Zuerst streckte ein schwarzer Käfer den Kopf aus meinem Essen heraus. Nur eine Sekunde später sah man nicht nur ihn als Ganzes, sondern auch fünf weitere. Die Farben reichten von Rot bis Grün und über Orange. Immer mehr kamen unter den Spaghetti hervor. Mein Herz blieb stehen, mein Gesicht war vor Ekel zu einer Grimasse verzogen, die für jemand anderes ganz sicher als witzig befunden worden wäre. Ich hob den Kopf und sah entsetzt zu meinen Eltern, bei denen ebenfalls hunderte Käfer von ihren Tellern auf den Holztisch purzelten. Quirlig krabbelten sie da kreuz und quer. Doch als würden es meine Eltern nicht bemerken, aßen sie Gabel für Gabel, von denen ebenfalls Käfer zurück auf den Teller fielen.
Ein angsterfüllter Schrei drang aus meiner Kehle, als einige auf meinem Schoß fielen und sich einen Weg über meine Hose suchten. Hektisch wedelte ich mit meinen Händen herum, um sie von mir hinunter zu schubsen.
Mein Blick glitt wieder zurück auf meinen Teller. Der nächste Schrei blieb mir im Hals stecken. Mit weit aufgerissenen Augen, starrte ich auf die sich bewegenden Nudeln. Wie Würmer schlängelten sie sich über die Soße und verteilten am Tisch rote Spuren. Als ich plötzlich etwas an meinem offen stehendem Mund kitzeln spürte, schlug ich so heftig um mich, dass ich mitsamt dem Stuhl rückwärts kippte.
Der Knall des Stuhls hallte noch in meinen Ohren nach, als ich aufrecht im Bett saß und mir die Seele aus dem Leib schrie.
Trotz dem Knurren meines Magens bekam ich beim Frühstück keinen Bissen hinunter. Der Schreck saß noch nach Stunden tief und ließ meine Augen nervös über das Essen huschen.
»Brauchst du für das Abendessen heute etwas eingekauft, Schatz?«, fragte Papa und sah Mama an.
Diese schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe fast alles zuhause. Den Rest hole ich mir aus dem Garten.« Während sie ihren Kopf zu mir wandte, breitete sich ein diabolisches Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
Ich riss entsetzt die Augen und den Mund auf. Gleich darauf schloss ich sie wieder, rubbelte über die Lider und schlug sie wieder auf. Irritiert hatte Mama ihre Stirn gefurcht.
»Was ist denn los, Mäuschen?«, fragte sie besorgt.
»Ich … Du … Wir … Käfer …«, stotterte ich überfordert.
»Was?« Verwirrt über mein Gestammel zog sie die Augenbrauen zusammen.
»Ich … nichts.« Ich sprang vom Esstischstuhl auf, schnappte mir meinen Ranzen und schlüpfte in die Schuhe.
»Tschüss«, rief ich über meine Schultern zurück und verließ im nächsten Augenblick stürmisch die Wohnung.
In der Schule konnte ich mich kaum konzentrieren. Immer wieder geisterten meine Gedanken zu der Antwort meiner Mama zurück. Sie brauchte noch Sachen aus dem Garten? Die grauenvollen Bilder vom Albtraum tauchten mir vor den Augen auf. Mich schüttelte es. Wenn Mama glaubte, dass ich Käfer oder Würmer aß, dann hatte sie sich geschnitten. Auf keinen Fall! Nie und nimmer!
Ich stolperte nervös zuhause aus meinen Schuhen. Der Geruch des Abendessens erfüllte die Luft und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Und doch blieb die Angst vor dem, was sie aus dem Garten geholt haben mochte. Erdbrocken zierten den Boden wie die Brotkrumen bei Hänsel und Gretel. Im Augenwinkel vernahm ich eine flinke Bewegung. Ich riss vor Schreck meinen Kopf zur Seite. Mein Albtraum war lebendig geworden. Ein grüner Käfer lief neben mir an der Wand. Mein Herz raste. Das konnte doch nicht wahr sein!
Am liebsten wollte ich mich am Absatz herumdrehen und die Wohnung schreiend verlassen, doch die kindliche Neugier ließ mich einen Fuß vor den anderen Richtung Küche setzen.
»Hi, Mäuschen. Wie war’s heute in der Schule?« Lächelnd sah sie mich an, als ich ums Eck in die Küche schielte. Vielleicht war alles harmloser, als ich es mir in Gedanken vorstellte? Doch dann krabbelte der grüne Käfer an mir vorbei und ließ meine horrormäßigen Gedanken ankurbeln. Wie rochen denn eigentlich gebratene Käfer?
»Es ging«, antwortete ich kurz und knapp. Ich wusste nicht, wie ich den Schultag bewältigt hatte, denn zum ersten Mal war der Unterricht an mir vorbei gegangen.
»Oje, so anstrengend?«
Ich nickte als Antwort, denn die Wahrheit hätte ich mich nicht sagen getraut.
»Du Ärmste. Das Essen ist gleich fertig. Wenn du willst, kannst du dich schon zum Tisch setzen.« Wieder ein Lächeln. Wollte sie mich damit hinters Licht führen?
Zögerlich ging ich zum Essplatz, der im Wohnzimmer integriert war, und ließ mich sorgenvoll auf einen Stuhl sinken. Mit aufgestützten Ellenbogen vergrub ich mit geschlossenen Augen mein Gesicht in den Handinnenflächen. Mir war kotzübel. Mein Magen rumorte. Dann hörte ich die Schritte meiner Mama. Ich merkte, wie sie neben mir stehen blieb und den Teller abstellte.
»Pass auf, es ist noch heiß«, hörte ich sie mich warnen. Der Duft, der mich bereits beim Nachhausekommen empfangen hatte, stieg mir nun ganz deutlich in die Nase. Ein Gemisch aus Würzigkeit und Frucht ließ einen Wasserfall in meiner Mundhöhle entstehen.
Auf das Schlimmste gefasst, schlug ich die Augen auf und erstarrte. Meine Mundwinkel zogen sich nach oben. Von Sekunde zu Sekunde wurde das Grinsen breiter. Die Lippen teilten sich leicht. Ein kehliges Lachen drang davon hervor, das mich schüttelte. Tränen rollten mir aus den Augenwinkeln über meine Wangen. Mit dem Handrücken fuhr ich mir über die feuchten Spuren, griff nach dem Besteck und rollte etwas von dem Essen auf die Gabel. Voller Vorfreude schob ich mir die Gabel in den Mund und schloss genüsslich die Augen. Eine Nudel hing ein Stück aus dem Mund, die ich schlürfend hineinzog. Eine Geschmacksexplosion entfachte in meinem Gaumen. Das Salz des Parmesans stellte sich in den Vordergrund, doch gleich danach kam die Süße. Die fruchtige Note des Gemüses stieß aber schnell alles andere zur Seite. Die Kräuter gaben die typische Note für dieses Essen. Ich schluckte, öffnete die Augen und rollte mir die nächsten Nudeln von meinem Leibgericht auf die Gabel. Spaghetti Bolognese mit frischen Stücken von Karotten, Tomaten und Zucchini aus dem Garten. Lecker!