Waidmannsdank
„Hey Papa, alles in Ordnung?“ Langsam öffne ich die schwere alte Tür zum Bad meiner Großmutter. Drinnen steht mein Vater. Er hat ein Messer in der Hand. Sieht ziemlich fies und scharf aus. Seine Gesichtsfarbe gleicht dem nach unserer ersten (und einzigen) gemeinsamen Achterbahnfahrt. Will heißen, kreidebleich.
Ich betrete das Badezimmer und schließe langsam die Tür hinter mir. Erst jetzt scheint er zu realisieren das ich überhaupt anwesend. „Na Kumpel“ antwortet er mit leiser, ruhiger Stimme, „wie geht’s“?
„Ganz gut“ antworte ich. „Und selbst.“ Er leckt sich langsam über die Lippen. „Hach weißt du“ antwortet er, „gerade nicht so toll.“ Dann zeigt er mit dem Messer Richtung Tür. „Aber immer noch besser als dem.“
Erst jetzt bemerke ich, dass sich an der Rückseite der Tür etwas befindet. Und auf einmal wird mir auch der Grund für die schlechte Verfassung meines Vaters klar. An die Tür genagelt hängt ein Feldhase. Ein ziemlich großer Bursche. Glaube ich. Tatsächlich habe ich keine Ahnung, wie groß Feldhasen so werden, aber der hier wirkt ziemlich beachtlich.
Mir ist jetzt klar, was hier gleich passieren soll, und ehrlich gesagt kann ich es nicht glauben. Mein Vater soll diesem Tier das Fell abziehen? Mein Vater, der nach einem Wolkenbruch Regenwürmer im Garten sammelt und auf dem Kompost trägt (trägt, nicht wirft)? Mein Vater, der bei den OP Szenen in Emergency Room regelmäßig wegschauen muss?
Dieser Mann?
Zögerlich sage ich „ich wusste gar nicht, das du weißt wie man Hasen das Fell abzieht.“ Er schaut das Messer in seiner Hand an. „Eigentlich“ beginnt er „heißt das abbalgen. Jägersprache. Und ja, ich kann das. Dein Großvater hat es mir vor Ewigkeiten gezeigt. Ich hasse es nur.“
Einen Moment schweigen wir uns an. Dann erinnere ich mich an den Grund meiner Anwesenheit. „Oma lässt fragen wie lange es noch dauert. Die Soße ist quasi fertig. Fehlt nur noch das Fleisch.“
Papa starrt den Kadaver an. Er greift zu der Flasche Bier auf dem Waschbecken Rand und nimmt einen langen Schluck. Als er fertig ist meint er „sag es dauert noch etwa 15 Minuten.“
Ich nicke wortlos, öffne die Tür (nicht ohne einen letzten Blick zwischen Faszination und Ekel auf den Hasen zu werfen) und schließe sie hinter mir wieder. Als ich im Gang stehe, glaube ich, aus dem Bad Würgegeräusche zu hören. Könnte allerdings auch Einbildung sein.
Eine halbe Stunde später, meine Mutter und meine Oma werfen sich gegenseitig kleine Gemeinheiten zu während ich intensiv auf meinen Gameboy starre, kommt mein Vater in die Küche und legt den enthäuteten Hasen auf den Küchentisch. Ich überlege, ob ich ihn loben oder lieber ruhig sein soll. Meine Großmutter nimmt mir die Entscheidung ab. „Was hat denn das so lange gedauert?“ Keift sie ihn an. „Hier ist alles längst fertig, und du zauderst wegen dem Vieh herum. Dein Vater würde sich schämen wenn er das sehen müsste“. Einen Moment starrt Papa Oma wortlos an, dann schmeißt er das Messer in die Spüle, geht zum Kühlschrank, nimmt sich noch ein Bier und geht raus.
Eine Stunde später wird aufgetischt. Hase in Rotweinsoße mit Klößen. Die Soße schmeckt unglaublich bitter. Das liegt daran das, meine Oma Alkohol in der Küche für so selbstverständlich hält wie andere Leute Salz und Pfeffer. Den Rotwein kippt sie bei der Bratensoße immer ganz zum Schluss rein. Als meine Mama einmal nachfragt, warum sie das nicht vorher macht, um den Geschmack zu erhalten, schaut meine Oma sie an, als hätte sie gefragt ob es zum Nachtisch Sandkuchen gäbe. „Na damit der Alkohol nicht verkocht“ antwortete sie.
Das ist übrigens auch der Grund, warum ich immer einen Extranachtisch bekomme. Bei Kuchen aus dem Wodka oder Rum heraus tropft hat meine Mutter die Grenze gezogen.
Ich kaue lustlos vor mich hin, in der Hoffnung, der nicht leerer werdende Teller möge sich durch göttliche Intervention mit Pizza füllen. Plötzlich durchfährt ein stechender Schmerz wie ein Blitz meine Zähne. Oh Gott tut das weh! Was ist das? So schlimm war es nicht mal, als ich versucht habe, mit einem offenen Zahnhals einen Amerikaner zu essen.
Ich lasse einen Schreier fahren und halte meine Wange. Alle lassen das Besteck fallen und schauen mich mit aufgerissenen Augen an. Meine Mutter schaltet sofort auf Alarmbereitschaft und befiehlt ruhig, aber bestimmt „guck mich mal an. Wo tut es es weh? Was ist passiert?“
Plötzlich meine ich die Ursache gefunden zu haben. Ich halte ihn mit der Zunge fest während meine Finger, aufs schärfste darauf bedacht nicht mit dem verletzten Zahn in Kontakt zu kommen, versuchen das Objekt aus meiner Mundhöhle zu fischen. Oma ist das ganze Theater offensichtlich zuwider.
Ich bekomme den Übeltäter zu fassen und lasse ihn auf den Teller fallen. Eine kleine Metallkugel. Seltsam, denke ich mir. Wie kommt die ins Essen?
Meine Mutter fährt hoch „Eine Schrotkugel! Eine verdammte Schrotkugel! Mir reichts, das war das letzte mal das wir irgendwelchen im Wald geschossenen Mist gegessen haben! Was wenn die Wurzel abstirbt? So eine Scheiße!“
Meine Großmutter winkt ab. „Ach was. So was hatten wir früher andauernd. Der Junge stellt sich nur ein bisschen an. Gebt ihm einen Schnapps das er heute ruhig schläft, morgen könnt ihr dann zum Zahnarzt wenn ihr unbedingt wollt.“
Wortlos packt meine Mutter mich am Arm und zieht mich hinter sich her aus der Wohnung. Mein Vater verabschiedet sich schnell und folgt uns.
Ich hatte Recht, denke ich mir auf der Heimfahrt. Wer hat bei einer Pizza schon mal auf eine Schrotkugel gebissen?