Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Fisch mit Soße für eine Mark

Wann ist man eigentlich richtig arm? Als Kind stellt sich diese Frage nicht so oft, zumindest wenn man ein einfaches Leben gewohnt ist. Essen war damals immer eine Frage des Geschmacks, weniger eine Sache des Geldes.

Meine Eltern lebten zu dieser Zeit in Trennung. Die Scheidung war nur eine Frage der Zeit, denn es musste das Trennungsjahr durchgehalten werden. Mein Vater, bei dem ich lebte, servierte aus Geldmangel Spaghetti mit brauner Soße. Die Nudeln machten satt und die Soße lieferte den Geschmack. Für mich war das nie ein Problem, denn ich kannte es nicht anders.

Natürlich gab es sonntags auch Brötchen. Ich erinnere mich gut daran, wie ich sie über der Flamme des Gasherds aufgebacken habe. Gasflamme an. Brötchen auf eine Gabel spießen. Dann langsam über der Flamme drehen. Es fühlte sich ein bisschen an wie Camping - etwas das wir auch nie gemacht haben.

Mein Vater trank natürlich Kaffee. Für mich erinnerte es eher an Hagebuttentee, wie er in Jugendherbergen serviert wird. Er er nahm nur einen kleinen Löffel Kaffeepulver auf eine Kanne Wasser, damit das Wasser wenigstens nach etwas schmeckt.

Den Spaghetti sind wir beim Essen immer treu geblieben. Falls keine Instant-Bratensoße im Haus war, pflegte mein Vater die Nudeln mit Maggi-Würze geschmacklich zu verfeinern. Gewöhungsbedürfig? Ja, aber es machte satt.

Wenigstens in der Schule gab es Schulmilch, oder wer es lieber mochte, Kakao. Ich entschied mich regelmäßig für die schokoladige Variante. Ich ging gern zur Schule, nicht nur wegen der leckeren Pausenverpflegung, aber das süße Getränk machte den Tag noch etwas besser. Nach Schulschluss führte mich mein Heimweg an einer Fischbraterei vorbei. Wenn ich genug Geld dabeihatte, ging ich dort hinein und bestellte einmal „Fisch mit Soße für eine Mark“. Das war gebratenes Fischfilet mit Remouladensoße. Eine Mark war in jenen Tagen die Währung in Deutschland, in Euro umgerechnet etwa 50 Cent. Man bekam dafür tatsächlich eine ganz ordentliche Portion und es schmeckte immer wieder fantastisch. Pommes gab es für den Preis nicht dazu, aber das störte mich nicht, denn abends wartete ja wieder ein Teller Nudeln auf mich, entweder mit Maggi oder brauner Soße.

Kurt Beinwell, 12.10.2022

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Wandertag

Es ist Wochenende und zum Glück wieder ein Samstag wo kein Unterricht in der Schule stattfand. Es war echt nervig, dass an meiner Schule alle zwei Wochen auch samstags unterrichtet wurde. Doch jetzt freute ich mich auf den Ausflug mit meiner Familie und unseren Freunden.
Wir machten uns alle fertig, was immer einwenig hektisch war, den mit mir zusammen sind wir 5 Kinder, mein Vater suchte ständig etwas und meine Mutter machte für Ausflüge immer die verschiedensten und besten belegte Brote.
„Seid ihr jetzt alle fertig?“, rief meine Mutter. „Ja.“, antworteten wir. Doch mein Vater suchte noch seinen Geldbeutel. „Ich kann mein Geldbeutel nicht finden.“, sagte mein Vater genervt. Meine Mutter verdrehte leicht die Augen und sprach: „Schau doch mal auf die Kommode, da liegt er schon, seit du ihn gestern Abend dahin gelegt hast.“ Wir Kinder mussten lachen und auch unsere Eltern fingen zu lachen an.
Auf einmal ertönte eine Autohupe. Meine jüngste Schwester schaute aus dem Fenster und teilte uns mit, das es unsere Freunde waren. Es war eine Familie mit 2 Erwachsenen und zwei Mädchen, die vom Alter her zu uns passten. Zumindest zu meinen Geschwistern.
Nun ging die Fahrt los. Es war gerade Herbst geworden und die Blatter fielen langsam zu Boden, trotzdem war es ein schöner und angenehmer Tag. Die Fahrt dauerte ca. 1,5 Stunden und es gab einen Parkplatz, speziell für die Leute, die einen Waldspaziergang oder eine Wanderung machen wollten. Aufgeregt stiegen wir bei Ankunft alle aus. Meine Eltern und unsere Freunde suchten für jeden Ausflug neue Wanderwege aus. Manchmal nur für einen Tag und manchmal gingen wir ohne unsere Freunde. Doch diesmal war es ein Ausflug mit Übernachtung in einer Waldhütte. Unsere Wanderung ging demnach vom Auto zur Waldhütte und am nächsten Tag von der Waldhütte zurück zum Auto. Da in der Waldhütte alles vorhanden war, brauchten wir nur unsere Rucksäcke mit Verpflegung für 2 Tage und Wechselklamotten zu packen.
Nun ging die Wanderung los. Wir Kinder liefen durch den Wald, sammelten Stöcker und beobachteten die Natur. Auf einmal sah ich kleine rote Beeren und sagte zu meiner Mutter: „Schau mal Mama, was ich gefunden habe. Das sind doch Walderdbeeren, richtig?!“ „Richtig, davon können wir ein paar Pflücken und mit zur Hütte nehmen oder unterwegs essen.“, gab meine Mutter zurück. Sie rief alle Kinder und wir begannen ein paar Walderdbeeren zu pflücken. Die waren so lecker, dass die natürlich niemals bei der Waldhütte ankamen, weil wir sie vorher schon aufgegessen hatten. Lach.
Wir liefen seit ca. 2 – 3 Stunden durch den Wald, als wir anfingen, hunger zu bekommen, und unsere Eltern baten eine Pause zu machen. Da weit und breit keine Bank oder dergleichen zu sehen war, setzten wir uns auf einen umgefallenen dicken Baumstamm. Für die Pause planten unsere Eltern immer so ungefähr eine Stunde ein, in der wir gemeinsam in Ruhe etwas aßen und tranken. Meine Mutter packte das Picknick nie in Plastikbeutel ein, sondern in Tupperdosen in verschiedenen Größen. Der Rucksack durfte dann immer mein Vater tragen. Grins.
Nach der Pause ging es weiter. Es war ein echt schöner Tag und wir alle hatten eine Menge Spaß. Nun war es auch nicht mehr weit bis zur Waldhütte. Mein Bruder rannte mit etwas in der Hand zu meinen Eltern und sagte: „Guckt hier, ich habe einen Pilz zum Grillen für später gefunden.“ Mein Bruder war noch klein und kannte sich nicht mit Pilzen aus und erschreckte sich, als mein Vater ihm den Pilz ziemlich schnell aus der Hand schlug und zu seinem Freund sagte, er bräuchte etwas Alkohol. Mein Bruder sagt da und hatte Tränen in den Augen. Mama tröstete ihn und sprach: „Der Pilz war giftig. Du sollst doch nicht einfach einen Pilz pflücken, sondern ihn erst zeigen. Mit dem Alkohol reibst du kurz deine Hände ein, um irgendwelche Reaktionen zu verhindern, und später waschen wir deine Hände.“ Mein Bruder fragte: „Was für Reaktionen, was meinst du damit?“ Meine Mutter erklärte ihm, das giftige Pilze oder auch andere giftige Gegenstände eine allergische Reaktion, wie z.B. Hautausschlag auslösen können. Nun hatte mein Bruder keine Angst mehr, rieb sich die Hände mit etwas Alkohol ein und auch mein Vater nahm ihn zum Trost in den Arm.
An der Waldhütte angekommen, schauten wir uns um und bereiteten dann das Abendessen vor. Die Männer kümmerten sich in der zwischen Zeit um das Feuer. Es gab Kartoffeln und Würstchen, die wir über dem Lagerfeuer grillten. Das war immer richtig gemütlich und sehr lecker. Wir alle hatten weiterhin Spaß und saßen sehr lange am Lagerfeuer. Irgendwann saßen dann nur noch die Erwachsenen am Feuer. Am nächsten Tag gab es ein kleines Frühstück aus Obst und Gemüse. Die beiden Mütter bereiteten das Picknick vor und dann ging es wieder in Richtung unseren Autos. Der Rückweg und auch die Rückfahrt verliefen ohne Probleme und ruhiger ab als der Hinweg, da wir alle noch müde waren. Bei der Rückfahrt schliefen wir Kinder sogar alle ein.

In den 50iger Jahren, als es noch keine guten Waschmaschinen gab, war Wäschewaschen eine anstrengende Prozedur. Besonders wenn es „große Wäsche“ gab. In unserem Mietshaus gab es eine Waschküche, die von allen Mietern genutzt wurde. Heute war Samstag und heute war „große Wäsche“. Mutti war nicht in der Wohnung, als ich von der Schule kam. Sie war in der Waschküche. Dort stand ein Waschkessel, der mit Kohle beheizt wurde und nebendran ein Spülbecken aus Stein, in dem die Wäsche gespült wurde. Das bedeutete: heute gab es zum Mittagessen eine Suppe. „Quer durch den Garten“ hieß diese Suppe mit Gemüse drin und Rindfleisch. Bei dem Gedanken an das Rindfleisch wurde mir wieder ganz übel. Nicht, dass ich kein Fleisch mochte, aber dieses Rindfleisch war so trocken und so zäh. Wenn man darauf herumkaute, wurde es immer trockener und schmeckte immer ekeliger. Ich ging in die Küche, in der um diese Zeit schon der Topf mit der Suppe auf dem Herd stand. Aber in der Küche stand kein Topf auf dem Herd. Es war auch kein Gemüseabfall im Mülleimer und in der Spüle lag auch kein Messer, mit dem das Gemüse geputzt wurde. Und von irgendeinem Fleisch fehlte auch jede Spur. Das gab mir zu denken. Gab es heute gar nichts zu essen? Ich ging in die Waschküche. Mutti war gerade dabei, die Wäsche aus dem heißen Wäschebottich, mit einem großen Holzstab in das Spülbecken zu heben. Als sie mich sah, lächelte sie: „Na, mein Junge, du bist schon da?“ Welche eine Frage. Sie sah doch, dass ich da war. „Was gibt es heute zu essen?“, fragte ich, „wieder Gemüsesuppe?“ Sie lächelte. „Nein, heute habe ich was anderes gemacht. Geh schon mal nach oben. Ich komme auch gleich.“ Ich ging in die Wohnung, brachte meinen Ranzen in mein Zimmer und ging auf den Balkon. Dort standen noch die Gläser mit Konfitüre, die sie gestern gemacht hatte, zum Abkühlen. Die Wohnungstür wurde aufgeschlossen. Mutti kam herein und stellte auf den Küchentisch zwei Teller und Löffel. „Komm, setz dich“; sagte sie, „ich hole das Essen.“ Ich setzte mich und war gespannt, was es den heute geben würde. Da kam sie auch schon mit einem Topf herein und stellte ihn auf den Tisch und als sie den Deckel abnahm, konnte ich es kaum fassen. Mein Herz machte einen Hüpfer vor Freude: Milchreis. Ich strahlte. „Danke, Mutti, ich hatte schon gedacht, es gibt heute wieder „Quer durch den Garten“. Sie lächelte und strich mir ber den Kopf. „Nein, ich dachte, ich mache mal was anderes. Ich weiß doch, dass Milchreis dein Lieblingsessen ist.“ „Und warum war er nicht auf dem Herd, als ich kam?“ „Frau Menzel von gegenüber macht das immer so, dass sie den Milchreis zum Kochen bringt und ihn dann eingewickelt für 3 Stunden ins Bett stellt. Dort kann er dann aufquellen und ist fertig, wenn man ihn braucht.“
Ich habe das damals nicht ganz kapiert, was sie meinte, aber auf jeden Fall landete eine Riesenportion Milchreis auf meinem Teller. Ich streute noch etwas Zimtzucker drauf und es duftete herrlich, zimtig und schmeckte vorzüglich. Oh, was war das für ein feines Essen! Da konnte keine Suppe, kein Braten und kein Schnitzel mithalten! „Kannst du nicht immer Milchreis kochen, wenn du große Wäsche hast?“, wollte ich von Mutti wissen. Sie lächelte. „Immer wird das nicht gehen. Du weißt, das Vati Milch nicht so gut verträgt. Heute ist er mit seinen Kollegen unterwegs, deshalb habe ich Milchreis gemacht. Aber ich kann sicher öfter auch während der Woche Milchreis machen.“
Ich strahlte sie an. „Das wäre toll, Mutti! Du bis einfach die Beste, mindest so gut wie der Milchreis.“

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Ich war sechs, sieben und auch acht Jahre alt. Und ich liebte dieses Ritual an den Samstagabenden. Meine Schwester, vier Jahre älter als ich, fand es eher grenzwertig in Ordnung. Um vier Uhr am Nachmittag wurde die alte Zinkwanne ins Wohnzimmer getragen und dann ging es zu zweit hinein in die Wanne. Mit einem alten Kessel heiß gemachtes Wasser sorgte für wohlige Wärme. War das Behelf? Aus heutiger Sicht mag man das so sehen. Damals war´s normal. Zumindest in meiner Familie. Nach dem Baden kuschelte ich mich unter eine bereitgelegte Wolldecke und durfte mit etwas Glück im Röhrenfernseher Daktari ansehen. Dr. Marsh und seine Tochter betrieben im afrikanischen Busch eine Station für kranke Tiere. Erinnert sich noch jemand an Clarence dem schielenden Löwen und Judy, die spaßige Affendame? Noch mehr liebte ich Entreprise. Mr. Spock, der niemals lachte oder weinte, weil alles was er kannte, war „Logik“. Leider durfte ich das nur anschauen, wenn mein Vater nicht im Raum war. Aber das Allerbeste an diesen Nachmittagen war, dass meine Mutter Zeit hatte. Sie war nicht nur anwesend, sie nahm sich Zeit. Jeden Samstag gab es das gleiche Essen. Kartoffelsalat. Selbstverständlich aus eigener Küche. Und dazu gab es Koteletts. Eintönig? Nein, wunderbar. Noch heute bekomme ich dieses wohlige Gefühl von Geborgenheit, wenn ich den Geruch von angebratenen, panierten Koteletts in der Pfanne wahrnehme. Gerade weil diese Gestaltung der Samstage immer gleich waren, sind sie für mich eine Insel der schönen Erinnerungen. Ich spüre die Wärme des Badewassers, die Weichheit der doch eigentlich kratzigen Wolldecke, rieche das leckere Essen und spüre vor allem die Präsenz meiner Mutter. Es ist nie zu spät für eine schöne Kindheit!

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Ich gebe Senf dazu

Alleine der Geruch reichte aus, um mich würgen zu lassen. Da hatte ich noch nichts auf dem Teller, aber ich wusste, was mein Vater kochte.

Grünkohl!

Ich habe mich immer wieder gefragt, wie man so etwas überhaupt essen konnte. Grünes Zeug, mit Kartoffeln gemischt, Mettwürstchen drin gegart und mit ausgelassenem Speck verfeinert. Verfeinert? Echt jetzt? Nicht für mich. Die Mettwürstchen waren okay, aber der Rest? Allein der Gedanke daran lässt mich würgen. Ich habe, während ich hier sitze, den Geruch in der Nase und schüttel mich.
Zumindest hatte ich meinen Papa überreden können, mir etwas von dem Gemisch auf den Teller zu tun, bevor der Speck dazukam. Das machte das Ganze ein klein wenig erträglicher.

Und dann kam das, was mir wie stundenlange Folter vorkam: Grünkohl essen.
Vor mir, auf dem Teller drei Löffel Grünkohl, als Haufen , den ich sehr sorgfältig zu einem möglichst flachen Kreis modellierte. Dann kam, was kommen musste: die Aufforderung endlich zu essen und nicht mit dem Essen zu spielen. Ein tiefes Einatmen meinerseits, der Griff zum Glas mit dem scharfen Senf und einen dicken Löffel davon neben den grünen Kreis geklatscht. Dann die Gabelzinken in den Senf tauchen und ein kleines bisschen Grünkohl dazu. Mit Todesverachtung zum Mund und rein damit. Nicht viel kauen, nur schlucken - dann geht’s. Dank der Mischung ein Drittel Grünkohl, zwei Drittel Senf gabelte ich kleine Wege durch meinen Grünkohlkreis, bis der Teller leer war. Und mindestens ein halbes Glas Senf.
Ich habe es überlebt. Wieder einmal. Bis zum nächsten Grünkohl.

Witzig an der Geschichte ist eigentlich nichts, aber mittlerweile koche ich selber Grünkohl und esse ihn gerne. Aber immer noch ohne Speck, dafür nur noch mit sehr wenig Senf.

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Ups, muss man tatsächlich mittlerweile erklären, was eine Mark war?!?

Man, ich werde wohl alt…

Samen des Grauens
Geografiestunde, 5 Minuten bis zur Schulglocke der 10 Uhr Pause. Mein Magen hatte sich vor geraumer Zeit, schreiend nach Essbarem, in sich zusammen gezogen. Der lauwarme Frühstückskakao, den ich vor einer gefühlten Ewigkeit hinunter kippte, um den Schulbus nicht zu verpassen, hatte sich schon lange wieder vertschüsst. 5.30 Uhr morgens Tagwache, eine unchristlichere Uhrzeit für pubertierende Schüler gab es nicht. Da verweigerte sogar mein Magen jede feste Nahrungsaufnahme. Darum saß ich in Lauerstellung, um mit dem Glockenschlag in die Schultasche zu fassen und das Objekt meiner Begierde in den Händen zu halten. Mein Pausenbrot. Leider hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht, in meinem Fall ohne unseren Geografielehrer. Ein alt eingesessener Professor, der darauf beharrte, seine Unterrichtsstunden nach Belieben zu beenden, anstatt sich die Arbeit von der Pausenglocke abnehmen zu lassen. Wie jedes Mal, in den letzten Minuten seiner kostbaren Zeit, versuchte er uns, eine geballte Ladung seines Wissens einzutrichtern. Das Stoffvolumen für den nächsten Test sollte nicht zu gering ausfallen. Aus weiter Ferne hörte ich seine Ausführungen über den Atomreaktorunfall in Tschernobyl. Meine Gedanken waren bereits in meinem Schulranzen. Was hat mir Mama heute eingepackt. Hoffentlich nicht die Überreste vom Vortag. Geschmacklich war das eher ein Reinfall. Nicht ohne Grund sind die Sachen wieder in den Rucksack zurückgewandert. Mutter erklärte sich das so, der Bub kann halt nicht so viel essen. Was ich zwar ständig zu berichtigen versuchte, leider vom Empfänger nicht wahrgenommen wurde und daher sich zum Leidwesen meiner Ernährung nicht änderte. Mit dem Zuklappen des Klassenbuches und dem Ausspruch „Mahlzeit“ hatte mir Professor Steiner den Startschuss gegeben. Schwupp war meine Hand im ersten Fach der Schultasche, wo meine Mutter das Pausenbrot verstaute. Ich öffnete die Plastikbox und jeder im Umkreis von 5 Metern bemerkte sicher, wie meine Gesichtsfarbe zu einer gräulichen Weiße mutierte. Was faselte unser Geo Steini von Tschernobyl und Super-GAU. Der Inhalt der Box, DAS ist der Super-GAU. Der blanke Horror zeigte sich darin. Eigentlich wären die Überreste von gestern gar nicht so übel. Zumindest ist mir die Wortbedeutung von Super-GAU jetzt klarer. Sofort merkte ich, wie der Geruch des Brotes mein Gaumenzäpfchen in Wallung brachte, und versuchte, einen Brechreiz auszulösen. Ich aktivierte augenblicklich meinen Schluckmodus, um mich gegen das Übergeben zu wehren. Durch das Zuklappen der Box und mehrmaligem tiefen Luft holen, verhinderte ich das grausige Ende. Meine Mutter hatte am Vortag ihr heißgeliebtes Schwarzbrot mit Fenchelsamen gekauft. Ihres Erachtens ist es daher das Lieblingsbrot aller in der Familie. Der Umstand, dass meine Geschmacksknospen und der Geruch dieses Gewürzes keine Freunde waren, war für sie nicht von Bedeutung. Wären die Samen nur auf die Kruste gestreut, hätte es gereicht, diese wegzuschneiden. Aber nein, das ganze Brot war, mit diesen stinkenden Körnern überseht, das es unmöglich machte, alle einzeln herauszupicken. Mein Körper und mein Geist bauten eine undurchdringbare Mauer gegen dieses Gewürz auf. Ich war ja nicht einmal im Stande, dass ich das Stück hinunterwürgte, weil der Hunger mich plagte. Nicht einmal die Tatsache, dass mein Lieblingsbelag, Leberstreichwurst, sich zwischen den Scheiben versteckte, konnte über den Geruch hinwegtäuschen. Wurst hätte ich subtrahiert und gegessen, aber so. Angstschweiß stand mir im Gesicht und der Magen bis zum Hals.
Voller Anspannung schweifte mein Blick im Klassenzimmer umher und beobachtete die genüsslich essenden Mitstreiter. Ich brauche einen Plan B. Man sieht doch ständig in den Jugendsendungen, dass die Kinder ihre Pausenbrote tauschen, wenn sie mit den Entscheidungen ihrer Mütter nicht zufrieden sind. Nur wo gibt es ein Opfer? Nirgends. Was ich aus ganzem Herzen verstehe, weil ich es auch nicht machen würde. Die einzige Person, die keine Einsicht zeigte, war meine Mutter. Und das bis heute. Ein Hoch auf die Schulkantine.

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Genau!
Die heißen Eierkuchen, zumindest in Sachsen. Leider lebe ich in der Diaspora. Hier werden sie Pfannkuchen genannt. Und um das noch zu verschlimmern, nennt man hier die Pfannkuchen Berliner. Grausig.

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Die Ode an den Brathering

Oh Brathering,
der du bist in unseren Supermarktregalen,
kamst aus dem Meer,
ungebraten und Kopf vorhanden.

Man filetierte dich,
riss dir die Kleider vom Leib
und das Herz aus der Brust.
Ja, ein gar trauriges Schicksal.

Oh Brathering,
der du bist in unseren Supermarktregalen.
Ich kann es nicht leugnen,
du schmeckst auch mir.

Eingebettet in Salz,
an einer Bratensauce.
Gesellst du dich zu Brot und Wein.
Ja, du Hering, du bist ein armes… (Hier Wort deiner Wahl einfügen, danke!

Oh Brathering,
der du bist in unseren Supermarktregalen.
Lang solltest du leben,
wärst du nur nicht so naiv gewesen…

Wie jeden Tag sind wir bei meiner Oma zu Besuch. Meine Schwester ist zwei und ich bin fünf Jahre alt. Ungeduldig warten wir auf die Heimkehr meiner Uroma, die ebenfalls im Haus von Mamas Eltern wohnt. Es ist jeden Tag das gleiche Ritual. Wir laufen bei Wind und Wetter etwa eine halbe Stunde, um Mamas Eltern zu besuchen…Am Abend holt uns Papa ab und fährt uns wieder nach Hause. Für Jutta und mich ist es ein Abenteuer, das sich täglich wiederholt. Im Hause meiner Großeltern spielen wir im Garten, gehen mit Oma und Mama an den Rhein spazieren, füttern die Schwäne und schauen nach den Schiffen. Dann warten wir auf die Rückkehr der einzelnen Familienmitglieder. Opa und Papa sind zur Arbeit. Meine Uroma ist auf ihrem Kirschenstück, wie Mama uns erzählt. Hin und wieder gehen wir alle dorthin. Im Sommer, wenn die Kirschen reif sind, helfen wir bei der Ernte. Das heißt Jutta und ich schlagen uns den Baum mit dem herrlichen Obst voll, während die Erwachsenen die Kirschen pflücken und in große Körbe sammeln. Es gibt noch jede Menge anderes Obst und Gemüse auf Uromas Kirschenstück, so dass sie jeden Tag dort ist. Wenn sie mit ihrem schwer beladenen Leiterwagen nach Hause kommt, stehen wir Kinder schon ungeduldig am Tor und warten auf sie. Nicht wegen ihrer Ernte. Nein! Wichtiger als alles andere ist das Brot, das sie uns mitbringt. Ein ganz besonderes Brot, wie sie uns erzählt. Es ist das Brot über dem die Vögel gesungen haben. Aufgeregt folgen wir der Uroma in die Küche. Ungeduldig warten wir, bis sie sich gewaschen hat. In der Zwischenzeit hat Oma ihrer Mutter eine Tasse Kaffee gekocht. Die Uroma lässt sich schwerrfällig auf ihren Stuhl fallen. Dann holt sie das in Pergamentpapier eingewickelte Brot hervor. Ihre Brotzeit, die sie sich jeden Tag mit aufs Feld nimmt, um zu vespern. Jeden Tag nimmt sie zwei Scheiben Brot mehr mit. Für uns! Sie erzählt uns, die Vögel würden jeden Tag ihr Lied über ihrer Brotzeit singen. Aus diesem Grund schmeckte dieses Brot, wie von den Engeln gebacken. Meine Mutter stellt uns zwei Teller hin. Uroma schneidet für uns das Brot in kleine, mundgerechte Stücke. Jeden Tag ist es mit etwas anderem belegt. Wurst, Käse, Butter. Uns ist egal, welcher Belag auf den Scheiben ist. Wichtig ist einzig und allein: Diese beiden Stullen wurden von den Vöglein besungen. Es ist lecker. Jutta und ich essen jedes einzelne Stück mit Ehrfurcht. Wir kauen langsam, genießen den rustikalen Geschmack des Brotes. Das weiche Innere und die krosse Rinde. Die deftige Wurst füllt unseren Gaumen. Wir spüren es mit all unseren Sinnen. Ja, dieses Brot ist etwas Besonderes. Es schmeckt himmlisch. Denn die Vögel haben es mit ihrem Gesang gesegnet. Während Uroma ihren Kaffee genießt und uns mit schelmischen Lächeln beobachtet, essen meine Schwester und ich mit Andacht. Zelebrieren jeden Bissen. Sobald wir den letzten Krümel mit den Fingern aufgestippt haben, erkundigen wir uns bei unserer Uroma, ob sie morgen wieder zum Kirschstück geht und uns dieses wunderbare Brot mitbringen wird. Als sie uns das bestätigt, fallen wir ihr freundestrahlend um den Hals. Schon jetzt können wir kaum den nächsten Tag abwarten, wenn wir wieder unsere Großeltern besuchen und am Nachmittag die Uroma mit dem besten Brot aller Zeiten nach Hause kommt.
Dies ereignete sich Mitte der Sechziger Jahre. Ich denke heute noch mit viel Liebe an meine Uroma und ihr himmlisch schmeckendes Brot. Ich sehe sie vor mir. Klein, mit grauem Dutt, einer Kittelschürze, leicht gebeugt von ihrer schweren Arbeit auf dem Feld. Aber mit diesem schelmischen Ausdruck in den Augen, wenn sie uns von den Vögeln erzählte, die ihr Vesperbrot besingen.

Suppe
„Wer Fleisch essen will, sollte töten können. Ich kann töten. Ich esse Fleisch“, lese ich vor und mein Gegenüber lässt den Löffel in die heiße Suppe eintauchen.
„Das ist lustig. Wer hat das geschrieben?“
„Luka.“
„Wann? Im Kindergarten?“
„Er hat für sein Alter eine schlimme Handschrift.“
Die Suppe im Löffel schwappt zwischen Existenz und Verdauung.
„Wie kommt er darauf?“
„Wer weiß das schon? Der Brief ist von seiner Betreuerin. Sie will, dass wir was unternehmen.“
„Warum? Der Satz ist für seine Verhältnisse doch eher fade.“ Der Löffel bewegt sich, führt den Inhalt seiner Bestimmung zu, schlürfen, und wird erneut mit Suppe gefüllt.
„Das hat er von dir“, sage ich.
„Den Humor?“
„Den Drang wahrgenommen zu werden.“
„Wir nehmen ihn doch wahr.“ Der Löffel schwebt und dampft in der Kälte und deutet auf mich.
„Das ist ja das Problem.“
„Luka ist also dein Problem.“
„Wenn du es so formulierst … wie alt ist er jetzt?“
Ich muss nachdenken. „Fünf. Du solltest das wissen.“
„Na, wenn du meinst.“ Die Suppe rinnt aus der Vertiefung des Löffels zwischen die Lippen. „Du hättest ihn nach der Geburt an deiner Brust ersticken sollen, bevor der Unfall mit der Krankenschwester geschah.“
Da bin ich nicht sicher. „Meinst du?.“
„Oder bevor das Gesicht dieses Mädchens, wie war noch ihr Name, egal, so blau anlief, wie eine frisch zerdrückte Blaubeere.“
„Er konnte nichts dafür. Sie ist in einer Pfütze seiner Milch ausgerutscht und mit dem Kopf aufgeschlagen. Also die Krankenschwester, nicht das dicke Blaubeermädchen, die ist an seinem Brei erstickt. Er wollte nicht essen, sie kannte nicht die Bedeutung von satt.“
„Siehst du? Er war schuld.“ Mehr Suppe im Löffel.
Mehr Lächeln in meinem Gesicht. Mehr Kälte. „Wie du meinst.“
„Was willst du nun tun? Ihn endlich umbringen?“
Vielleicht sogar das. Die Tasse ist leer. „Möchtest du mehr von der Suppe? Ich lasse dir etwas bringen.“
Mein Gegenüber lehnt sich zurück. Der Löffel liegt nutzlos auf dem weißen Tischtuch.
„Nicht nötig, das Thema macht mir weniger Appetit als erhofft. Du glaubst noch immer, es sei Zufall, nicht wahr? Ich meine, dass er die Menschen in seiner Nähe sterben lässt?“
Ich seufze. „Natürlich nicht.“ Es ist kein Zufall. „Er hat nun mal diese einzigartige Wirkung auf seine Umgebung. Ich wünschte, du könntest ihn in einigen Jahren sehen. Groß und stark und so erwachsen.“ Natürlich braucht er in seinem jugendlichen Alter noch etwas Hilfe.
Zwei Finger schieben die entleerte Suppentasse eine kurze Strecke über das blasse weiße Tischtuch zu mir herüber. „Kann ich das denn nicht?“
Ich lache, aber nur wenig. „Du bist lustig. Wie war deine Suppe?“ Dann warte ich ab.
Wer Fleisch essen will, sollte töten können. Ich kann töten. Ich esse Fleisch.

ENDE

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Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

»Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert«, heißt ein bekanntes deutsches Sprichwort.
Aber wen konnte schon solch eine alte Lebensweisheit im Zeitalter unserer industriellen »Überflussgesellschaft« beeindrucken, wo doch für die meisten von uns Deutschen genügend Euroscheine auf dem Bankkonto lagerten und die Nahrungsmittel mehr als notwendig zu konkurrierenden Niedrigpreisen in den Supermärkten lockten.
Ein Brötchen mit Soße für sechzig Pfennig?
»So wenig?«, wird vielleicht eine unbedachte junge Stimme in die Familienrunde geworfen haben, bevor sie sich wieder auf ihr Handy konzentrierte.
»So viel!«, wird daraufhin eine besonnenere greise Stimme dagegengehalten haben und in ein düsteres Sinnen entschwunden sein.
Erst die Heerscharen von Emigranten, die aus Hunger oder vor Krieg und Gewalt von überall auf unserem Planeten flüchten und als Immigranten an die Tore unserer Opulenz-Schlösser pochen, scheuchen uns aus unserem »Smarties-Dasein« auf.
Nachdem letale Viren den Menschen beweisen wollten, sie würden immer noch zu den bedrohlichsten Beherrschern dieser Erde gehören, sind wir Menschen dabei, zu belegen, dass wir die besseren Viren auf diesem Globus sind.
Unser ganzer kulturell-technologisch-digitaler Zivilisationsstolz droht unter der Last humaner Beschränktheit elendiglich zu zerbrechen.
Ungewohnte Armut überfällt plötzlich viele Wohlstandsbürger, die sich jäh einer unvertrauten Mittellosigkeit nähern, während übermäßiger Reichtum und maßlose Macht einige Wenige zu globalen Halb- oder Schicksalsgöttern erwachsen lassen.
Finanzielles und soziales Teilen ist plötzlich für uns alle angesagt, Kriegssirenen werden wieder instandgesetzt und Erdressourcen neu überdacht. Der Energie- und Gasmangel vieler Industriestaaten zwingt uns Bürger, unser Dasein unter einem völlig veränderten Licht zu betrachten.
Und siehe da, jeder Cent beginnt erneut zu glänzen, wie einst der Pfennig vergangener Zeiten.
Und für viele Mitbürger und Mitbürgerinnen, deren nahrhafte und finanzielle Bestände kaum noch zum Überleben genügen, könnte ein Brötchen mit Soße, diesmal für sechzig Cent, erneut lebenserhaltend sein.

                                                             -*-*-*-
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Große Liebe für diesen Satz. Überhaupt, diese ganze Küche! Halb erfüllt mich deine Schilderung mit Wohlgefühl, halb mit dem Bedürfnis, aufzuräumen und die Arbeitsfläche abzuwischen.

Heidelbeeren und Gewitter

Die mir nach gesagte Naturverbundenheit entspringt sicherlich dem Ereignis, das meine Welt überhaupt entstehen ließ. Meine zukünftigen Eltern wurden beim Blaubeerensuchen von einem Gewitter überrascht Sie fanden gerade noch Zuflucht in einer einsamen Scheune und harrten der Dinge, die da kommen. Diese kamen auch, und sie verließen die Scheune erst, als das Grollen des Donners längst vorbei war. Vermutung: Ich war also mit meinem Vater in die Hütte hinein gegangen und mit meiner Mutter wieder heraus gekommen. Er hat mir diese Story irgendwann erzählt. Es war eben die schlechte Zeit, zwei Jahre nach Kriegsende das Hungerjahr und man war auf jede Gabe der Natur angewiesen, besonders wenn sie gratis war. Blaubeeren brachten die Beiden an diesem Tag im Juli nur wenige nach Hause und schoben alles auf das Gewitter, später auch mich. Nun ja, die schlechte Zeit wurde für mich zur guten Zeit und ich muss manchmal grinsen, wenn ich zum Frühstück Blaubeerkonfitüre auf mein Brötchen streiche. Eine seltsame Erinnerung, aber die Blaubeeren machten sie erst möglich.Als Kind habe ich das Blaubeersammeln immer gehasst, denn kurz bevor die verbeulte Milchkanne, die als Sammelgefäß diente, voll war, kippte sie um und ich schaffte es nie, alle wieder aus Gras und Moos auf zu klauben. Es gab von Oma dann immer ein Donnerwetter. Na wenn schon denn schon, denn nichts Schön`res gabs für Oma Witt als blaues Heidelbeerconfitt, Mein geschmackliches Urerlebnis fand sicher in den ersten Stunden nach meiner Geburt statt, nicht erinnerbar, aber wahrscheinlich prägend. Ich erwähne es später noch einmal, es war die Süße der Muttermilch, genossen im dunkelsten Ruhrpott, da wo Bottrop ist. Meine Mutter wollte ihren Mann besuchen, dert dort im Bergwerk arbeitete und wahrscheinlich den ersten Förderverein gegründet hat. Es gab damals keinen Gynäkologen, der abgeraten hätte, eine Reise vom Lipperland inne Bottroper Ostring zu wagen, woll?! Und so kam es, wie Oma vorhersagte. Um zwei Uhr fünfzehn erschien ich. Kilomäßig stattlich. Mein Vater soll gesagt, dass bei dem Specknacken zwei Zentner als Endgewicht wahrscheinlich wären. Er unterschätzte mich. Undeutliche Erinnerungsfragmente gibt es an das erste bewußte Wahrnehmen von Essen und Genießen. Dieses fand auf einem Fuhrwerk statt, vermutlich Pferd gezogen. Aus einem orangefarbigen Brotkasten aus Blech wurde ein Stück frisches Brot nach hinten gereicht. Mein erstes Brot-Casting. Wir zogen um, von Welstorf nach Hörstmar. Ich schlief nach dem Genuß zufrieden ein und wurde erst wieder auf einem großen Bauernhof wach. Papa hatte dort eine Stellung als sog. Schweizer gefunden, also jemand der Kühe melkt, ein Melker halt. Wir hatten eine erbärmliche Unterkunft, ohne Licht und mit Klo quer über den Hof, bestimmt gefühlte dreihundert Meter weg, wahrscheinlich waren es zwanzig weniger. Das Leben war spannend. Es gab immer irgend etwas zu futtern und wir Kinder waren nicht zimperlich. Hauptgericht zwischendurch waren fette Herzkirschen von Opa Brenigs Baum und die gedämpften Kartoffeln, die auf den Hof als Schweinefuttersillage eingefahren wurden. Roher Weißkohl und rohe Eier waren das Steinzeitessen, das alle gedeihen ließ und jedes Medikament überflüsig machte. Wir amüsierten uns darüber, wer den längsten hatte, Furz, versteht sich, denn, nachdem wir sogar gebeizten Futterweizen gegessen hatten, wurde Karlsbader Salz gereicht und der Weizen war schnell wieder da. Aber da alles in der freien Natur stattfand war es ziemlich egal. Ach ja! Der alte Brotkasten steht heute in meinem Kellerregal und enthält Dokumente meiner Eltern, elende Arbeitsbücher, zerknitterte, armselige Rentenbescheide und vergilbte Fotos Aber wenn ich ihn öffne duftet mir frisches Brot entgegen. Und das kann nur ich erschnuppern.

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Ja, ich weiß, dass diese Sentenz eigentlich anders herum gehört. Aber: Die Schule war damals Nebensache. So ein Dorfleben hat bessere Attraktionen, als Schrift und Zahl. Hausaufgaben? Immer erst am Abend nach den Abenteuern. Oft kam ich mittags gar nicht nach Hause, immer ab durch die Mitte. Es setzte dann fast immer eine Tracht, meistens Prügel. Egal, der Tag war sinnvoll verbracht und Oma traf mit dem Teppichklopfer nie so richtig. Kopfschütteln und Dresche gab es auch, wenn die etwas ältere M. aus der selben Klasse die Doktorspiele brühwarm verpfiffen hatte. Aber was hieß schon selbe Klasse? Es gab ja nur Eine, mit Bohnerwachsboden und Kreidestaub und einem Lehrer, der auch im Sitzen immer in seiner Hosentasche rumfummelte. Die älteren Schüler sagten Hodentasche und ich verstand nicht was die meinten, denn ich hatte noch nichts wirklich fühlbares in dieser Gegend. Der Lehrer verschwand irgendwann, die Älteren meinten, dass er nicht nur in seiner eigenen Tasche gewerkelt hatte. Hä??? Naja, auch die alte Petze M. merkte, dass ich in diesem Körperbereich noch nicht zu den Wissenden gehörte. Ich wollte auch nicht mehr mitspielen, und M. wandte sich Erich zu, der nun zu Hause die Prügel bezog, denn M. litt an sexuellem Mitteilungswahn, wie ich heute annehme. Damals nahm ich allerdings überhaupt nichts an, außer ein paar lumpige Groschen, die ich durch Rüben verziehen verdiente. Ich hoffe die Rüben haben mir längst verziehen.
Meine Eltern hatte im Eifeldorf Trimport einen Bauernhof gepachtet. Ich war damals 12 Jahre alt. Wir hielten etwa 800 Hennen, drei Säue und 39 Kaninchen, die sich in den freien Schweineboxen relativ ungehemmt vermehrten. Daher auch diese gewaltige Zahl. Es gab ständig geschmortes Kaninchen und ich musste die Viecher immer abziehen, also vom Fell befreien. Die Felle wurden im Misthaufen vergraben, aber der oder die Füchse buddelten sie wieder aus und ich fand die zerfetzten Pelze dann irgendwo auf der riesigen Wiese. Ehrlich, es gab von Sonntag bis Mittwoch Kaninchenteile zu Mittag und ich mochte damals einfach kein Karnickelfleisch mehr essen und war froh, wenn Großmutter ihren berühmten Eintopf servierte. Wirklich unvergessen ist Omas Genialität bei diesen Eintopfgerichten. Ich erinnere mich an die Einbrenne oder Mehlschwitze, die dem Querdurchdengarteneintopf den geschmacklichen Pfiff gab. Geschmacklich noch durch Hühnerfleisch, denn Hühner und vor allem Hähne gab es auf einer Hühnerfarm natürlich reichlich. Natürlich hatten wir auch einige Hofkatzen, die sich um die abgeschlagenen Hühnerköpfe stritten. Ich brauchte nur mit dem Beil auf den Hauklotz hauen und schon kamen alle Miezen angerannt. Pawlow oder? Auch Geburtshilfe bei den Schweinen war für mich selbstverständlich, daher studierte ich später zunächst Landwirtschaft, aber bei diesem Studium ging es nicht um Stall ausmisten, sondern um Chemie, Kationen und Anionen. Also die letzten Jahre der Volksschule verbrachte ich in dieser kleinen Ansiedlung zwischen Trier und Bitburg gelegen, näher an Bewerisch, wie es im eifeler Platt hieß. Ich dachte als späterer Lateinschüler immer, dass der Dorfname sich wahrscheinlich auf die Anzahl der Ortseingänge zurückführen ließe also drei Tore, „tres portas“, aber erfuhr später, dass Cäsar vermutlich dort einen Teil seines „Gallischen Krieges“ geschrieben haben muss, wenn er meinte, das Gallien im Ganzen in drei Teile geteilt wäre, also partes tres, das dann irgend wie über Trimparden zu Trimport wurde. Es existiert über die Namensgeschichte ein schöner Bericht in der Chronik des Dorfes. Das übliche Essen ist schnell beschrieben. Grundsätzlich deftig.Vorspeise: Geräucherter Speck, heftig gesalzen, Hauptgang: Fleeschwoosch mit Krummpann und selbstgebackenen Brot und als Dessert: Bier aus der bekannten Brauerei, in der ich später in den großen Ferien als Schüler arbeitete und jeden Tag vier Flaschen Haustrunk nach Hause schleppte, die ich aber nie ganz schaffte. Fast jeder Bauer brannte seinen eigenen Schnaps, meistens auf Zwetschgenmaische. In der Brennerei vom Nachbarn duftete es sehr aromatisch und allein der Dunst erzeugte alkoholisch bedingte Körperschwankungen. Und der Brenner meinte, dass ich ruhig kosten solle, eins würde soviel kosten wie fünf Pinnchen. Aber im Alter von 16 Jahren traute ich mich nicht. Ja, wirklich… Heute ist aus dem Geist, der damals als Mittel bei der Eberkastration desinfizierend verschüttet wurde, längst edlen Bränden aus Eifelobst gewichen, der Apfelviez ist kultiviert. Trampatt hat viele freundliche Erinnerung hinterlassen, eine ist durch den ersten Kuss geprägt, der im halbdunklen Keller zu einem leichten Schwindelanfall führte. Ehrlich B., nicht geschwindelt.

Stuten von Emma

Emma war in meiner Heimatstadt eine Institution, obwohl sie gar nicht Emma hieß. Vielleicht Gerlinde? Hannelore? Ingeborg? Ein alter Name wird es gewesen sein, denn Emma war eine betagte Dame. Eine mit freundlichen Lachfältchen und weißem Haar. Heute – dreißig Jahre nach meiner Schulzeit – erinnere ich mich an den Namen gewiss nicht mehr und ich bin nicht sicher, ihn jemals gekannt zu haben. Emma war einfach Emma.
Natürlich stand dieser Name nicht auf dem Firmenschild, sondern in geschwungenen Lettern »Bäckerei und Konditorei« und ein Familienname. Doch die Leute gingen immer nur zu »Emma«.
Vor allem freitags taten sie das, weil es dann frischgebackenen Rosinenstuten gab. Ofenwarm war er pünktlich zur zweiten großen Pause unseres benachbarten Gymnasiums fertig.
Der liebliche Duft zog vorher schon aus der kleinen Backstube neben dem Eckhaus, wehte über die Straße und fand einen Weg durch die geöffneten Fenster in unsere Klassenräume, strich durch die Gänge und Flure und ließ mich den Pausengong herbeisehnen.
Wenn es dann endlich so weit war, klimperte das abgezählte Geld in den Taschen meiner Jeans. Achtzig Pfennig kostete der halbe Stuten.

Natürlich war es streng verboten, das Schulgelände zu verlassen, aber ebenso selbstverständlich war die Versuchung zu groß, um den Weg nicht trotzdem zu riskieren.
Wir Mädchen hatten einen Vorteil – und wussten, ihn zu nutzen: Unsere Toiletten gingen zur Straße hinaus. Wenig anheimelnd am Ende eines Kellergangs gelegen, waren sie so selten wie möglich Ziel eines Besuchs, doch jeden Freitag in der zweiten großen Pause machten sich Scharen von Mädchen einem Pilgerstrom gleich auf den Weg treppab.
Was in den Sportstunden stets missriet, gelang hier unten selbst mir mit vielfach geübter Routine: ein Unterschwung. Am Reck eine allwöchentliche Herausforderung. An der oberen Querstange der Toilettenkabinentür ein Klacks. Mit einer eleganten Bewegung bog ich mich nach oben, drückte leicht nach und kauerte kurz darauf auf der in Kopfhöhe angebrachten Fensterbank.
Rasch durchs Fenster geschlüpft, wie ein Jäger durch das Gebüsch gepirscht und schon lag die Straße vor mir. Wieselflink hinübergehuscht und direkt hinein in den Laden. Und oft genug in die Arme eines Lehrers. Die wussten schließlich auch, wann es den Stuten zu kaufen gab.
Mit etwas Glück sahen sie betont in eine andere Richtung. Wenn man jedoch Pech hatte, gab’s Ärger. Und was noch schlimmer war – keinen Stuten.
Doch sofern alles glatt lief, erklomm ich den Gipfel der Glückseligkeit. Acht Groschen wanderten über den Tresen und Emma höchstpersönlich, das weiße Haar zu einem Knoten zusammengefasst und ein freundliches Lächeln auf dem von Falten durchzogenen Gesicht, reichte die Papiertüte herüber.

Schier unwiderstehlich war der Duft, der dieser Tüte entströmte. Noch im Laden griff meine Hand fast automatisch hinein und brach das erste, weiche Stück aus dem warmen Laib, das süßlich auf der Zunge zerfiel.
Die freitägliche fünfte Stunde war geprägt von sanften Raschelgeräuschen unter den Tischen. Aus jeder Ecke schwebte der Geruch nach Frischgebackenem und Rosinen durch den Raum. Wer keinen Stuten ergattert hatte, wurde von den anderen mitversorgt. Auf die Lehrer müssen wir wie eine Herde wiederkäuender Kühe gewirkt haben.
In der sechsten Stunde litten wir regelmäßig unter Magenverstimmung und Bauchweh.
Aber am nächsten Freitag gab es ihn wieder – den Stuten von Emma.

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Es geht um diese rautenförmigen Salmiaklakritze, oder?

Wunderschön beschrieben, wie die Art, etwas zu sich zu nehmen, ein vermeintlich alltägliches Essen zu etwas ganz Besonderem machen kann.

Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Eiskalter Wind blies durch die menschenleeren Straßen der Stadt. Er wehte den schlechten Geruch von vollen Mülltonnen und sonstigen Gestank weg. Der Regen setzte ein. Schnell prasselten die Tropfen auf den Asphalt und die Lichter der Laternen spiegelten sich in der Nässe auf den Straßen. Kein Abend, an dem man alleine und hungrig, durch die Straßen der Stadt ziehen wollte. Doch ich hatte ich eine Wahl?

Nein. Ich hatte alles verloren, erst meine Arbeit, dann meine Frau und die Kinder. Jetzt stand ich da, kein Dach über dem Kopf, kein Geld in den Taschen.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wie es dazu kam, dann frage ich mich, welcher Teufel mich geritten hat.

Es war an einem Samstag, meine Frau und die Kinder, wir wollten in den Zoo. Ein wunderschöner Herbsttag. Die Sonne meinte es noch einmal gut mit uns, bevor der trübe, kalte Winter herannahte.

Früh schon machten wir uns auf den Weg. Zahlten den Eintritt an der Kasse und schauten uns die Pflanzen und Tiere an. Mein älterer Sohn wollte rüber auf den Spielplatz, der sich neben einem Kiosk im Tierpark befand.

Wir setzten uns auf eine Bank neben Verkaufsstand und packten unseren Proviant aus, den wir uns mitgenommen hatten. Von hier aus hatten wir einen guten Blick auf den Spielplatz. Vor dem Kiosk hatte sich eine Warteschlange gebildet und die Leute kauften Getränke, Eis, Brötchen und andere Sachen.

Ich genoss den Tag. Biss dabei in mein Brötchen, welches mit Leberkäse belegt war. Auf diesem befand sich eine rote Soße.

„Himmel und Hölle,“ prustete ich und spuckte den Bissen aus. Mir brannte der ganze Mund. Nein er brannte nicht, er verbrannte, zumindest hatte ich das Gefühl. Mir nahm es die Luft. Tränen rannen über meine Wangen. Meine Nase lief, als wollte sie unbedingt einen Marathon gewinnen. Ich war zu diesem Zeitpunkt völlig überfordert mit den Reaktionen meines Körpers. Hustend, schnupfend und prustend rannte ich zu dem Kiosk und beachtete dabei die Ansammlung von Menschen überhaupt nicht. Ich schubste sie einfach aus dem Weg und bahnte mir so den ersten Platz an der Theke und schrie wie von Sinnen: „Wasser, Wasser, schnell!“

Die junge Frau hinter der Theke schaute mich verwundert an.

„Hier geht es schön der Reihe nach! Stellen sie sich wie alle anderen hinten an!“

„Ich krieg keine Luft mehr, ich brauche Wasser, bitte,“ flehte ich sie an.

Doch sie ignorierte mich.

Wütend schrie ich: „Wasser, ich ersticke!“

„Glaub ich nicht,“ sagte sie und bediente die Kundin, die hinter mir stand.

Wütend schlug ich mit der Faust auf den Tresen, doch auch dieses imponierte dieser kleinen Frau nicht. Sie bediente die anderen Kunden seelenruhig weiter, ohne mir Beachtung zu schenken.

In mir stieg eine unbezähmbare Wut auf. Mit der linken Hand griff ich über die Theke und erwischte die Bluse der Verkäuferin. Ich riss an ihr. Die Knöpfe ihres Oberteils sprangen ab und es zerriss. Ich hielt es in meinen Händen und sie starrte mich mit ihrem Sport-BH bekleidet, erschreckt an. Das hatte ich nicht beabsichtigt. Aber mein wütendes Inneres verlangte nach Beachtung. Ich spürte nicht mehr das Brennen in meinem Mund. Die Wut hatte alle Schmerzen einfach ausgeschaltet. Wütend versuchte ich, ihrer habhaft zu werden. Doch die anderen Kunden, zuerst wie gelähmt, begriffen nun, dass in ihren Augen, die junge Frau, in Gefahr schwebte. Als Erstes reagierte ein junger Mann. Er packte mich von hinten, ohne jegliche Vorwarnung. Bestimmt trainierte er jeden Tag stundenlang im Fitnesscenter, denn er hatte Kräfte wie ein Bär. Seine Arme umfassten meinen Oberkörper. Ich schlug mit dem Kopf nach hinten und zertrümmerte ihm dabei sein Nasenbein. Blut spritze auf mein Hemd und vor Schmerzen ließ er mich los. Schnell drehte ich mich um, denn ich erwartete einen weiteren Angriff, doch die Leute standen da und filmten alles mit ihren Handys.

Der junge Mann schüttelte den Kopf, ging in die Position wie ein Preisboxer und tänzelte vor mir. Dann schlug er zu. Ein Krachen bestätigte einen Treffer auf meine Nase. Der Schmerz, schien in diesem Moment unerträglich. Was sollte das hier, ich wollte doch nur Wasser haben, keinen Boxkampf, bei dem ich nur verlieren konnte.

Beschwichtigend hob ich beide Hände, doch in diesem Moment krachte der zweite Schlag in mein Gesicht. Mir wurde schwarz vor Augen und ich taumelte.

Stunden später durfte ich das Polizeipräsidium verlassen. Die junge Frau und mein Kontrahent hatten Strafanzeige erstattet.

Als ich nachhause kam, standen die gepackten Koffer mit meiner Kleidung im Flur.

Meine Frau teilte mir mit knappen Worten mit, dass sie die Scheidung einreicht. Für einen Mann, der in der Öffentlichkeit sich so verhält, hat sie kein Verständnis.

Zwei Tage später erhielt ich von meinem Arbeitgeber die Kündigung. Er hatte im Internet die hochgeladenen Videos von dem Vorfall gesehen.

Es wäre nicht mit dem Leitbild einer sozialen Einrichtung in Einklang zu bringen, wie ich mich in der Öffentlichkeit verhalten habe, war die Begründung.

So verlor ich in einer Woche alles, was ich mir aufgebaut hatte.

Bei der Gerichtsverhandlung fragte mein mir gestellter Anwalt meine Frau, ob sie eine Ahnung hat, warum ich so reagiert habe.

Sie antworte: „Die Verkäuferin hatte mir nicht gesagt, dass diese Soße extrem scharf ist. Es war ein Sonderangebot. Brötchen mit Soße für 60 Pfennig.“

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DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER
oder
Die Erkenntnis, dass tote Schafböcke genauso eklig riechen, wie wenn sie auf der Wiese stehen.

Riechen alle toten männlichen Tiere so eklig, egal ob auf dem Teller oder frei herumlaufend?! Diese
Frage beschäftigte mich damals ernsthaft jedes Mal, wenn ich die Schafbockstücke in weisser Sauce
auf dem Teller hatte.
Die Geschichte könnte auch «Das Schweigen meiner Eltern» heissen. Ich habe mich für die Lämmer
entschieden. Ich mag Tiere eh lieber als Menschen.
Da war dieser Geruch, dieser Würgereiz und dieses nichts sagen dürfen. Schweigend stinkende, tote
Tiere essen zu müssen, ist wohl ähnlich wie in der Hölle. Nichts sagen dürfen, wenn etwas nicht gut
ist, mir nicht guttut, das musste ich sehr schnell ändern. Was dann das Schweigen meiner Eltern
blitzartig aufgelockert hat. Aber nicht das Schweigen der Lämmer, immer wieder lagen sie tot auf
meinem Teller.
Ich wurde als Kind nicht aufgeklärt, warum die so stinken. Aufklärung über das Leben oder das
Sterben wurde totgeschwiegen.
«Das Schweigen der Lämmer und meiner Eltern», ich muss lachen, es würde passen, klingt aber nicht
gut.
Warum kann es nicht jeden Tag Nutella geben? Was hat Nutella mit dem Sonntag zu tun? Mag Gott
Nutella? Ja ernsthaft, auch diese Fragen beschäftigten mich.
Denn Gott existiert nur am Sonntag - und er wohnt in der Kirche. Mein heissgeliebtes Nutella durfte
wegen dieser Tradition nur einmal in der Woche erscheinen. Eigentlich ziemlich diskriminierend,
nicht?
Das Öffnen eines neuen Nutellaglases, dieser Duft, dieser Klang, und die noch unangetastete, obere
Schicht dieser braunen, süssen und freiheitversprechenden Masse machte mich glücklich. War aber
auch Auslöser heftiger Streitereien zwischen meinem älteren Bruder und mir, jeder wollte zuerst
eintauchen in dieses Versprechen von einem besseren Leben.
Ja, die Süsse des Lebens fehlte. Darum war ein absolut ungesundes, voller Chemie angereichertes
Nutella so wichtig.
Heute bin ich frei vom Schweigen müssen, frei von ungesunden Lebensmitteln und auch frei von der
Tradition tierische Produkte essen zu müssen, denn Tiere wollen nicht schweigen, sie wollen alle ihr
Leben haben, so wie du und ich.
Und auch das weiss ich heute besser: Gott wohnt in allem, was lebt.
PS: Nutella wurde mittlerweile in Italien verboten. Das Töten Unschuldiger nicht.

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Armer Ritter
Eine Kurzgeschichte von Dirk Turlach

„Du Miststück“. Das waren das letzten Worte, was Melina hörte, bis sie das Piepen ihres Herzschlages aufweckte. „Schön, dass sie wieder bei uns sind. Sie sind hier im Johannes Krankenhaus.“ Es war gutaussehender Mann im weißen Kittel, der mit sanft schwingender Stimme auf sie einredete. Um seinem Kopf herum war ein heller Kranz aus Licht, so dass sie zunächst dachte eine Engelsgestalt vor sich zu haben aber sicher lag es nur an dem Licht, das hell durch das Fenster flutet und ihrem verschwommenen Blick. Eines ihrer Augen fühlt sich offener an, als das andere und der Kopf dröhnte, als würde eine Kolone dröhnender Kettenfahrzeuge über eine alte Stahlbrücke fahren. Dann vielen ihre Augen von ganz allein wieder zu. Sie spürte noch die kühle Hand auf ihrer Stirn, sanft und weich fühlte sie sich an, dann glitt sie zurück in den Schlaf, aus dem sie gekommen war.

Als sie das nächste Mal wach wurde, war sie allein im Zimmer. Das Licht floss durch gelbliche Plissees, sie ließen eine angenehme Dämmrigkeit zurück. Wieso war sie hier. Diese Frage lag auf der Hand, aber trotzdem wunderte sie sich ein wenig, dass sie sich stellte. Warum wusste sie auch nicht. Ihre Mutter hatte immer gesagt -Melina, mit dem Denken hast du es nicht so, aber das ist nicht schlimm, man kommt auch so gut durch das Leben-. Dabei stimmte das gar nicht. Das Abitur hatte sie gut abgeschlossen, nicht als eine der Besten aber auch bei weitem nicht schlecht. Angefangen hat sie aber nichts damit, da sie Frank kennen lernte und dann Martin und dann Klaus und bei Klaus ist sie geblieben, weil sie nicht immer wieder neues wollte. Immer wieder neues strengt unglaublich an. Seit 20 Jahren waren sie schon zusammen und es war eigentlich alles ganz gut, auch wenn ihre Mutter sagte, dass er nicht gut für sie sei, aber sie hatte ja auch das mit dem Denken gesagt und die Abitur-Noten haben da ja wohl was anderes bewiesen. Wer sich einmal irrt. Warum denke ich den ganzen Quatsch grade, dachte Melina und schloss wieder ihre Augen.

Eine Schwester, warum nennt man die eigentlich so, es ist doch gar nicht meine Schwester, weil sie sich um mich kümmert, wie Schwestern das machen sollten vielleicht. Meine war nicht gut zu mir, diese, aber Schwestern war es und brachte nicht nur das Essen, sondern auch ein paar gesprächige Minuten. Sie setzte sich auf einen Stuhl, neben Melinas Bett und führte eine Tasse an Melinas Mund. Schnabeltasse heißen die wohl, so eine musste sie zum Schluss auch benutzen, als sie ihre Schwiegermutter pflegte und dafür nur Gemecker gehört hat. Die Schwester war ganz freundlich, anders als ihre, die ihre Schulbücher versteckte, so dass sie nicht nur von Eltern und Lehrerin ärger bekam.

Wie es ihr geht und ob sie Schmerzen hat, hat die Schwester gefragt. Antworten konnte Melina aber nur in kurzen Sätzen oder mit vorsichtigen Bewegungen des Kopfes. Der Unterkiefer tat zu sehr weh und wenn sie den Kopf stärker bewegte, fühlte es sich an, als würde jemand von innen gegen ihren Schädel rammen.

Zwei Tage später kam der Pfleger, der immer so freundlich lächelte und lustige Bemerkungen machte, so dass sie lachen musste und daraufhin gleich das Gesicht vor Schmerz ein wenig verzog, dass sie nun wieder aufstehen dürfte. Endlich musste sie diese Bettpfanne nicht mehr benutzen. Das war ihr jedes Mal peinlich gewesen. Den Schwestern schien es aber nichts auszumachen, ihr auf die Pfanne zu helfen und sie danach mitzunehmen. Trotzdem, das ist doch nicht würdevoll.

In dem kleinen Badezimmer zog sie sich ganz aus, auch den Schlüpfer legte sie zur Seite, damit er nicht nass wurde, beim Waschen. Vorsichtig strich sie mit dem Waschlappen über ihren Körper und zuckte an so mancher Stelle ein wenig zusammen, weil es dort besonders schmerzte. Im Spiegel konnte sie die aufgeplatzte Lippe sehen, die aber schon gut verheilt, das kleine Pflaster hatte der Arzt schon abgemacht, also war das gar nicht so schlimm gewesen. Das rechte Auge war noch sehr dick und Rot und geschwollen. Es sah aus wie so ein fetter Riesentintenfisch, den sie mal im Fernsehen gesehen hatte, eine dicke Wulst, über der anderen. Über der rechten Schläfe war auch ein roter Fleck, der sich schon am Rand gelb verfärbte. Dort wo es beim Lachen immer weh tat, war die Wange und der Kiefer auch ganz verfärbt. Ihre Rippen konnte sie nicht sehen, da dort noch ein großer Verband war, der noch länger drauf bleiben sollte, weil wohl zwei Rippen gebrochen waren. Aber über ihren prallen Brüsten war ein großer ovaler Fleck. Sie legte ihre Hand davor, aber sie war zu klein, um ihn zu verdecken. Auch an den Beinen waren rote Bereiche, die allesamt aber nur noch wenig weh taten, außer der am Oberschenkel. So schlimm war das wohl letztlich alles nicht. Aber dass sie sich nicht erinnern konnte, wie das passiert ist machte ihr sorgen. Sie hatte armen Ritter gemacht, zur Feier des Tages, denn es war der 23. April, der Geburtstag ihres Vaters, der im Kern ja ein guter Mann war, außer wenn er betrunken war, da hat sie dann auch manchmal so ausgesehen und musste bei dem gedanken etwas bitter lächeln. Vor 5 Jahren war er gestorben, aber sie war dabei geblieben den armen Ritter zu machen, wie er ihn gerne mochte. Man muss schon Tage vorher Brot und Brötchen aufbewahren, es war wichtig das es beides war, schon damit die Farbe stimmte. Dann kamen noch frische helle Brötchen dazu. Alles musste ganz klein geschnitten werden und wurde dann in Milch eingelegt. Nach zwei Stunden presst man die Masse dann in einem Baumwollhandtuch so lange bis keine Flüssigkeit mehr durch das Tuch drang. In einer Schüssel gab man dann Zucker hinzu, nicht zu wenig und dann kam das besondere, ein bis zwei Schoten frischer Vanille und ein ordentlicher Schluck Rum. Dann muss es geknetet werden, mindestens fünf Minuten, danach kommt es bei kleiner Hitze in den Backofen. Anschließend wurden formt man mit der Hand kleine Teigstücke und röstet sie kurz, damit sie außen eine Kruste bekommen, in viel Butter an. Teig formen, rösten, rausnehmen, und die nächste Fuhre. Wenn man fertig ist, kommt allen die ganzen Stücke in eine große Auflaufform und bei kleiner Hitze und ohne Deckel bleibt es 40 Minuten im Ofen, wobei man ab und an flüssige Butter drüber gießt. In der Zeit kann man die Vanillesauce machen, natürlich auch mit Vanilleschoten, nicht mit dem Pulver. Wenn man es dann isst, sollte es außen noch knusprig sein, so dass es ein wenig knackt, wenn man die Zähne um ein Stück schließt. Innen ist es weich und saftig und süß, aber auch ein wenig Herb von dem Brot. Im Mund breitet sich eine Wolke aus Süße, Herbe und der Würze des Rums aus. Die Vanillesauce, die man über die Stücke verteilt fügt noch ihre spezielle, fast exotische Note hinzu. Wenn man es dann warm isst und nur so sollte man es essen gleitet es ganz leicht in den Magen und füllt ihn mit Wärme, die sich im ganzen Körper ausbreitet, vielleicht liegt das auch ein wenig an dem Rum. Beim Gedanken daran lief Melina das Wasser im Mund zusammen und sie fühlte sich wieder so wohlig, wie in ihrer Kindheit, als sie das Gericht kennen gelernt hat. Die ganze Zeit, in der sie daran denkt, schaute sie in den Spiegel, nun als die inneren Bilder wieder verblassen wurde das Bild vor ihr wieder klarer, die Schwellungen, die roten Flecken und die Farben von Rot bis Gelb, vor allem das nur einen Schlitz weit offene Rechte Auge und da wusste sie wieder was war, nicht alles aber zumindest, warum es passierte. Sie hatte es vergessen, sie hatte vergessen, dass Klaus den armen Ritter hasste, weil ihr Vater ihn an einem der Geburtstage so damit aufgezogen hat. Der arme Ritter, nur dass er kein Ritter ist und an beiden werde sich nichts ändern, weder an der Armut noch am nicht Ritter sein. Immer wieder hatte ihr Vater das gesagt, den ganzen Abend lang und Klaus hatte sich nicht getraut etwas dagegen zu sagen, weil er wusste, dass ihr Vater stärker und brutaler war als er aber innerlich kochte er und als sie dann zuhause waren, da war es das erste Mal passiert, dass er sie geschlagen hat. Zwei Wochen durfte sie nicht aus dem Haus und ihren Eltern durfte sie davon nichts erzählen. Damals hatte sie noch Widerstand gespürt und Wut, ganz viel Wut, aber er hatte sie eingeschlossen und abends Blumen mitgebracht und Essen von ihrem Lieblings Italiener und hatte sich tausend Mal entschuldig und gesagt wie sehr es ihm leid tat und das er nichts dafür konnte, es war so über ihn gekommen, wahrscheinlich, weil sein Vater ihn auch immer geschlagen hatte und dann hat sie ihm verziehen. Aber armen Ritter durfte sie nie mehr machen und zum Geburtstag ihres Vaters ist auch nicht mehr mitgekommen. Wenn es irgendwo diesen Armen Ritter gab, wenn er es nur auf der Speisekarte gesehen hat, ist es sofort aufgestanden, dass eine Mal so heftig, dass die Gläser vom Tisch geflogen sind. Sie hatte dieses Jahr einfach nicht daran gedacht und daran muss es gelegen haben. Wenn sie wieder zu Hause ist, wird sie ihn fragen, vielleicht. Der nette Pfleger hatte ja schon gesagt das er nicht kommen würde. Er hatte mit ihm telefoniert. Gestern war es, als er ihr das Buch vorbeigebracht hatte. Am Morgen haben sie sich über Literatur unterhalten, was Melina drei Semester studiert hatte, bevor sie damit aufhören musste. Zuhause wollte sie solche Bücher, Literatur nicht lesen, da er sich immer lustig machte. Meinst wohl was Besseres zu sein oder warum liest du so einen Kram da passiert doch gar nichts, keine Spannung, kein Sex, nichts. Darum lass sie es heimlich, wenn er bei der Arbeit war, in einem Kaffee aber meistens in der Bücherhalle. Der Pfleger hatte auch gefragt, ob sie nach Hause möchte oder ob er nach einer Alternative schauen soll. Es gäbe wirklich gute Unterkünfte, die würden ihr helfen eine Wohnung zu finden und sich um alles kümmern. Aber das wollte sie alles nicht. So was würde schon nicht wieder passieren. Eine Psychologin war auch ein paar Mal bei ihr gewesen. Sie hatte dasselbe gesagt und viele Fragen gestellt und gefragt, worüber sie reden wollte, aber da gab es nicht so viel. Ihr Leben war doch ganz ok und sie wollte nicht alleine sein, nicht dass sie das nicht konnte, das schon, letztlich machte sie ja auch alles zuhause und kümmerte sich um alles Behördliche, machte die Steuererklärungen und so weiter. Aber sie hat sich gewöhnt kam es ihr, und das fühle sich gut an, es war verlässlich, meistens zumindest und alleine sein, nein das wolle sie auf keinen Fall. Wenn sie daran dachte, kamen ihr Gefühle aus der Kindheit hoch, in der sie viel alleine war, weil sie nicht mit anderen spielen durfte und in der sie immer auf der Hut sein musste, damit sie auf jede Stimmung des Vaters und auch der Schwester reagieren konnte. Nein, das wollte sie nicht mehr. Sie müsse einfach besser aufpassen, dann würde sowas schon nicht mehr vorkommen.

Drei Tage später wurde sie entlassen. Die Schwester und der Pfleger schüttelten mit dem Kopf und sahen sich mit einem Schulterzucken an, als sie sich umgedreht hatte. Martin, der Pfleger sah seine Kollegin mit einer Traurigkeit an, die er nicht mehr verbergen konnte, obwohl sie so was ja fast jede Woche sahen. „Und dass alles wegen einem armen Ritter.“ „Das ist wohl kaum der Grund.“ „Natürlich nicht, aber es ist erschreckend, dass es nur eine Kleinigkeit braucht. Die arme Melina muss doch jetzt noch genauso aufpassen, um nichts zu machen was reizen könnte, wie als Kind.“ „Stimmt schon. Kümmerst du dich um Frau Müller in der der 23?“ „Klar.“

Vielleicht war ihnen das Datum deshalb im Gedächtnis geblieben, weil sie nach Melinas Entlassung die nächsten Patienten, um die sie sich kümmerten auf Zimmer 23 lag und sie sich kurz noch einmal anschauten, als ihnen die Zahlengleichheit auffiel und und sie ein wenig bitter lächeln mussten, bevor sie nicht wieder an die Arbeit machten.

Die Monate vergingen, wie sie in einem Krankenhaus eben vergehen. Patienten kommen und gehen. Manches bleibt in Erinnerung, das meiste geht mit dem wieder beziehen des Bettes. Irgendwann, nach dem ein Sommer und ein Winter vergangen waren legte Martin seiner Kollegin den Lokalteil einer Zeitung hinter den Tresen. Als sie sich am Nachmittag sahen fragte er sie, ob sie den Artikel gelesen hatte. Sie senkte den Kopf und ihre Gesichtsmuskeln fingen an zu zucken und dann liefen Tränen und tropften auf dem Boden, Tränen, die man nicht aufhalten konnte. Es dauerte nur ganz wenige Sekunden, dann richtete sie sich mit einem tiefen Atem wieder auf. Ja, hab ich. Du weißt, was heute für ein Datum ist? Auch Martin musste tief durchatmen, bevor er antworten konnte. „Ja, der 24. April“.

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