Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Zuerst streckte ein schwarzer Käfer den Kopf aus meinem Essen heraus. Nur eine Sekunde später sah man nicht nur ihn als Ganzes, sondern auch fünf weitere. Die Farben reichten von Rot bis Grün und über Orange. Immer mehr kamen unter den Spaghetti hervor. Mein Herz blieb stehen, mein Gesicht war vor Ekel zu einer Grimasse verzogen, die für jemand anderes ganz sicher als witzig befunden worden wäre. Ich hob den Kopf und sah entsetzt zu meinen Eltern, bei denen ebenfalls hunderte Käfer von ihren Tellern auf den Holztisch purzelten. Quirlig krabbelten sie da kreuz und quer. Doch als würden es meine Eltern nicht bemerken, aßen sie Gabel für Gabel, von denen ebenfalls Käfer zurück auf den Teller fielen.
Ein angsterfüllter Schrei drang aus meiner Kehle, als einige auf meinem Schoß fielen und sich einen Weg über meine Hose suchten. Hektisch wedelte ich mit meinen Händen herum, um sie von mir hinunter zu schubsen.
Mein Blick glitt wieder zurück auf meinen Teller. Der nächste Schrei blieb mir im Hals stecken. Mit weit aufgerissenen Augen, starrte ich auf die sich bewegenden Nudeln. Wie Würmer schlängelten sie sich über die Soße und verteilten am Tisch rote Spuren. Als ich plötzlich etwas an meinem offen stehendem Mund kitzeln spürte, schlug ich so heftig um mich, dass ich mitsamt dem Stuhl rückwärts kippte.
Der Knall des Stuhls hallte noch in meinen Ohren nach, als ich aufrecht im Bett saß und mir die Seele aus dem Leib schrie.

Trotz dem Knurren meines Magens bekam ich beim Frühstück keinen Bissen hinunter. Der Schreck saß noch nach Stunden tief und ließ meine Augen nervös über das Essen huschen.

»Brauchst du für das Abendessen heute etwas eingekauft, Schatz?«, fragte Papa und sah Mama an.
Diese schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe fast alles zuhause. Den Rest hole ich mir aus dem Garten.« Während sie ihren Kopf zu mir wandte, breitete sich ein diabolisches Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
Ich riss entsetzt die Augen und den Mund auf. Gleich darauf schloss ich sie wieder, rubbelte über die Lider und schlug sie wieder auf. Irritiert hatte Mama ihre Stirn gefurcht.
»Was ist denn los, Mäuschen?«, fragte sie besorgt.
»Ich … Du … Wir … Käfer …«, stotterte ich überfordert.
»Was?« Verwirrt über mein Gestammel zog sie die Augenbrauen zusammen.
»Ich … nichts.« Ich sprang vom Esstischstuhl auf, schnappte mir meinen Ranzen und schlüpfte in die Schuhe.
»Tschüss«, rief ich über meine Schultern zurück und verließ im nächsten Augenblick stürmisch die Wohnung.

In der Schule konnte ich mich kaum konzentrieren. Immer wieder geisterten meine Gedanken zu der Antwort meiner Mama zurück. Sie brauchte noch Sachen aus dem Garten? Die grauenvollen Bilder vom Albtraum tauchten mir vor den Augen auf. Mich schüttelte es. Wenn Mama glaubte, dass ich Käfer oder Würmer aß, dann hatte sie sich geschnitten. Auf keinen Fall! Nie und nimmer!

Ich stolperte nervös zuhause aus meinen Schuhen. Der Geruch des Abendessens erfüllte die Luft und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Und doch blieb die Angst vor dem, was sie aus dem Garten geholt haben mochte. Erdbrocken zierten den Boden wie die Brotkrumen bei Hänsel und Gretel. Im Augenwinkel vernahm ich eine flinke Bewegung. Ich riss vor Schreck meinen Kopf zur Seite. Mein Albtraum war lebendig geworden. Ein grüner Käfer lief neben mir an der Wand. Mein Herz raste. Das konnte doch nicht wahr sein!

Am liebsten wollte ich mich am Absatz herumdrehen und die Wohnung schreiend verlassen, doch die kindliche Neugier ließ mich einen Fuß vor den anderen Richtung Küche setzen.
»Hi, Mäuschen. Wie war’s heute in der Schule?« Lächelnd sah sie mich an, als ich ums Eck in die Küche schielte. Vielleicht war alles harmloser, als ich es mir in Gedanken vorstellte? Doch dann krabbelte der grüne Käfer an mir vorbei und ließ meine horrormäßigen Gedanken ankurbeln. Wie rochen denn eigentlich gebratene Käfer?
»Es ging«, antwortete ich kurz und knapp. Ich wusste nicht, wie ich den Schultag bewältigt hatte, denn zum ersten Mal war der Unterricht an mir vorbei gegangen.
»Oje, so anstrengend?«
Ich nickte als Antwort, denn die Wahrheit hätte ich mich nicht sagen getraut.
»Du Ärmste. Das Essen ist gleich fertig. Wenn du willst, kannst du dich schon zum Tisch setzen.« Wieder ein Lächeln. Wollte sie mich damit hinters Licht führen?

Zögerlich ging ich zum Essplatz, der im Wohnzimmer integriert war, und ließ mich sorgenvoll auf einen Stuhl sinken. Mit aufgestützten Ellenbogen vergrub ich mit geschlossenen Augen mein Gesicht in den Handinnenflächen. Mir war kotzübel. Mein Magen rumorte. Dann hörte ich die Schritte meiner Mama. Ich merkte, wie sie neben mir stehen blieb und den Teller abstellte.
»Pass auf, es ist noch heiß«, hörte ich sie mich warnen. Der Duft, der mich bereits beim Nachhausekommen empfangen hatte, stieg mir nun ganz deutlich in die Nase. Ein Gemisch aus Würzigkeit und Frucht ließ einen Wasserfall in meiner Mundhöhle entstehen.

Auf das Schlimmste gefasst, schlug ich die Augen auf und erstarrte. Meine Mundwinkel zogen sich nach oben. Von Sekunde zu Sekunde wurde das Grinsen breiter. Die Lippen teilten sich leicht. Ein kehliges Lachen drang davon hervor, das mich schüttelte. Tränen rollten mir aus den Augenwinkeln über meine Wangen. Mit dem Handrücken fuhr ich mir über die feuchten Spuren, griff nach dem Besteck und rollte etwas von dem Essen auf die Gabel. Voller Vorfreude schob ich mir die Gabel in den Mund und schloss genüsslich die Augen. Eine Nudel hing ein Stück aus dem Mund, die ich schlürfend hineinzog. Eine Geschmacksexplosion entfachte in meinem Gaumen. Das Salz des Parmesans stellte sich in den Vordergrund, doch gleich danach kam die Süße. Die fruchtige Note des Gemüses stieß aber schnell alles andere zur Seite. Die Kräuter gaben die typische Note für dieses Essen. Ich schluckte, öffnete die Augen und rollte mir die nächsten Nudeln von meinem Leibgericht auf die Gabel. Spaghetti Bolognese mit frischen Stücken von Karotten, Tomaten und Zucchini aus dem Garten. Lecker!

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Der Kartoffelsuppen-Kult

Als er den Zehn-Liter-Topf stolz auf den Herd bugsierte, wussten alle Beteiligten, dass die Sache aus dem Ruder gelaufen war. Was als schnelle, günstige und unkomplizierte Nahrungsversorgung einer 4-köpfigen Durchschnittsfamilie begonnen hatte, war zu einem pop-up-Restaurant geworden.

Im Schälen und Schnibbeln machte uns keiner mehr etwas vor. Selbst Henry Ford wäre Stolz auf unser Kartoffelsuppen-Fließband gewesen. Meine Station waren die Zwiebeln. Als einzige machten mir die stechenden Dämpfe nichts und ich hackte munter drauf los. Bruder und Muddern schälten währenddessen schneller als ihre Schatten um die Wette. Nachdem ich die Zwiebeln zum anschwitzen abgegeben hatte, machte ich mich an die Zerkleinerung von Wurzeln und Knollen, die mir zugereicht wurden. Vaddern schnitt nur die Mettenden persönlich und überwachte anschließend seinen Wundertopf, wie Miraculix den Kessel mit Zaubertrank. Misteln schnitt er keine im Knick, aber Gemüsebrühe gab er reichlich dazu.

Bei den Zutaten konnten wir uns nie ganz einigen. Vaddern und Bruder schworen auf das Reinheitsgebot aus Kartoffeln, Wurzeln und Mettenden. Muddern versuchte dagegen stets, irgendwelche Gemüse-Reste aus der Tiefkühltruhe unterzumogeln. Ich bestand auf meinen geliebten Kohlrabi und zog heimlich Wiener den fettigen Mettenden vor. Das konnte wiederum kein stolzer Norddeutscher gutheißen, also musste ich auf dieser Front stets zurückstecken. So oder so bekamen wir jeden Sonnabend ein mehr oder weniger beständiges Geschmackserlebnis zustande.

Es war dieses rituelle, was aus einer Suppe einen Kult machte. Häufige Gäste des Hauses bemerkten schnell den kausalen Zusammenhang von Wochentag und der Aussicht, eine Schüssel dampfende Suppe abzugreifen. Ganz zufällig ballte sich der Besucherzeitraum im Haus auf etwa dreizehn Uhr am Sonnabend. Die Freunde von meinem Bruder und mir bestanden auf einen Besuch bei uns Zuhause. Nachbarn schauten immer zur selben Zeit vorbei, um sich dieses oder jenes Werkzeug auszuleihen. Und alle gingen von der Diele durch die Küche und blieben wie verzaubert vor dem blubbernden Topf stehen.

„Oh! Bei euch gibt es Kartoffelsuppe?“ Das Schauspiel war perfekt. Als guter Gastgeber bot man natürlich eine Schüssel an. So führte eins zum anderen und als endlich der Zehn-Liter-Topf auf dem Herd stand, wurde das von einem Stammgast fast schon vorwurfsvoll quittiert.

„In dem alten Topf war auch nie genug für einen Nachschlag drin!“


Tolle Idee und tolles prompt, Danke dafür! Aus Nostalgie bin ich in meinen gebürtigen Schnack verfallen. Norddeutsche Begriffsklärung:
Muddern und Vaddern - Eltern
Wurzeln - „Karotten, Mohrrüben“
Sonnabend - „Samstag“
Knick - Wallhecke, Ackergrenze

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Plundermilch

Oma machte uns morgens das Frühstück – Reinhard und mir – dicke Kölln-Haferflocken in warmer Milch. Darüber ließen wir einen Löffel voll vom flüssigen Honig rieseln und beobachteten die Figuren, die der dünne Faden hervorrief. Omas Job war so eine Art Arbeitsteilung, denn unsere Eltern hatten zu tun. Sie versorgten das Vieh im Stall. Bauern hatten morgens keine Zeit für ihre Blagen. Sie mussten »die Werke machen«. Unsere sechs Milchkühe waren bereits abgeschafft, es gab nur noch Schweine für die Zucht und Hühner für die Eierproduktion.

Einzig das Wecken um genau halb Sieben bekam Mama durch lautes Rufen von unten stets pünktlich hin. Mein Zimmerchen lag oben links der Deele. Erst rief sie an Reinhards Treppe, dann an meiner Treppe, der dunkelroten auf der gegenüberliegenden Seite. Rein-hard!!! Hel-gaaa!!! Dieses unerbittliche Rufen in die Stille des Morgens hatte ich im Lauf der Jahre vergessen, noch viel später, als Mama bei mir zu Hause zu Gast war, tat sie es wieder, als sie mich herunterrufen wollte. Und zwar in der gleichen Tonlage wie fünfzig Jahre zuvor. Hatte es immer gehasst, dieses Gerufe. Mein Bruder auch.

Mit dem Rad fuhren wir runter zur Schule nach Ehrsen. Es war etwas Selbstverständliches, dass Oma da war, wenn wir mittags zurückkamen. Auf dem Kohleherd in der kleinen Küche hatte sie was Leckeres gekocht, und wir löffelten ein Durcheinander oder Himmel und Erde oder auch mal Eierpfannkuchen, die in der gusseisernen Pfanne gebacken wurden. Es gab immer einen Nachtisch, je nach Jahreszeit waren es frische Erdbeeren mit Quark oder Pflaumenkompott mit Vanillesoße – »Familiensoße« sagten Reinhard und ich dazu. Dicke Nudeln, also Makkaroni, gabs stets samstagabends, und dann mit Buttersoße und Bröseln. Mit Tomaten für eine italienische Soße wurde noch nicht so richtig rumhantiert, jedenfalls wuchsen sie nicht gerade üppig in unserem Garten.

Am liebsten hatte ich es, wenn Oma Arme Ritter machte. Einfache Weißbrotscheiben in Eihülle und in der Pfanne mit guter Butter ausgebacken. Dann roch es süß-buttrig-heimelig, und noch heute wünsche ich mir diesen einzigartigen Duft zurück. Nie habe ich versucht, sie nachzubacken. Dazu müsste ich in unsere kleine alte Küche zurückkehren können.

Wenn Graubrot zu alt geworden war, wurde daraus eine schlichte Brotsuppe gekocht, mit ein paar Rosinen darin. Ihre Süße und das Saure des Brotteigs, zusammen mit einer Prise Geheimnis – ich glaube, es war Natron ­­– machte sie zur Nacht bekömmlich. Und es war nahrhaft.

Es kam nichts um.

Im Hochsommer aber war das Beste die Plundermilch! In flachen Glasschälchen angesetzt, wurde frische Milch einfach oben auf das Küchenbord gestellt. Je nach Wetter durften die Schälchen mindestens zwei Tage lang nicht bewegt werden. Beim Gären bildeten sie eine dicke Schicht Rahm. Mit Schwarzbrot, das man hinein bröckelte, oder mit etwas Zucker und Zimt wurde die Dickmilch zum Abendbrot gegessen. Heute könnt ihr keine Plundermilch mehr ansetzen, denn die klinisch reine pasteurisierte Milch eignet sich nicht dafür. Geht nicht!

Einmal guckten die Eltern etwas irritiert, weil die obere Sahneschicht statt gelb etwas grünlich aussah. Kein Wunder, lagen die Kühe über Nacht doch in den Ställen angebunden in ihrem dunklen platschigen Dung, der dann an ihren Schenkeln klebte. Beim Abendmelken sah ich der Bäuerin oft zu, wie die frisch gemolkene Milch vom Milcheimer zweimal durch Stofffilter gegossen und erst dann in meine mitgebrachte Blechflasche gefüllt wurde. Wenn allerdings das Euter vor dem Melken nicht akkurat gesäubert wurde, flutschte wohl schon mal etwas von der Kuhkacke in die Milch. Ähm.

Nun ja, von da an holten wir die Milch von dem anderen Bauern. Nee, liebe Leute, also wirklich, welcher der beiden Bauern aus unserer Nachbarschaft der Übeltäter war, kann ich heute beim besten Willen nicht mehr sagen. Die Bauern und die Kühe sind ja auch schon alle tot.

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»Hörndli mit roter Soße!«
Großmutter lacht. Es ist ein Ritual und so fragt sie jedes Mal. Es gibt keinen anderen Znacht. Sie geht in die Küche, wir hören sie hantieren, Soßenpfännchen, Nudeltopf, das Eierpfännchen, während wir mit Großvater auf der Eckbank am Tisch sitzen. Immer in der einfachen Stube; in der guten Stube essen wir nur zu Weihnachten. Draußen ums Eck kocht das Wasser, sie schaltet den Ventilator ein, der in die Glasscheibe eingelassen ist, Xpelair steht da drauf und ein ums andere Mal frage ich mich, wer zum Kuckuck bloß so einen unaussprechlichen Namen erfindet und warum. Im Fernseher sind die Sechsuhrnachrichten vorbei, Großvater mischt die Karten und verteilt, sieben Karten für mich, meine Schwester, für sich. Großmutter spielt nie mit, nur ganz ganz selten einmal am Nachmittag, wenn sie nicht Znacht macht. »Du hast den Tschau vergessen!«, rufen wir beide und meine Schwester schmollt, gar nicht wahr, und wir lassen es nicht wahr sein, denn sonst hört sie vielleicht auf zu spielen und das wollen wir nicht und die Zeit zum Znacht geriete uns zu lang, so gibts halt für Großvater eine Kartoffel geschrieben, er mag Kartoffeln, die könne man wenigstens essen, auch wenn sie nicht so gut schmeckten wie Hörndli mit roter Soße, das musste er dann schon eingestehen. Sieben neu gemischte Karten für uns alle, wir spielen mit sieben Karten statt den fünf, die es offiziell gibt, wir mögen’s mit ein bisschen mehr und mit weniger Karten geriete uns auch das Spiel zu kurz und uns die Zeit zu lang, bis man das lustvolle Schmatzen hört, mit dem das Ei sich in der heißen Butter zum Spiegelei braten lässt mit goldbraun krossem Krustenrand und einem Hauch Salz auf dem Eigelb. Nie mehr hab ich so perfekte Spiegeleier gehabt, hab aber auch kein solches Spiegeleierpfännchen wie Großmutter es hatte. Der Topf für die rote Soße heißt Le Creuset und hat die orange-rote Farbe der Soße, etwas mehr Orange unten und oben fast so rot wie Rot. Wir müssen die Karten wegräumen, denn nun wird der Tische mit dem Plastiktuch abgedeckt, die Tischdecke soll nicht schmutzig werden. Das Plastiktuch ist durchsichtiges Plastik mit weißen feinen Schnörkellinien. Großmutter hatte immer dasselbe Tuch aus Plastik; ich erinnere mich an kein anderes und ich frag mich, wie der Plastik nie spröd wurde oder sonstwie altershalber kaputt ging; sie hatte vielleicht mehrere oder man hat dem Tuch wohl auch einfach Sorge getragen wie allen Dingen in diesem Haushalt. Die Schüssel mit den Hörndli kommt und drauf ein gutes Stück Butter, umrühren muss man noch, damits auch schön schmilzt und glänzt. »Hast du schon wieder mehr Soße!« Einerlei wer’s sagt, es ist der Kampf um die Soße, eine existentielle Sache, denn es hat immer genug Soße und trotzdem darf nie jemand mehr haben als der andere, das wär ja noch schöner, wo kämen wir denn da auch hin, da wird also eifersüchtigst gewacht und jeder Löffel Soße mitgezählt. Und wie immer haben wir zu viel gegessen vom besten Spiegelei der Welt und den Hörndli mit roter Soße, manchmal gabs auch noch ein Löffelchen geriebenen Käse obendrauf, doch nie zu viel, sonst wärs zu schwer für die Nacht. Großvater hat nie mitgegessen. Er hat uns zugesehen.
Die Viertelstunde Heimfahrt gerät lang, Vater fährt schweigend konzentriert, der Motor brummt, wir schauen aus dem Fenster. Das orange Licht der Natriumdampflampen ist schön, schon das Wort, das Vater mir beigebracht hat, das scheint warm und gefällt mir, ich fahre nicht gern durchs Nachbardorf, denn da haben sie Quecksilberdampflampen, auch so ein Wort, nur grell und weiß, blendende Kugeln hoch oben, deren Licht ist viel zu brutal für die Sänfte der Nacht. Am schönsten sind die Heimfahrten zur Vorweihnachtszeit, wenn wir die Lichter der Weihnachtsbäumchen zählen können, ich auf meiner Seite und sie auf ihrer Seite, wenn der Bauch uns beiden vielleicht ein bisschen weh tut von vielen Hörndli mit roter Soße und dem Spiegelei. Es muss uns immer ein bisschen zu viel sein, sonst wärs nicht genug Genuss.

  • Hörndli sind Nudeln, nur eben nicht Nudeln, denn dann wären sie lang und flach wie plattgedrückte Spaghetti; sie sind in Hörnchenform. Die werden in der Schweiz auf Verpackungen zwar mit »Hörnli« angeschrieben, nur sagt man in meiner Mundart eben Hörndli (mit ganz weichem d) und so muss ich nun meine Erinnerung transkribieren.
  • Znacht: Abendessen, wörtlich: zu Nacht (essen od. Gegessenes).

Lakritzsterntag

Heute habe ich Taschengeld bekommen. Deshalb ist heute Lakritzsterntag.

Ein glänzender Groschen liegt in meiner Hand. Ich umschieße ihn mit den Fingern und merke, wie er langsam warm wird. Warme Geldstücke sind besser als kalte, finde ich. Trotzdem müssen sie ausgegeben werden. Ich will mir davon etwas kaufen, vorne an der Ecke beim Tabakmann. Während ich mir meine Stiefel und den Winteranorak anziehe, dann den Schal um den Hals schlinge und die Handschuhe suche, halte ich die Münze fest. Es ist schwierig, vor allem das Zuknöpfen der Jacke, aber das Geldstück fällt nicht runter.

„Wo willst du hin?“, ruft meine Mutter aus der Küche.

„Nach draußen, in den Schnee“, rufe ich zurück und öffne langsam die Wohnungstür.

„Gib das Geld doch nicht gleich aus!“ Jetzt steht sie im Türrahmen mit dem Geschirrtuch in der Hand. „Steck es doch lieber ins Sparschwein!“, dreht sich um und geht zurück in die Küche.

„Ja, mach ich… nachher…“, lüge ich, schlüpfe aus der Tür und schließe sie so leise, wie es geht. Nur schnell weg, damit sie nicht noch mehr Fragen stellt oder mich gar aufhält.

Ich springe die Steinstufen hinunter, dann raus aus dem Haus, ziehe die Mütze tiefer ins Gesicht, denn es schneit immer noch. Alles ist schon weiß. Meine Stiefel knirschen im Schnee. Noch hat niemand gefegt. Kein Vogel singt, obwohl ich welche sehe. Schwarz wie Lakritz sitzen sie auf der anderen Straßenseite in den ebenso schwarzen Ästen des Baumes.

Ich renne los, um die Ecke, dann über die Straße bis zur nächsten Ecke, dort wo das Schild „Tabakwaren“ gelb leuchtet, dort wo Pfeifen im Schaufenster liegen und drinnen, das weiß ich, große Gläser mit bunten Bonbons auf dem Tresen stehen. Aber die will ich nicht.

„Na, mien Deern, wie imma?“, begrüßt mich der Tabakmann. Er ist sehr alt und riecht heute wieder komisch nach irgendetwas Scharfem, was ich nicht gerne rieche.

„Ja“, sage ich leise und schiebe den warmen Groschen in seine Richtung. Der Tabakmann nimmt ihn, dreht an der Kurbel der gusseisernen Kasse, die sich mit einem Klingeln öffnet. Mein Groschen verschwindet, die Kasse schnappt zu. Dann dreht sich der Tabakmann zur Pappkiste und holt ein kleines Tütchen heraus, legt es vor mich hin. „Bidde!“, sagt er und grinst.

„Danke!“, sage ich, versuche zu lächeln und bin schon wieder draußen. Ich setze mich auf das kleine Mäuerchen vor dem Laden und reiße das Tütchen auf, stecke meine Nase hinein, sauge den Duft ein. Dann lasse ich die schwarzen Salmis einzeln auf meinen Rock gleiten. Acht Stück brauche ich für einen Stern. Ich lecke mit der Zunge über meinen Handrücken. Dann klebe ich nacheinander die Salmis im Kreis auf die nasse Hand, bis sie einen Stern ergeben. Schön sieht das aus. Ich presse meine andere Hand darauf. Das muss alles gut festkleben. Ich zähle langsam bis dreißig. Dann ist der Stern fest genug. Ich stehe auf und gehe in Mäuseschritten los. In Mäuseschritten dauert der Heimweg länger und das ist gut. Ich lecke über den Stern und genieße den wunderbaren Lakritzgeschmack, einmal, noch einmal und immer wieder. Schneeflocken fallen auf meine Schuhe, auf meine Jacke und auf meine warme Lakritzsternhand. Langsam schmilzen die Flocken.

Heute glaube ich mich zu erinnern, dass ein Lakritzstern, gemischt mit Schneeflocken, noch besser schmeckt als ohne.

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Es war letztes Frühjahr. Ein ganz normaler Arbeitstag. Ein bisschen anstrengender als sonst vielleicht, weil man für dieses eine klitzekleine spezielle Problem einfach keine zufriedenstellende Lösung finden konnte, aber nicht weiter dramatisch.
Fünfzehn Minuten noch bis zum Feierabend, das Handy leuchtet auf. Meine beste Freundin – sie ist die Erdbeere in meinem Eisbecher und der Punkt auf meinem i – schickt eine Nachricht: „Wann hast du aus? Ich mach uns Spinat!“
Breit grinsend, vergeht die restliche Zeit wie im Flug, schon ist die Tasche gepackt und der Autoschlüssel hervorgekramt. Ich fahre vom Hof und reihe mich in den Feierabendverkehr ein. Es hat etwas Tröstliches, sich auf die immer selbe Strecke mit den altbekannten Straßenfreunden zu begeben. Der rote Corsa steht an der Ampel hinter mir. Der SUV mit der großen, fröhlichen Strichmännchen Familie auf der Heckscheibe, hat seinen Blinker gesetzt. Er holt heute wohl noch etwas aus dem Laden, vermutlich für das Pendant aus Fleisch und Blut, das zuhause auf die Fütterung wartet.
Dass ich, anders als sonst, vergessen hatte die Musik einzuschalten, fiel mir dagegen gar nicht auf, denn meine Freude darüber, dass ich in 20 Minuten mein Leibgericht serviert bekomme, nahm mich komplett ein. Ein Gericht, dass in meinem ganzen Körper Glückseligkeit auslöst. Zugegeben auch ein Gericht, welches es bekanntermaßen schafft, sogar Familien in zwei Lager zu teilen – Spinat mit Kartoffeln und Spiegelei.
Kühne Anhänger meines Lagers behaupten ja, dazu gehören sich noch Fischstäbchen, Fleischküchle oder gar Leberkäs‘.
„Nichts da, ihr Banausen“, ruft alles in mir „wisst ihr denn nicht die Herrlichkeit dieses grünen Wunders zu schätzen?!“. Aber ich schweige und lächle - denn immerhin sind sie Verfechter meiner Sache und außerdem, es sei ihnen ja vergönnt…

Allerdings konnte ich nie verstehen, was jemand generell gegen diese Delikatesse einzuwenden haben könnte, schon als Kind nicht.
Auch damals schon strahlte ich übers ganze Gesicht, wenn am Abend der riesige Kartoffeltopf seinen Platz hinten rechts auf dem Herd einnahm und Oma dann den braunen Topf mit den orange-grünen Blumen hervorholte.
Zu gern würde ich sie heute fragen können, ob ihr das ewige Spinat und Kartoffeln kochen, nicht insgeheim zum Hals raushing.
Während mein Blick über die vertraute Landschaft jenseits der langen Gerade schweift, kommt mir zum ersten Mal der Gedanke, dass womöglich auch Kartoffeln mit Butter oder Limburger (Omas Leibspeise, demnach geurteilt wie häufig es das als Mittagessen gab) nur so oft aufgetischt wurden, weil das Geld knapp und die Kartoffeln, dank meiner unergründlichen Spinatsehnsucht sowieso gekocht waren.
Bestimmt verfluchte sie den Tag, als sie mich mit Popeye bekannt machte.

Mein lautes Lachen unterbricht die Stille. Von ihr hab ich damals auch gelernt, dass es mir am besten schmeckt, wenn erst die Kartoffeln mit einer Gabel im Teller zerdrückt werden. Das Spiegelei gehört sich danach zerpflückt und untergehoben und erst zum Schluss folgt eine riesige Ladung cremigen Spinats. Einmal noch durchmischen und dann ist der einzige Mitstreiter des hungrigen Magens den man braucht, der größte Suppenlöffel den man in der Besteckschublade finden kann.
Eine offensichtlich umstrittene Praxis, die nicht selten in meinem Leben zu allerlei vielsagender Blicke geführt hat, denn von Verwirrung bis hin zu purem Entsetzen, war beim Anblick meines fertig angerichteten Tellers bereits die gesamte Emotionspalette dabei.
Aber auch nach all den Jahren, in denen sich der Geschmack oft verändert hat, in denen ich selbst kochen gelernt habe, unzählige unterschiedliche Gerichte aus aller Herren Länder bereitet und probiert habe, Techniken, Gewürze und Lebensmittel kennen und lieben lernen durfte, begeistert mich immer noch die unkomplizierte Vollkommenheit dieses Gerichts, das jetzt gleich auf mich wartet.
Ich rolle die Einfahrt hoch und springe beschwingt ein paar Treppen Richtung Eingang hinauf,
als die Tür auffliegt. Die Meisterköchin selbst steht darin und teilt mein unverändert breites Lächeln. Sie weiß genau, was dort drin bereits auf dem Tisch steht, ist und bleibt mein unbestrittenes Lieblingsessen – eines, das unendlich gut ist für meine Seele.

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Ja, das hör ich auch von immer mehr Seiten

Meine Eltern und Großeltern lebten und arbeiteten vor dem großen Krieg in Schlesien. Als Auslandschweizer leiteten sie eine Kolchose. Mein Großvater war Obermelker und ein sehr angesehener Leiter. Im Winter 1944, als die Russen immer näher kamen, mussten sie sich mit dem Gedanken der Flucht befassen. Ihr Ziel war die Schweiz. Doch die noch wenigen Züge waren den Soldaten vorbehalten, die Richtung Osten, an die Front geschickt wurden. Kinder, ja es waren eigentlich Kinder und kaum Soldaten.

Langsam wurde die Zeit knapp. In der Ferne konnte man bereits das Donnern der Geschosse hören, welche Tod und Verwüstung mit sich brachten. Nur mit dem Allernötigsten auf einem Ochsenkarren, liessen sie Hof und Einheimische zurück und machten sich auf Richtung Süden in die Tschechoslowakei. Von dort aus hofften sie, in die Schweiz reisen zu können. Aber es war ein harter, sogar sehr harter Winter. Kalt, viel Schnee. Für eine schnelle Flucht mit Ochs und Karren, darauf zehn Flüchtende, vom Großvater bis zum Säugling, alle in der Hoffnung dem Krieg, dem Tod, dem Elend zu entfliehen, war dieser Winter zu unbarmherzig.

So kamen sie nur sehr langsam voran. Die Russen kamen immer näher. Die Grenze zur Tschechei war noch in weiter Ferne. Irgendwann gab es kein weiter. Die Russen waren schon viel zu nah. Sie mussten umkehren. Das neue Ziel hieß Berlin.

Der Hund war der Erste, der im hohen Schnee, vor Erschöpfung zurückblieb. Irgendwann, es war kurz vor einem Dorf, war auch der Ochs am Ende seiner Kraft und musste getötet werden. Hab und Gut mussten zurückgelassen werden. Neben dem was sie am Körper trugen, hatten sie fast alles verloren. Kaum zu Essen, kein Geld. Ein warmes Brötchen und 60 Pfennige im Sack wären zu diesem Zeitpunkt das Glück auf Erden gewesen. Doch mir viel Wille und helfenden Menschen schafften sie es irgendwie nach Berlin. Sie hatten viel Glück und dieses blieb ihnen treu. Ein Arzt mit besten Beziehungen, ermöglichte es ihnen, mit dem letzten Zug in die Schweiz zu reisen. Sie schafften es alle. Der Zusammenhalt in der Familie hat bis in die heutige Zeit bestand.

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es ist DER Schokomuffin. Unscheinbar aber DER beste Schokomuffin. man muss ihn fühlen, schmecken und sehen. Dann weiss man wovon ich rede :wink:

Interessante Interpretation des vorgegebene Themas!
:slightly_smiling_face:

Oh ja, Spinat mit Kartoffeln und Spiegelei - geil!
(Ups, darf man solche Worte hier schreiben? :wink:)
Und natürlich gehören die Kartoffeln vorher zerdrückt und mit dem Spinat vermisht!
:slightly_smiling_face:
Aber das Spiegelei zerpflückt und untergehoben?
:open_mouth:
Da kann man ja gleich Rührei dazu machen!
(Okay, nicht ganz…)
Nenene, das Spiegelei gehört dann oben auf, so wird da ein Schuh, äh, ein leckeres Gericht draus!
:slightly_smiling_face:

Danke für de Begriffserklärung, aber bis auf
„Knick - Wallhecke, Ackergrenze“
ist mir als Jahrzehnte langer „Hannoveraner“ alles bekannt gewesen…
:wink:

Amiga

Zerlumpt kauerte er, zwischen zwei hübsch verzierten Holzbänken, die eigens für Touristen hierhergestellt worden waren, auf den heissen Steinplatten am Boden. Seine gebräunten mageren Arme umschlangen eine Plastiktüte und drückten diese fest gegen seinen Bauch.

Die riesigen schwarzen Augen im ausgezehrten Gesicht folgten jeder meiner Bewegungen. Jedes Mal wenn ich mein Sandwich zum Mund führte, sah ich wie der Junge krampfhaft schluckte. Sein Blick hing an meinem Brötchen als hinge sein Leben davon ab.
Ein heisser Wind wehte vom Meer her und brachte den Geruch von Gebratenem, Tang und Salz mit sich. In den Hütten am Strand bereiteten die Händler bereits das Abendessen vor.

Eine der schmutzstarrenden Hände löste sich vom Plastiksack und streckte sich zaghaft in meine Richtung: „Un peso Amiga, por favor!“

Ich schüttelte den Kopf. Mit dem Geld würde er sich wieder Leim zum Schnüffeln kaufen, damit er im Rausch den Hunger nicht mehr spüren musste.

Enttäuscht liess er seine Hand langsam sinken und drückte sie wieder gegen seinen Bauch.

Ich stand von der Bank auf, schaute ihn an und bedeute ihm mir zu folgen. Verunsichert und misstrauisch erhob er sich. Da sah ich zum ersten Mal, wie schmächtig und klein der Junge wirklich war. Sein zerrissenes T-Shirt hing wie ein Lumpen an ihm und seine dünnen Beinchen staken wie Stelzen aus den Hosenstössen seiner Shorts hervor.

Schweigend gingen wir nebeneinander her zum Strand.

Bei der ersten Strandbar brutzelten verschiedenste Fleischstücke auf dem Grill. Das Fett tropfte ins Feuer und liess kleine Funkenfontänen aufsteigen. Es zischte. Fein duftendes Gebäck und frische Früchte standen in bunten Körben auf dem Tresen. Sehnsüchtig strichen die Augen des Jungen über die Köstlichkeiten. Unbewusst drückte er seine Hände mit der Plastiktüte fester gegen seinen Bauch.

Ich setzte mich auf einen der Barhocker und forderte ihn auf, sich neben mich zu setzen. Ungläubig wanderte sein Blick zwischen mir und dem leeren Barhocker hin und her. Dann schaute er an sich hinunter und auf die Frau, die hinter dem Tresen stand. Sie kannte mich bereits, ich war nicht zum ersten Mal in Begleitung hier. Leicht missbilligend nickte sie ihm zu.

Etwas unbeholfen kletterte er auf den hohen Hocker und blieb mit gekrümmtem Rücken, hängenden Schultern und gesenktem Blick sitzen. „Ich will nichts dafür, such dir aus, was du möchtest und was du essen magst.“ Als ihm bewusst wurde was ich da gesagt hatte, blickte er mir das erste Mal direkt in die Augen. Diesmal funkelten seine und glänzten wie Obsidian. „Wirklich?!“

Noch nie zuvor und auch später nie wieder, habe ich jemanden gesehen, der sich so über eine Mahlzeit gefreut und diese so von Herzen genossen hat.

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Klingt aber wirklich nicht lecker…
:nauseated_face:

Da bekomme ich direkt auch mal wieder Lust Dampfnudeln zu machen :slight_smile:

Vielen Dank! Ich freue mich sehr über Dein Lob!

Hallo, ja hier ist der richtige Ort. LG Verena

Vielen Dank für Dein Lob!

Sehr kurz, aber intensiv und eindringlich. Nur das Ende mit der Runde um den Pudding hat nicht ganz zum Text gepasst.

Mir ging es erst auch so. Dann hat es irgendwie geklappt, aber ich weiß nicht wie… und warum… und was ich gemacht habe…