Armer Ritter
Eine Kurzgeschichte von Dirk Turlach
„Du Miststück“. Das waren das letzten Worte, was Melina hörte, bis sie das Piepen ihres Herzschlages aufweckte. „Schön, dass sie wieder bei uns sind. Sie sind hier im Johannes Krankenhaus.“ Es war gutaussehender Mann im weißen Kittel, der mit sanft schwingender Stimme auf sie einredete. Um seinem Kopf herum war ein heller Kranz aus Licht, so dass sie zunächst dachte eine Engelsgestalt vor sich zu haben aber sicher lag es nur an dem Licht, das hell durch das Fenster flutet und ihrem verschwommenen Blick. Eines ihrer Augen fühlt sich offener an, als das andere und der Kopf dröhnte, als würde eine Kolone dröhnender Kettenfahrzeuge über eine alte Stahlbrücke fahren. Dann vielen ihre Augen von ganz allein wieder zu. Sie spürte noch die kühle Hand auf ihrer Stirn, sanft und weich fühlte sie sich an, dann glitt sie zurück in den Schlaf, aus dem sie gekommen war.
Als sie das nächste Mal wach wurde, war sie allein im Zimmer. Das Licht floss durch gelbliche Plissees, sie ließen eine angenehme Dämmrigkeit zurück. Wieso war sie hier. Diese Frage lag auf der Hand, aber trotzdem wunderte sie sich ein wenig, dass sie sich stellte. Warum wusste sie auch nicht. Ihre Mutter hatte immer gesagt -Melina, mit dem Denken hast du es nicht so, aber das ist nicht schlimm, man kommt auch so gut durch das Leben-. Dabei stimmte das gar nicht. Das Abitur hatte sie gut abgeschlossen, nicht als eine der Besten aber auch bei weitem nicht schlecht. Angefangen hat sie aber nichts damit, da sie Frank kennen lernte und dann Martin und dann Klaus und bei Klaus ist sie geblieben, weil sie nicht immer wieder neues wollte. Immer wieder neues strengt unglaublich an. Seit 20 Jahren waren sie schon zusammen und es war eigentlich alles ganz gut, auch wenn ihre Mutter sagte, dass er nicht gut für sie sei, aber sie hatte ja auch das mit dem Denken gesagt und die Abitur-Noten haben da ja wohl was anderes bewiesen. Wer sich einmal irrt. Warum denke ich den ganzen Quatsch grade, dachte Melina und schloss wieder ihre Augen.
Eine Schwester, warum nennt man die eigentlich so, es ist doch gar nicht meine Schwester, weil sie sich um mich kümmert, wie Schwestern das machen sollten vielleicht. Meine war nicht gut zu mir, diese, aber Schwestern war es und brachte nicht nur das Essen, sondern auch ein paar gesprächige Minuten. Sie setzte sich auf einen Stuhl, neben Melinas Bett und führte eine Tasse an Melinas Mund. Schnabeltasse heißen die wohl, so eine musste sie zum Schluss auch benutzen, als sie ihre Schwiegermutter pflegte und dafür nur Gemecker gehört hat. Die Schwester war ganz freundlich, anders als ihre, die ihre Schulbücher versteckte, so dass sie nicht nur von Eltern und Lehrerin ärger bekam.
Wie es ihr geht und ob sie Schmerzen hat, hat die Schwester gefragt. Antworten konnte Melina aber nur in kurzen Sätzen oder mit vorsichtigen Bewegungen des Kopfes. Der Unterkiefer tat zu sehr weh und wenn sie den Kopf stärker bewegte, fühlte es sich an, als würde jemand von innen gegen ihren Schädel rammen.
Zwei Tage später kam der Pfleger, der immer so freundlich lächelte und lustige Bemerkungen machte, so dass sie lachen musste und daraufhin gleich das Gesicht vor Schmerz ein wenig verzog, dass sie nun wieder aufstehen dürfte. Endlich musste sie diese Bettpfanne nicht mehr benutzen. Das war ihr jedes Mal peinlich gewesen. Den Schwestern schien es aber nichts auszumachen, ihr auf die Pfanne zu helfen und sie danach mitzunehmen. Trotzdem, das ist doch nicht würdevoll.
In dem kleinen Badezimmer zog sie sich ganz aus, auch den Schlüpfer legte sie zur Seite, damit er nicht nass wurde, beim Waschen. Vorsichtig strich sie mit dem Waschlappen über ihren Körper und zuckte an so mancher Stelle ein wenig zusammen, weil es dort besonders schmerzte. Im Spiegel konnte sie die aufgeplatzte Lippe sehen, die aber schon gut verheilt, das kleine Pflaster hatte der Arzt schon abgemacht, also war das gar nicht so schlimm gewesen. Das rechte Auge war noch sehr dick und Rot und geschwollen. Es sah aus wie so ein fetter Riesentintenfisch, den sie mal im Fernsehen gesehen hatte, eine dicke Wulst, über der anderen. Über der rechten Schläfe war auch ein roter Fleck, der sich schon am Rand gelb verfärbte. Dort wo es beim Lachen immer weh tat, war die Wange und der Kiefer auch ganz verfärbt. Ihre Rippen konnte sie nicht sehen, da dort noch ein großer Verband war, der noch länger drauf bleiben sollte, weil wohl zwei Rippen gebrochen waren. Aber über ihren prallen Brüsten war ein großer ovaler Fleck. Sie legte ihre Hand davor, aber sie war zu klein, um ihn zu verdecken. Auch an den Beinen waren rote Bereiche, die allesamt aber nur noch wenig weh taten, außer der am Oberschenkel. So schlimm war das wohl letztlich alles nicht. Aber dass sie sich nicht erinnern konnte, wie das passiert ist machte ihr sorgen. Sie hatte armen Ritter gemacht, zur Feier des Tages, denn es war der 23. April, der Geburtstag ihres Vaters, der im Kern ja ein guter Mann war, außer wenn er betrunken war, da hat sie dann auch manchmal so ausgesehen und musste bei dem gedanken etwas bitter lächeln. Vor 5 Jahren war er gestorben, aber sie war dabei geblieben den armen Ritter zu machen, wie er ihn gerne mochte. Man muss schon Tage vorher Brot und Brötchen aufbewahren, es war wichtig das es beides war, schon damit die Farbe stimmte. Dann kamen noch frische helle Brötchen dazu. Alles musste ganz klein geschnitten werden und wurde dann in Milch eingelegt. Nach zwei Stunden presst man die Masse dann in einem Baumwollhandtuch so lange bis keine Flüssigkeit mehr durch das Tuch drang. In einer Schüssel gab man dann Zucker hinzu, nicht zu wenig und dann kam das besondere, ein bis zwei Schoten frischer Vanille und ein ordentlicher Schluck Rum. Dann muss es geknetet werden, mindestens fünf Minuten, danach kommt es bei kleiner Hitze in den Backofen. Anschließend wurden formt man mit der Hand kleine Teigstücke und röstet sie kurz, damit sie außen eine Kruste bekommen, in viel Butter an. Teig formen, rösten, rausnehmen, und die nächste Fuhre. Wenn man fertig ist, kommt allen die ganzen Stücke in eine große Auflaufform und bei kleiner Hitze und ohne Deckel bleibt es 40 Minuten im Ofen, wobei man ab und an flüssige Butter drüber gießt. In der Zeit kann man die Vanillesauce machen, natürlich auch mit Vanilleschoten, nicht mit dem Pulver. Wenn man es dann isst, sollte es außen noch knusprig sein, so dass es ein wenig knackt, wenn man die Zähne um ein Stück schließt. Innen ist es weich und saftig und süß, aber auch ein wenig Herb von dem Brot. Im Mund breitet sich eine Wolke aus Süße, Herbe und der Würze des Rums aus. Die Vanillesauce, die man über die Stücke verteilt fügt noch ihre spezielle, fast exotische Note hinzu. Wenn man es dann warm isst und nur so sollte man es essen gleitet es ganz leicht in den Magen und füllt ihn mit Wärme, die sich im ganzen Körper ausbreitet, vielleicht liegt das auch ein wenig an dem Rum. Beim Gedanken daran lief Melina das Wasser im Mund zusammen und sie fühlte sich wieder so wohlig, wie in ihrer Kindheit, als sie das Gericht kennen gelernt hat. Die ganze Zeit, in der sie daran denkt, schaute sie in den Spiegel, nun als die inneren Bilder wieder verblassen wurde das Bild vor ihr wieder klarer, die Schwellungen, die roten Flecken und die Farben von Rot bis Gelb, vor allem das nur einen Schlitz weit offene Rechte Auge und da wusste sie wieder was war, nicht alles aber zumindest, warum es passierte. Sie hatte es vergessen, sie hatte vergessen, dass Klaus den armen Ritter hasste, weil ihr Vater ihn an einem der Geburtstage so damit aufgezogen hat. Der arme Ritter, nur dass er kein Ritter ist und an beiden werde sich nichts ändern, weder an der Armut noch am nicht Ritter sein. Immer wieder hatte ihr Vater das gesagt, den ganzen Abend lang und Klaus hatte sich nicht getraut etwas dagegen zu sagen, weil er wusste, dass ihr Vater stärker und brutaler war als er aber innerlich kochte er und als sie dann zuhause waren, da war es das erste Mal passiert, dass er sie geschlagen hat. Zwei Wochen durfte sie nicht aus dem Haus und ihren Eltern durfte sie davon nichts erzählen. Damals hatte sie noch Widerstand gespürt und Wut, ganz viel Wut, aber er hatte sie eingeschlossen und abends Blumen mitgebracht und Essen von ihrem Lieblings Italiener und hatte sich tausend Mal entschuldig und gesagt wie sehr es ihm leid tat und das er nichts dafür konnte, es war so über ihn gekommen, wahrscheinlich, weil sein Vater ihn auch immer geschlagen hatte und dann hat sie ihm verziehen. Aber armen Ritter durfte sie nie mehr machen und zum Geburtstag ihres Vaters ist auch nicht mehr mitgekommen. Wenn es irgendwo diesen Armen Ritter gab, wenn er es nur auf der Speisekarte gesehen hat, ist es sofort aufgestanden, dass eine Mal so heftig, dass die Gläser vom Tisch geflogen sind. Sie hatte dieses Jahr einfach nicht daran gedacht und daran muss es gelegen haben. Wenn sie wieder zu Hause ist, wird sie ihn fragen, vielleicht. Der nette Pfleger hatte ja schon gesagt das er nicht kommen würde. Er hatte mit ihm telefoniert. Gestern war es, als er ihr das Buch vorbeigebracht hatte. Am Morgen haben sie sich über Literatur unterhalten, was Melina drei Semester studiert hatte, bevor sie damit aufhören musste. Zuhause wollte sie solche Bücher, Literatur nicht lesen, da er sich immer lustig machte. Meinst wohl was Besseres zu sein oder warum liest du so einen Kram da passiert doch gar nichts, keine Spannung, kein Sex, nichts. Darum lass sie es heimlich, wenn er bei der Arbeit war, in einem Kaffee aber meistens in der Bücherhalle. Der Pfleger hatte auch gefragt, ob sie nach Hause möchte oder ob er nach einer Alternative schauen soll. Es gäbe wirklich gute Unterkünfte, die würden ihr helfen eine Wohnung zu finden und sich um alles kümmern. Aber das wollte sie alles nicht. So was würde schon nicht wieder passieren. Eine Psychologin war auch ein paar Mal bei ihr gewesen. Sie hatte dasselbe gesagt und viele Fragen gestellt und gefragt, worüber sie reden wollte, aber da gab es nicht so viel. Ihr Leben war doch ganz ok und sie wollte nicht alleine sein, nicht dass sie das nicht konnte, das schon, letztlich machte sie ja auch alles zuhause und kümmerte sich um alles Behördliche, machte die Steuererklärungen und so weiter. Aber sie hat sich gewöhnt kam es ihr, und das fühle sich gut an, es war verlässlich, meistens zumindest und alleine sein, nein das wolle sie auf keinen Fall. Wenn sie daran dachte, kamen ihr Gefühle aus der Kindheit hoch, in der sie viel alleine war, weil sie nicht mit anderen spielen durfte und in der sie immer auf der Hut sein musste, damit sie auf jede Stimmung des Vaters und auch der Schwester reagieren konnte. Nein, das wollte sie nicht mehr. Sie müsse einfach besser aufpassen, dann würde sowas schon nicht mehr vorkommen.
Drei Tage später wurde sie entlassen. Die Schwester und der Pfleger schüttelten mit dem Kopf und sahen sich mit einem Schulterzucken an, als sie sich umgedreht hatte. Martin, der Pfleger sah seine Kollegin mit einer Traurigkeit an, die er nicht mehr verbergen konnte, obwohl sie so was ja fast jede Woche sahen. „Und dass alles wegen einem armen Ritter.“ „Das ist wohl kaum der Grund.“ „Natürlich nicht, aber es ist erschreckend, dass es nur eine Kleinigkeit braucht. Die arme Melina muss doch jetzt noch genauso aufpassen, um nichts zu machen was reizen könnte, wie als Kind.“ „Stimmt schon. Kümmerst du dich um Frau Müller in der der 23?“ „Klar.“
Vielleicht war ihnen das Datum deshalb im Gedächtnis geblieben, weil sie nach Melinas Entlassung die nächsten Patienten, um die sie sich kümmerten auf Zimmer 23 lag und sie sich kurz noch einmal anschauten, als ihnen die Zahlengleichheit auffiel und und sie ein wenig bitter lächeln mussten, bevor sie nicht wieder an die Arbeit machten.
Die Monate vergingen, wie sie in einem Krankenhaus eben vergehen. Patienten kommen und gehen. Manches bleibt in Erinnerung, das meiste geht mit dem wieder beziehen des Bettes. Irgendwann, nach dem ein Sommer und ein Winter vergangen waren legte Martin seiner Kollegin den Lokalteil einer Zeitung hinter den Tresen. Als sie sich am Nachmittag sahen fragte er sie, ob sie den Artikel gelesen hatte. Sie senkte den Kopf und ihre Gesichtsmuskeln fingen an zu zucken und dann liefen Tränen und tropften auf dem Boden, Tränen, die man nicht aufhalten konnte. Es dauerte nur ganz wenige Sekunden, dann richtete sie sich mit einem tiefen Atem wieder auf. Ja, hab ich. Du weißt, was heute für ein Datum ist? Auch Martin musste tief durchatmen, bevor er antworten konnte. „Ja, der 24. April“.