften, war selten genug und deshalb auch von Mal zu Mal immer wieder spannend. Ein komisches Gefühl war das, konnten wir doch plötzlich mehr oder weniger tun, was wir wollten und kosteten diese seltenen Momente dann auch sehr aus.

Kirsten sollte dann auf uns aufpassen. Schließlich waren wir keine Babys mehr. Außerdem zählte ich mit meinen sechs Jahren ja nicht mehr als so ganz kleiner Bruder, wogegen Iris mit gerade einmal fünf Jahren ganz klar als das Nesthäkchen galt.

»Bratschnitten mit Salz!«, riefen Iris und ich wie aus einem Mund. »Mach uns Bratschnitten mit Salz!«

Brötchen mit Soße hatten wir uns noch nie gewünscht, vielleicht auch deshalb, weil wir gar nicht wussten, was das eigentlich sein sollte. Wahrscheinlich wusste Kirsten das selbst nicht einmal.

Kirsten war unser Vorbild: Nicht nur, dass sie mit ihren Freundinnen und Freunden unter dem Balkon der Nachbarn heimlich die eine oder andere Zigarette rauchte (»…wir paffen nur, auf Lunge ist viel zu gefährlich und da muss man so husten…«), während Iris und ich direkt vor dem Balkon Wache schieben mussten. Nein, sie traute sich sogar, den Elektroherd in der Küche einzuschalten, Öl in einer Pfanne heiß zu machen und dann Graubrotschnitten so lange zu braten, bis sie auf beiden Seiten eine hellbraune, fast goldene Farbe angenommen hatten. Wir zwei Kleinen hatten dann die ehrenvolle Aufgabe, »…den Tisch zu decken…«, welche darin bestand, Teller auf den Tisch zu stellen und daneben jeweils eine Gabel und ein Messer zu legen. Sobald wir das erledigt hatten, schickte uns Kirsten in unser Kinderzimmer, »…zum Spielen…«, wie sie sagte. Meistens dauerte es dann nur noch wenige Minuten, bis sie uns zum Essen rief.

Mein Spielen bestand heute darin, die hellbraune, nagelneue Plastikgießkanne, die Mama für die Zimmerpflanzen gekauft hatte, mit Wasser zu füllen und dann auszuprobieren, ob die gesamte Menge durch das fingernagelgroße Loch im unteren Fensterrahmen abfloss. Das Loch war dafür da, Kondenswasser, was sich im Winter an der kalten Scheibe sammelte (damals waren die Fenster noch einfachverglast) abfließen zu lassen, so hatte Papa es jedenfalls erklärt. Aber genauso geeignet war es, die zwei Liter Wasser aus der Gießkanne abfließen zu lassen, wie ich heute mit meinem kleinen Versuch festgestellt hatte. Frau Stiehl, die direkt unter uns mit ihrer Familie wohnte und gerade erst ihre Fenster geputzt hatte, fand meine Idee nicht ganz so toll … Aber das ist eine ganz andere Geschichte …

Der frische Geruch des gebratenen Brotes hatte gerade erst meinen Magen zum Knurren gebracht, als Kirsten auch schon rief: »Ihr könnt kommen, die Bratschnitten sind fertig!«

Iris, die im Flur gespielt hatte, sprang auf und war deutlich schneller als ich in der Küche.

»Setzt euch,« sagte Kirsten. »Salz steht auf dem Tisch und wenn ihr wollt, schneide ich euch das Brot in Stücke.«
»Ich esse mein Brot ganz.«, antwortete ich. »Brauchst meins nicht schneiden.«
»Ich auch. Meins brauchst du auch nicht schneiden«, sagte Iris.
»Okay, passt aber auf, das könnte noch warm oder vielleicht sogar heiß sein«, entgegnete Kirsten.
»Meins kannst Du ruhig doch schneiden!«, entschied Iris.

Ich streute reichlich Salz auf meine Bratschnitte. »Du, Kirsten, ob die Männer da oben auf dem Mond sich auch Bratschnitten machen können?«

Erst gestern Abend hatten Papa und ich auf dem Balkon gestanden und zum Vollmond hinaufgeschaut. Wir hatten die Liveübertragung von der Mondlandung im Fernsehen geschaut und Papa hatte mich mit auf den Balkon genommen.
»Komm, wir gucken mal, ob wir die Männer auf dem Mond sehen können!«, grinste er. »Da oben, ganz weit weg, da sind sie und erkunden den Mond. So weit weg und es sieht doch so aus, als sei der Mond ganz nah, findest du nicht?«
Ich nickte. Ich fand es wahnsinnig spannend, dass wir hier unten auf der Erde standen und gleichzeitig diese Männer auf dem Mond herumhüpften. Und sie machten große Sprünge, viel höher und weiter als hier auf der Erde!

»Nee, du weißt doch, die essen nur Astronautennahrung, das ist so ganz komisches, ekliges Zeug aus der Tube«, antwortete mir Kirsten. »Die drücken das raus aus der Tube und direkt in den Mund hinein. Die brauchen nicht mal Teller oder Besteck oder so.«
»Wie schmeckt das denn?«, fragte Iris. Sie sah aus wie der Hamster von Astrid, beide Backen voller Bratschnitte.
»Ich weiß es nicht, ich habe noch nichts davon probiert«, sagte Kirsten.
»Vielleicht wie Mayonnaise? Oder wie Erdbeermarmelade? Oder Honig?«, schlug ich vor.
»Eiscreme! Bestimmt schmeckt das wie Waldmeister-Eiscreme! Das für zehn Pfennig vom Eismann!«, rief Iris und lachte.

Ich grinste und biss das nächste Stück von meiner inzwischen deutlich abgekühlten Bratschnitte ab. Ich mochte das knuspernde Geräusch beim Abbeißen und den Geschmack des Salzes, der (wenn man das Brot lange, gaaanz lange kaute) immer süßer und süßer wurde. Den Trick mit dem Kauen hatte mir Andi verraten, mein bester und bisher einziger Freund hier im Hochhaus. Andi wohnte zwei Stockwerke über uns und war genauso alt wie ich.

Für morgen hatten Andi und ich uns verabredet. Wir wollten Autos zählen, das konnte man von unserem Kinderzimmerfenster aus supergut. Die Autobahn war höchstens hundert Meter weg und damals noch wenig befahren. Wir machten Strichlisten, einer zählte alle roten und der andere die schwarzen Autos, je nachdem welche Farben uns an dem Tag einfielen. Gewonnen hatte dann der, der die meisten Autos seiner Farbe gezählt hatte.

Ich würde Andi morgen erzählen, dass die Männer auf dem Mond Astronautenpampe aus der Tube essen mussten, die entweder nach Mayo oder nach Waldmeister oder nach einer Mischung daraus schmeckte, während wir hier heute die leckersten Bratschnitten der Welt mit Salz aßen.

Was Brötchen mit Soße sind – das allerdings habe ich bis heute noch nicht herausgefunden.

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Hallo zusammen, da haben sich ja schon eine menge Texte angesammelt. Dann will ich auch mal mein Glück versuchen.

Nudeln mit Onkel Jakob

Der Duft von angebratenen Zwiebeln und Knoblauch weht durch das Haus. Das Zischen des Hackfleisches, das Mama hinzufügt, klingt verlockend in meinen Ohren. Heute würde es wieder Hascheesoße mit Nudeln geben. Mein Lieblingsgericht. Die Zwiebeln müssen fein gewürfelt werden, zu grob mag meine Mutter nicht. Papa bevorzugt es, wenn der Knoblauch in ganzen Zehen in der Soße schwimmt. Das Herausfischen ist das Goldgraben des kleinen Mannes, sagt er. Die Nudeln hat er aus Italien mitgebracht. Seit zwei Jahren ist er bei einer Firma als Fernfahrer angestellt. Die Woche über ist er unterwegs, dafür bringt er freitagabends immer interessante Sachen mit von seiner Tour. Ich schlendere in die Küche und schnuppere gierig.
„Kann ich helfen?“ Eigentlich eine Frage, um meine Anwesenheit zu erklären. Mama mag es nicht, beim Kochen gestört zu werden.
„Deck schon mal den Tisch. Fünf Leute, Onkel Jakob kommt zum Essen.“ Ohne aufzublicken, rührt sie weiter die Soße.
Ich mag Onkel Jakob. Eigentlich ist er mein Großonkel, aber das hört er nicht gerne. Er meint, das lässt ihn älter klingen, als er eh schon ist.
Seit dem Tod seiner Frau kommt er öfter zum Mittag. Er wohnt nur eine Straße weiter und hat sonst niemanden, der es länger mit ihm aushält. Meine Mutter hat versucht, ihn mit ‚Essen auf Rädern‘ versorgen zu lassen. Da er es immer im Garten vergraben hat, wenn es ihm nicht geschmeckt hat, ist man jedoch übereingekommen, dass er bei uns mit isst, damit er nicht vom Fleisch fällt.
Onkel Jakob ist ein Gnom. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mit meinen dreizehn Jahren überrage ich ihn schon um einen Kopf. Von seinem schlohweißen Haar ist nur ein Kranz übrig, der wild wuchernd den Hinterkopf bedeckt. Er hat spitze Ohren, die mich immer an Mister Spock aus dem Fernsehen erinnern. Er redet, wie ihm der Mund gewachsen ist und kann verletzend wirken, wenn man ihn nicht kennt. Solange ein Grinsen auf seinen Zügen liegt, muss man sich nicht beleidigt fühlen. Wahre Beleidigungen kommen erst, wenn er nicht mehr grinst.
Ich räume die Teller auf den Esstisch im Wohnzimmer. Die Küche ist zu klein, um dort mit fünf Leuten zu sitzen. Mein Bruder ist auf dem Fußballplatz, müsste aber bald kommen. Die Türklingel ertönt, ich bin gerade fertig geworden und renne los.
Vor mir steht Onkel Jakob. Er hat eine Weinflasche unter den Arm geklemmt und trägt seinen alten Hut. Er sieht aus wie ein Vagabund. Grinsend drückt er mir die Flasche in die Hand.
„Nit alles uf omo schlucke!“ Sein Rheingauer Platt ist so breit wie der Fluss, der uns von Bingen trennt.
Papa kommt die Treppe runter. Fröhliches Begrüßen, während in der Küche die letzten Töpfe klappern. Mein Bruder hat die Zeit aus den Augen verloren. Mehr für mich!
Wir setzen uns an den Tisch.

Mama gibt Onkel Jakob die Nudelkelle. „Nimm dir schon mal.“
Er nimmt sie entgegen und häuft meinen Teller voll. „Musst noch e bisje mehr wachse als ich.“
Die Jagd nach den Knoblauchzehen beginnt. Sie sind weich gekocht, schmecken aber intensiv. Jeder will mindestens eine davon. Ich habe Glück und bekomme zwei. Das Hackfleisch bildet einen Berg auf den Nudeln. Rasch etwas verteilen, damit mehr Platz für Streukäse ist.
Mamma nimmt ihr Besteck auf. „Guten Appetit.“
„Nix verschlabbert, nix verschütt.“, füge ich hinzu.
„Hätt ach ohne dei dumm Gebabbel geschmeckt“, brummt Onkel Jakob und grinst.

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Der Maroni-Mann

Der Mann mit dem bunten Schal war munter und zugewandt. Dennoch schien seine melodische Sprache ein wenig fremd. Fröhlich kam er uns in der Einkaufsstraße unserer kleinen Stadt entgegen, den Kirchturm im Rücken, das Kopfsteinpflaster vor sich – und vor seinem schmalen Bauch trug er eine eiserne Konstruktion, die dampfte.
„Das ist der Maroni-Mann aus Italien“, erklärte meine Mutter. „Südlich der Alpen heißen unsere Esskastanien Maronen. Immer im Spätherbst kommt er zu uns.“

Zögerlich sog ich die Worte in mich auf.

„Willst Du mal probieren?“

50 Pfennig kostete eine der bunt bedruckten Tüten. Der Mann befüllte sie aus seinem Kessel heraus mit dunkelbraunen Kugeln, aus deren Innerem ein bepelztes Wesen in hellerem Braun hervorlugte. Oder vielmehr befreit werden wollte aus diesem Pelz – und dabei unleidlich heiß in der Hand lag, wie ich gleich feststellte. Vermutlich flog die erste aus den rot werdenden Fingern, daran kann ich mich nicht recht erinnern.

Jedenfalls bekam ich dann eine geschälte Maroni gereicht und biss vorsichtig hinein. Ein wenig vertrauter, zunächst dumpfer Geschmack, ein warmes Gefühl im Mund und bald im Bäuchlein und ein nussiges, angenehmes Aroma blieben, bis eine zweite den Genuss verstärkte und eine dritte zur Sättigung führte.
Im Einkaufskorb mit seiner roten Stoffabspannung verstaut, wahrte die Papiertüte sogar bis in die Vorstadt die Wärme. Die Temperatur wurde endlich für Kinderfinger behaglichen.

Das Erproben der Esskastanien hielt in diesem Herbst für einige Wochen an. Der Maroni-Mann wurde beim Einkaufen zu einer ersehnt erwarteten Persönlichkeit, deren Verschwinden vor Weihnachten ein tiefes Missbehagen verursachte. Große Zeitspannen sind nichts, was in einen Kinderkopf passt. Die Auskunft, er werde inmitten des nächsten Herbstes wiederkehren, weckte erst Argwohn, dann Zweifel.

Die Adventszeit mit dem Backen eines Lebkuchenhauses, dem Duft der Plätzchen und der vielen Gewürze verdrängte allzuschnell die Gedanken daran.
Die letzten Äpfel wurden im Frühling durch Rhabarber und die allerersten Erdbeeren ersetzt. Vom Frühsommer bis in den Oktober hinein hielt die Ernte aus den Gärten den kindlichen Gaumen auf Trab. Dennoch bestand ein unbewusstes Sehnen nach dem Seltenen jenseits der lebendigen Erinnerung fort. Vertrautes wird durch anderes abgelöst, ohne dass die Sehnsucht nachlässt.

Womöglich frischte in den intensiven Lesephasen der Kindheit Preußlers Kleine Hexe durch die Bekanntschaft mit ihrem verschnupften Maronimann das Gedächtnis auf.
Es wurden zwei Jahre, ehe ich den Maroni-Mann wieder zu Gesicht bekam.
Wir waren beide älter.

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Die erste Weihnachtsgans nach dem Krieg

Wir, das sind meine Eltern, Flüchtlinge auch Breslau, mein Bruder Hans-Christoph (8) meine Schwester Marlies (6) und ich, Siegfried (7) wohnen in Reundorf, einem kleinen Bauerdorf in Oberfranken. Hungern mussten wir nicht, Vater arbeitete als Versicherungsvertreter, aber dennoch war bei uns oft Schmalhans Küchenmeister.

Wenn am ersten Weihnachtstag der Duft von gebratenen Gänsen durch das Dorf wehte, gab es bei uns Rinderroulade. Vater bekam eine ganze Roulade. Mutter und wir Kinder jeweils eine Halbe.

Weihnachten 1954 war es so weit, Vater kaufte von einem Bauern, den er wegen einer Ernteausfall-Versicherung beriet, eine fette Gans. Stolz präsentierte er uns den angehenden Festtagsbraten. »Der Bauer hat mir extra noch eine Leber und ein Herz dazugelegt, ein Weihnachtsgeschenk, wie er sagte«.

Der erste Feiertag.
Vater stand früh auf und bereitete fröhlich pfeifend die Gans für den Backofen vor. Säubern, würzen, mit einer Füllung ausstopfen und den Bauch zugenäht,
»Fertig für die Bratröhre«, rief er fröhlich und legte die Gans auf den Bratrost.

Der alte Küchenherd war bereits vorgeheizt. Ein alter Herd, einfach nur schwarzer Stahl ohne Zierrat. Er besaß drei Kochplatten und die Backröhre. Briketts oder Holz dienten als Brennmaterial. Wir heizten ihn mit dem Bruchholz, welches wir im Sommer aus dem naheliegenden Bauernwald holen durften.

»Siegfried gehe in den Schuppen und hole noch mehr Holz. Vom Holzholen zurück wies mir Vater eine verantwortungsvolle Aufgabe zu: »Wir gehen jetzt in die Kirche. Du bleibst da und achtest darauf, dass das Feuer nicht ausgeht«,

Nachdem sich der Rest der Familie auf den Weg begeben hatte, öffnete ich das Ofentürchen und begutachtete den Zustand des Feuers.
»Könnte schon Holz nachlegen«, so mein Urteil. Gedacht getan. Um ja keinen Fehler zu machen, legte ich so viel Holz nach, wie es der Brennraum zuließ.

Da aus den Ringen der Kochplatten Rauch quoll, öffnete ich die Schieber für die Frischluftzufuhr und für den Rauchabzug, soweit es möglich war. Die Ringe der Kochfelder begannen zu glühen, für mich ein Zeichen, dass von mir genügend Holz aufgelegt wurde.
»Ja, jetzt brennt das Feuer sicher eine Weile«, dachte ich und beschloss, immer wenn das Glühen der Kochringe nachlässt, erneut Holz nachzulegen.

Anderthalb Stunden später kamen meine Eltern und Geschwister vom Kirchgang zurück.
«Mein Gott, was ist denn hier passiert«, rief meine Mutter, kaum dass sie die Küche betreten hat, »das riecht ja verbrannt!, was hast du schon wieder angestellt, Siegfried?«
»Um Himmelswillen - die Gans«, schrie mein Vater, stürmte zum Herd, öffnete die Klappe zur Bratröhre und erstarrte. Auf dem Rost lag, schwarz und verbrannt, seine erste Weihnachtsgans nach dem Krieg. Tränen liefen über sein Gesicht. Dann drehte er sich zur Mutter um und sagte: »Im Gasthof Menzel gibt es heute Gänsebraten, dort werde ich Gans essen.« Drehte sich um und verließ die Wohnung.

Während Mutter versuchte von der Gans zu retten, was zu retten war, bekam ich noch einige Vorwürfe zu hören. Wie die brauchbaren Reste der Gans schmeckten, daran kann ich mich nicht erinnern.
Möglicherweise liegt es an dieser Episode meines Lebens, dass ich bis heute nur ungern Gänsebraten esse. Man nennt dies wohl ein Kindheitstrauma.

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Vielen lieben Dank. :slight_smile: Das ist doch schön zu hören. Liebe Grüße :blush:

Vielen Dank! Irgendwie kam’s mir passend zu Halloween in den Sinn, Kindheitserinnerungen an tolles Essen auch mal von einem Vampir erzählen zu lassen … :slight_smile:

Schulzeit war Pausenzeit! Pausenzeit war Brotzeit! Wenn ich mir nicht Waldmeisterbrause als Kokainersatz durch die Nase zog oder mit meinen Freunden den Kaffeeautomaten belagerte, dann nahm ich in der ersten großen Pause das von meiner Mutter belegte Brot aus der Papiertüte. Die Tüte war regelmäßig für die Stulle viel zu klein, so dass die Krümel sich im Ranzen verteilt hatten, bevor man zubeißen konnte. Butter- und Fettflecken auf dem Papier konnten ein gutes Zeichen sein. Nicht aber wenn es Brotreste gab, die schon eine Woche in der Küche herumlagen und hart und bröselig waren. Dann brach die Butter zwischen den Brotkrumen hervor wie Schimmel aus einer vergammelten Mietwohnungswand. An schlechten Tagen war die Wurst lapprig und sah aus wie altes Leder. An guten gab es zu der knackig roten Salami noch eine Essiggurke oben drauf. Die Brotschneidemaschine in der Küche war ein Ungeheuer das Alpträume von verlorenen abgeschnittenen Daumen verursachte. So hielt ich mich davon fern und lange war das Pausenbrot eine der wichtigsten Überraschungen des Tages. Spiel, Spaß und Spannung also. Bis es von der Aufbackbrezel abgelöst wurde! Einzig die zu kleine Tüte blieb…

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Ich könnte hier praktisch bei allen Geschichten ein Like dalassen, da sind solche Perlen dabei, die Erinnerungen wecken und mich wirklich berühren :slight_smile:

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Tolle Erzählung, vielen Dank dafür. Meine Augen sind voller Wasser.

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Hunger und Entbehrung waren jahrelange Begleiter unserer Eltern gewesen, zuerst die Kriegsjahre, später die Lebensmittelmarken, die Freude selbst über einen trockenen Kanten Brot, ein paar Kartoffeln vielleicht, und eine Handvoll Bohnen. Davon wussten wir Kinder nichts, wuchsen, eigentlich unbeschwert, vor vollen Tellern sitzend auf. Krieg und Vertreibung kannten wir weder aus der eigenen Erfahrung noch aus väterlichen Erzählungen, denn darüber wurde nicht gesprochen, zumindest nicht vor uns Kindern und schon gar nicht beim Abendessen. Mit der Einführung der D-Mark 1948 im westlichen Teil der Besatzungszone wurde die nachkriegliche Tauschhandelsgesellschaft jäh beendet und dadurch die erste Voraussetzung geschaffen, die brachliegende Wirtschaft in Gang zu bringen. Eine milliardenschwere Finanzspritze der Amerikaner, Marshallplan genannt und nicht ganz uneigennützig vergeben, galt es doch nicht weniger als ein Bollwerk gegen den Kommunismus einzurichten, tat ihr Übriges und leitete in den 50ern eine Phase ein, die heute unter dem Begriff Wirtschaftswunder bekannt ist.

Es gab wieder Arbeit, es gab wieder Geld für diese Arbeit und mit dem Geld konnten wieder Lebensmittel gekauft und verzehrt werden. Und es gab vor allem genug, wenngleich nicht alles, um nach dem abendlichen Mahl endlich wieder mit sattem Gefühl am Tisch zu sitzen und, zumindest die Erwachsenen, mit einem kleinen Underberg, einem Kräuterschnaps, der seit 1846 mit unveränderter Rezeptur zur besseren Verdauung gebrannt wird, eine wohlige Wärme in den vollen Bauch zu zaubern. Das Essen zu dieser Zeit war schlicht, deftig und in der Zubereitung praktisch. Wenn es etwas gibt, was schlicht ist, dann ist das Eintopf, wenn es etwas gibt, was deftig ist, dann ist das Eintopf und wenn es etwas gibt, was in der Zubereitung praktisch ist, dann ist das ebenfalls Eintopf, denn den kann man getrost in riesigen Töpfen kochen, deren Inhalt eine vierköpfige Familie mindestens drei Tage über die Runden bringt. Aber wenn es etwas gibt, was ich als Kind nun gar nicht mochte und inzwischen, als Erwachsener, wenn es sich einrichten lässt, vermeide, dann ist das Eintopf. Damit hatte ich, was meine Ernährungsgewohnheiten angeht, eine ansich eher ungünstige Ausgangssituation.

Würde man einem beliebigen 12-Jährigen heute erzählen, dass es vor langer Zeit ein Leben ohne Pizza, Nudeln mit Tomatensoße, Happy Meal und Fruchtzwergen gab, würde der einen wahrscheinlich spontan für verrückt erklären und bezweifeln, dass unter diesen Voraussetzungen ein Überleben überhaupt möglich war. Und in der Tat, dem ist auch so.

Von Dr. Naumann weiß ich, dass Wissenschaftler herausgefunden haben, dass Kinder von den vier gut bekannten Geschmacksrichtungen süß, sauer, bitter und salzig, und der weniger bekannten umami, bei der man mit Glutamat etwas nachhelfen kann, nur süß und salzig als angenehm empfinden - und das vor allem dann, wenn man mit einer ordentlichen Portion Fett nachhilft, das bekanntermaßen als Geschmacksverstärker dient.

Aus Band 1 meines Büchleins „Ich bleib dann mal dick“
Derzeit arbeite ich an Band 2 – natürlich mit Papyrus Autor :slight_smile:

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Es dürfte ziemlich genau dreißig Jahre her sein, als ich erst wenige Wochen in einem Familienbetrieb für Dekoartikel arbeitete. Die Herbstzeit hielt langsam Einzug, die Tage wurden kürzer und dunkler, da brachte eine Kollegin aus dem Büro zur Feier ihres Geburtstags ein paar Flaschen „Federweißer“ und einen Kuchen mit, der für meine Begriffe nach einer gewagten Kombination klang – Zwiebelkuchen!
Erst wollte ich mich vergewissern und nachfragen, ob ich mich verhört hatte. Das Thema ‚Zwiebelkuchen‘ beherrschte allerdings eine ganze Zeit lang unsere Unterhaltung an dem großen Pausentisch, wo wir sonst unsere Mittagspausen verbrachten, so dass deutlich wurde, diese Art Kuchen schien seine Existenzberechtigung zu haben. Nachdem die ersten Zungen angetan schnalzten und ich zwecks Gaumenbefeuchtung zunächst mal einen zurückhaltenden Schluck von dem mir bis dahin ebenfalls unbekannten „Federweißer“ zu mir nahm, kam es mir vor wie eine Offenbarung. Der süßliche-süffige Geschmack dieses Rebensaftes überraschte mich über alle Maßen positiv, dass ich mir mein Sektglas glatt nochmal nachfüllen ließ. Es regte sich der Verdacht, etwas Neues für mich entdeckt zu haben, etwas dass ich künftig selbst im Herbst zelebrieren könnte. Derart gestimmt nahm ich in freudiger Erwartung eine erste Kostprobe des Zwiebelkuchens. Frisch und saftig entfaltete sich der erste Eindruck … bis der Geschmackssinn in Mitleidenschaft gezogen wurde. Igitt, was war das denn?!
Wo man sich zuvor in der Umarmung süßlicher Rebenträume wähnte, trug dieser vermeintliche Gaumenschmeichler hingegen die Qualität einer schallenden Ohrfeige in sich. Doch das Beste, es befand sich noch der Rest dieser kulinarischen Scheußlichkeit auf dem Teller vor mir und appellierte an meine Manieren. Bilder aus meiner Kindheit stiegen wie Fragmente der Erinnerung zu Bewusstsein, als ich neben mir aus dem Fenster dem verregneten Feierabend entgegensah. Ich erinnerte mich daran, wie ich als kleiner Steppke meinen Teller Linsensuppe nicht aufessen mochte und angewidert mit verschränkten Armen vor meinem Tellerchen sitzend bockte. Mama wirkte ungehalten und nötigte mich, aufzuessen. Ich griff mir das Trinkglas und schüttete die Limonade spielerisch in die Suppe, womit das Thema unter dem Gepolter meiner Mutter buchstäblich vom Tisch war. Derartige Strategien wären in diesem Zusammenhang allerdings keine wirklich ratsame Option gewesen. Es brauchte einen Moment Bedenkzeit diese unterschiedlichen Eindrücke innerlich zu sortieren, und ich spülte zunächst diese geschmacklichen Reste, die mir im Rachen zu kleben schienen, mit dem letzten Zug „Federweißer“ runter. Es entfaltete sich ein süffig-schwefliger Geschmack mit süßlicher Note im Mund ab, den ich wohl nie vergessen werde. Wer hat bloß diese Kombination verbrochen?
Mein Zeitfenster neigte sich langsam dem Ende entgegen, da meine Kollegen ihren zweifelhaften Genuss bereits hinter sich hatten, während ich das angefangene Stück auf meinem Teller beharrlich ignorierte und mich mit meiner Sitznachbarin unterhielt. Schließlich kam die befürchtete Frage unserer Gönnerin: „Schmeckt dir mein Kuchen niiich‘?“
„Es liegt gewiss nicht daran, dass der Kuchen von dir ist, ich fürchte eher dieses Gebäck und ich, werden keine Freunde mehr in diesem Leben“, balancierte ich auf dem schmalen Grat zwischen freundlicher Ablehnung und desillusionierender Erfahrung. Der gierige Blick meiner wohlgenährten Sitznachbarin auf meinen Teller verriet, dass sie ihre bereits beerdigte Hoffnung, doch noch ein weiteres Stück Kuchen abzubekommen, wieder ausgebuddelt haben musste. „Wenn du ihn nicht magst, ich nehme das Stück gern.“
„Oh bitte!“, tauschte ich eilig, ohne weitere Überlegungen blitzschnell die Teller mit ihr, und die unglückliche Situation löste sich in gegenseitiger Gefälligkeit auf.
„Du weißt doch nicht, was gut ist“, bekam ich noch zu hören, danach gab sie sich ganz dem Zwiebelkuchen hin und schien die Welt um sich herum auszublenden …

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Hallo Suse, wenn der Pfarrer Sommerauer dein Stück noch lesen könnte, was würde er wohl sagen? Ich finde es interessant. Gruß.

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Ich hoffe, er hätte mich nicht als psychisch gestört in seiner Sendung präsentiert.