Weil es gerade so schön zum Thema passt: Ein gerade geschriebenes Kapitel aus meiner unveröffentlichten Trilogie „Die Gestrandeten“:
Ein Essen wie früher
Die Jäger sind mit ihrer Beute zurück.
Wir sehen die drei langsam die Wiese zum Fluss herunterkommen. Jeder von ihnen schleppt auf dem Rücken eine große Kokoschale, die dick in Blätter gepackt ist.
El stößt einen lauten Freudenschrei aus, als er mich erkennt.
»Dev! Wo zum Berg kommst du denn her?«
Er legt das letzte Stück im Laufschritt zurück und fällt mir lachend um den Hals.
Om und Nhin kommen heran, setzen ihre Last ab und stellen sich hinter El an, um mich ebenfalls zu begrüßen.
»Das muss gefeiert werden«, ruft Om und entlässt mich aus seiner Umarmung. »Leider gibt es hier keinen Palmwein – aber dafür haben wir euch wenigstens etwas Gutes zu essen mitgebracht!«
Nhin hilft El dabei, die schwere Kokoschale von seinen Schultern zu nehmen. Ein altbekannter köstlicher Duft entsteigt dem Gefäß.
»Erdsau in Banablättern!«, sagt Nhin und schnalzt genießerisch mit der Zunge. »Extra langsam gegart.«
»Holt schon mal die Schalen raus. Ich habe mächtigen Hunger!« Om lässt sich ächzend neben uns auf der Decke nieder. »Ghar wird sicher auch gleich hier sein. Und dann bin ich schon sehr gespannt auf deine Geschichte, Dev.«
Thi verteilt Essschalen aus einem Korb, und wir machen es uns bei den Anderen bequem.
Gleich darauf hören wir das aufgeregte Gemurmel des alten Turmwärters, der zwischen den Bäumen heraneilt.
»Bin schon da, hiih, schon da! Hmmm, ja … Meine alten Beine, sie sind nicht mehr so gut wie meine Augen, nein nein, und wie meine-" – ein lautes, langgezogenes Schnüffeln – »meine Nase!«
Alle schauen ihm entgegen – und plötzlich erkennt er mich.
Er bleibt wie angewurzelt stehen.
»Nein! Nein, hiih, das ist doch …«
Er blinzelt ein paar Mal. Dann holt er tief Luft. Nach noch einem kleinen Japser atmet er wieder langsam aus und flüstert dabei: »Dev…«
Er fährt sich mit beiden Händen über die Augen. »Dev ist wieder da.«
Ich stehe auf.
Er wankt auf mich zu. Tränen laufen ihm über die Wangen, und ein leises Wimmern dringt aus seiner Kehle. »Dev …«
»Ghar!« Ein Schluchzen erstickt auch meine Stimme.
Ich drücke ihn fest an mich. »Ich freue mich so, dich wiederzusehen, Ghar.«
»Du bist wieder da«, flüstert Ghar. Er schiebt mich ein Stück weg, ohne meine Schultern loszulassen und lächelt mir ins Gesicht. »Oh, wie gut das ist, Dev, ja! Die Welt ist gerade wieder schöner geworden. Weniger traurig, hiih!«
Dann wird er plötzlich ernst. Er hebt seinen Blick zum Himmel, dann schaut er mich fragend an. »Ich habe ein fliegendes Ding gesehen«, sagt er unsicher. »Oben vom Turm aus. Es war wie ein riesengroßer Vogel ohne Flügel. Zuerst flog es ganz hoch oben unter dem Himmel. Und später dann draußen über dem Fluss. Es ist dort gelandet, glaube ich, und eine Weile später wieder davongeflogen. Und vorhin gerade kam es wieder zurück, an die gleiche Stelle.«
Zum ersten Mal seit ich hier bin, denke ich wieder an die Anderen, mit denen ich hergekommen bin. Ob sie nach mir suchen?
Ghar dreht den Kopf zur Seite, schaut mir dabei aber noch immer in die Augen.
»Hat dich dieser Vogel hergetragen, Dev?«, fragt er flüsternd. »Und die andern…, die kleinen – reden die kleinen Vögel auch zu dir?«
Ich nicke. »Ja, Ghar, ich kann sie hören und sehen. So wie Khi und …«
Ich drücke fest seine Arme und schaue ihm mit gesenktem Kopf in die Augen. »Ich habe Mha zurückgebracht, Ghar«, sage ich gepresst. »Mha ist wieder da!«
Ghar kiekst. »Mha? Hiih.«
Er schüttelt den Kopf.
»Mha…«, wiederholt er ein paarmal, murmelnd, als würde er in seinem Geist nach Erinnerungen kramen.
Jetzt erhebt sich Om wieder. Er kommt zu Ghar und mir und legt seine Hände auf unsere Schultern. »Kommt ihr beiden, das Essen wird kalt.«
Mit sanftem Druck schiebt er uns zu den anderen auf die Decke. »Setzt euch erst mal hin und lasst es euch schmecken. Und dann, so wie es der Brauch ist: nach einem guten Mahl ist die beste Zeit, um Geschichten zu erzählen.«
Der dicke Stampf aus gekochten Schweinefleisch, Wurzeln und Kräutern aus den Kokoschalen scheint mir ein bisschen primitiv nach all den kulinarischen Erfahrungen und Genüssen, die Deepak und Chan mir in der letzten Zeit beschert haben. Doch als ich den ersten Bissen nehme, überrascht mich eine warme Welle aus Wiedererkennen: der vertraute Geschmack breitet sich wohlig in meinem Mund aus. Ich schlucke, und mit dem sättigenden Gefühl in meinem Bauch kommen plötzlich alte Erinnerungen an Erlebnisse aus der Kindheit… An Mha und Pa, wie wir zuhause auf der Terrasse sitzen und das essen, was wir immer essen, was wir gepflückt und im Wald oder auf dem Berg gejagt haben, was gegart wurde von der Hitze in unserem Boden… Wurzeln aus der warmen Erde; Blätter, von Bäumen und Sträuchern, benetzt vom kühlen Regen, manchmal süß, manchmal salzig; Früchte, Nüsse, Pilze, Fleisch… Wir trinken laues Wasser, geschöpft aus dem Fluss, oder aufgefangen aus den Wolken, mit Trichtern aus Banablättern und gesammelt in den Schalen der großen Koko’s… Alles, was wir brauchen ist rundherum um uns… Wir brauchen es uns nur zu nehmen, ganz einfach…
Kein System, kein Netz, kein COM… Wozu waren diese Dinge dort Oben noch mal gut? Und wie ist es so weit gekommen, dass sie dort so wichtig wurden?
Für einen Augenblick verstehe ich sogar Adam und seinen Wunsch, das alles loszuwerden und hinter sich zu lassen. Aber… er hat es nicht hinter sich gelassen. Nein – wir haben es mit hierher gebracht!
»Schmeckt’s dir nicht, Dev?« Thi schaut mich besorgt an, weil ich aufgehört habe zu essen und stattdessen in meine halbvolle Schale starre.
»Doch.« Ich schaue sie an und lächle mit gefurchter Stirn. »Doch. Das ist das Beste, was ich seit langem gegessen habe!«
Seltsam. Das Gleiche habe ich gedacht, als mir Chan zum ersten Mal etwas gekocht hat, damals im Wrack der alten U-DYS… Gebratener Reis – ein Gericht, so fremdartig und so köstlich, dass es nichts glich, was ich jemals zuvor gegessen hatte.
»Zuhause schmeckt’s doch am besten, stimmt’s?«, sagt Om mit vollem Mund und lacht.
»Wenn wir doch nur zuhause wären…«, seufzt Thi. »Was soll nur aus uns werden?«
»Aber hier haben wir es doch auch nicht schlecht, oder?« El wechselt ein verliebtes Lächeln mit Nhin. »Hier ist es sicher; es gibt Wasser und Essen; und wir können zusehen, wie es draussen regnet, ohne nass zu werden…«
»Ist schon schräg hier«, sagt Nhin kauend. »Aber ich kenne schlimmere Gegenden. Den Rand zum Beispiel…«
»Mir fehlt das Meer und die Fische«, sagt Thi, »und meine Küche; und unsere Nachbarn, um mal ein Schwätzchen zu halten. Die Aussicht…« Sie zeigt einmal im Kreis zu der gezackten Linie aus Türmen, die uns umgibt. »Hier ist alles so… anders.«
»Jaja«, sagt Ghar. Er leckt sich Finger und Lippen ab und seufzt genüsslich. »Wir sind hier näher bei den alten Göttern, hiih. An diesem Ort nahm wohl alles seinen Anfang, vor sehr langer Zeit, ja… Keiner weiß mehr, wer sie waren, die Uralten Alten, neinnein. Und keiner, wo sie jetzt sind…«
»Im finsteren kalten Reich über dem Berg…«, sagt Om, halb feierlich, wie beim Erzählen einer der alten Geschichten, halb unsicher und mit einem fragenden Blick zu mir.
»Sie schlafen.«
Khi hebt ihren Blick zu den Türmen.
»Die Vögel erzählen es. Dass die Götter schlafen und davon träumen, in den Himmel zurückzukehren.«