Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Dankeschön, das freut mich!

Danke Elisabeth. Das freut mich sehr.
„Tante“ Grete könnte eine Freundin der Oma sein, die unten im Haus wohnte. grins.

Über Geschmacksnerven, angesengte Bärte und Schmalzmus
Ich habe gelesen, dass es drei Fähigkeitsstufen im Schmecken gibt: Allesesser, Unkomplizierte und Gourmets. Wie bei allen vorteilhaften Eigenschaften des Menschen ist auch die des Schmeckens gerecht verteilt: Jeder glaubt, er habe genug davon – das heisst in unserem Fall, fast jeder Mensch hält sich für einen Gourmet. Objektiv betrachtet, ist es aber durchaus einfach, eine den drei Fähigkeitsstufen entsprechende Einteilung vorzunehmen. Allesesser können sich von Buttermilch und Cornflakes ernähren; einen ganzen Sommer lang, wenn’s sein muss. Es ist Ihnen egal, ob das Hafermus angebrannt oder die Polenta versalzen ist. Sie schmecken nämlich keinen Unterschied.
Die Unkomplizierten erkennen zwar, dass etwas nicht wirklich stimmt, doch sind sie darüber keineswegs unglücklich, denn mit einer gehörigen Portion Aromat oder Maggi wird alles zum Lieblingsessen.
Wir Gourmets hingegen werden bereits als kleine Kinder kulinarisch gebeutelt. Ich erinnere mich an eine Ovomaltine, die meine Mutter aus Mangel an Milch mit Wasser angerührt hatte, und die ich trinken musste, weil man nichts verkommen lässt. Ich habe den ganzen Nachmittag dafür gebraucht und erst, als mir meine grosse Schwester aus Mitleid den Tipp gab, mir die Nase zuzuhalten und es dann einfach herunterzukippen, wurde ich von meinem Leiden erlöst. Nur für diesen Tag allerdings, denn die Fischstäbchen auf unserem Tisch waren chronisch Minibriketts und nicht einmal mit einer dicken Mayonnaise-Wurst obendrauf geniessbar. Ganz zu schweigen von den Fleischbrocken, die ich nach minutenlangem Kauen immer noch nicht schlucken konnte und die nicht einmal der Hund fressen wollte, dem ich sie unter den Tisch schmuggelte.
Es gab aber auch Speisen, die ich bereits als Kind heiss liebte: Blutwurst mit Salzkartoffeln beispielsweise oder Tomatenspaghetti. Ein regelrechtes Fest war es für mich, wenn Käsefondue auf dem Speiseplan stand. Wer diese typisch schweizerische Speise kennt, weiss, dass hierfür ein sogenanntes Caquelon auf einem Rechaud mit Spiritusbrenner steht. In dem Caquelon blubbert die Käsemischung, wohinein alle ihre auf extralange, dreizackige Gabeln gespiessten Brotbrocken eintauchen und sie über dem Caquelon einige Male drehen, um den herabtriefenden Käsefaden aufzurollen. Dann bläst jeder den heissen Brot-Käse-Würfel an, um ihn so weit abzukühlen, dass er in den Mund geschoben werden kann, ohne Verbrühungen zu verursachen.
Als wir vier Kinder noch klein waren, sassen wir beim Essen paarweise übers Eck unseren Eltern gegenüber auf einer Bank. Beim Fondue-Essen traf unser Gepuste zum Abkühlen unserer Brot-Käse-Klumpen genau auf die Flamme des Spiritusbrenners. So verursachten wir nicht nur einmal eine Stichflamme, die unseres Vaters Vollbart ansengte und stellenweise verschmürzelte. Darüber regte er sich jeweils fürchterlich auf, denn sein Bart war sein ganzer Stolz. Zum Glück musste auch meine Mutter darüber lachen, wenn er wie das Rumpelstilzchen neben dem Esstisch hüpfte und mit der Serviette auf seinen Bart einschlug.
Schmalzmus war weit weniger gefährlich. Es handelt sich dabei um ein Gericht, das unser Nani uns hie und da am Mittag auftischte – Nani ist die Bezeichnung für die Grossmutter bei den Walsern in Graubünden. Man isst Schmalzmus genau wie das Käsefondue gemeinsam aus einer Pfanne. Eine Bratpfanne um genau zu sein, in welcher Mehl, Butter, etwas Milch und wenig Salz so lange gerührt wird, bis ein bräunliches Mus entstanden ist. Die Pfanne wird auf den Tisch gestellt und jeder beginnt auf seiner Seite, indem man nach Belieben Zucker draufstreut und Löffel für Löffel aussticht. Obwohl dies ein Gericht war, das wir alle gerne assen, wundert es mich nicht, dass ich seit diesen Tagen in den Siebzigern nie mehr davon gehört habe.
Als Kind wurde ich immer als heikel taxiert, weil ich vieles nicht gerne ass. Ging es Euch ähnlich? Dann seid Ihr auch Gourmets und habt im Gegenzug die Fähigkeit, wahren Genuss als solchen zu erkennen und zu schätzen.

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Omas Kuchen

Es ist ein warmer Tag Mitte September.
Ich bin auf dem Weg zu Omas Geburtstag. Die Scheiben von meinem roten Smart habe ich herunter gelassen. So weht ein lauer Wind durch das kleine Auto, der den satten Geruch gemähter Felder durch die Lüfte trägt. Für mich hat dieser Duft schon immer das Ende des Sommers angekündigt. Bald würde es wieder kälter werden.

In dem kleinen Kofferraum des Smarts liegt ein bunter Blumenstrauß in herbstlichen, kräftigen Farbtönen. In der Mitte habe ich eine leuchtend gelbe Sonnenblume einbinden lassen. Oma liebt die Farben des Herbsts. Sie sagt immer: „Die leuchtenden Farben machen es uns leichter, den Sommer zu verabschieden. Wir sollten nicht traurig sein, dass der Sommer geht. Wir sollten uns freuen, welch schöne, intensive Farben uns der Herbst schenkt. Außerdem geht es im Leben wieder gemütlicher zu. Die Menschen verbringen mehr Zeit zusammen. Das ist etwas Gutes.“ Ihre positive Einstellung hat sie durch ein ereignisreiches Leben getragen. Ich bin froh, dass sie bis heute, zu ihrem 82. Geburtstag, so lebensfroh geblieben ist.

Omas freudiges Gesicht ist das Erste, was ich sehe, als ich bei meinem Elternhaus vorfahre. Munter ruft sie von der Haustür: „Hallo mein Kind! Schön, dass du da bist! Komm dann rein! Ich muss nach dem Kaffee sehen!“
Langsam steige ich aus dem Auto und strecke mich nach der Fahrt in der warmen Sonne aus. Nach Hause kommen hat seine eigene Form der Geborgenheit. Auch, wenn ich selbst schon 42 bin, ja unsere Oma wurde früh damit überrascht, eine zu werden, bin ich doch immer noch „das Kind“. Manchmal hat der Gedanke, dass darauf Verlass ist, egal was im Leben passiert, etwas Tröstliches.

Vorsichtig hole ich den Blumenstrauß aus dem Kofferraum und gehe rüber zur Haustür, die Oma für mich offengelassen hat. Auf dem Gehweg rieche ich das schwere, volle Aroma von frisch gebrühtem Kaffee. Ein leises Gefühl der Vorfreude auf Omas Kuchen steigt in mir auf. Nachdem ich die Tür geschlossen habe, finde ich Oma im Untergeschoß. Im Esszimmer ist sie mit dem Herrichten der Kaffeetafel beschäftigt. Ich gratuliere und übergebe ihr den Blumenstrauß. Ihre blauen Augen strahlen. Versonnen atmet sie den Duft der Blumen ein: „Danke dir, Kind. So ein schöner Strauß. Ich werde gleiche eine passende Vase suchen.“ Und schon verlässt sie auf immer noch flinken Füßen den Raum, um oben in der Küche nach der Vase zu suchen. „Aber Oma, das kann ich doch für dich machen.“, biete ich an. „Du weißt ja nicht, welche Vase ich haben will.“, sie zwinkert verschmitzt. „Was kann dir abnehmen, Oma?“ „Ach Kind, wenn ich mal nicht mehr kann, dann kannst du mir alles abnehmen. Solange ich aber noch kann, da seid ihr meine Gäste. Ihr arbeitet alle so fleißig, da sollt ihr es bei mir schön haben und auch mal nicht arbeiten.“ So ist unsere Oma. Sie will gebraucht werden und uns eine Freude machen, solange sie es kann. Sind wir glücklich, ist sie es auch. „Helfen könnt ihr mir alle, wenn ich alt bin.“, und dann lacht sie vergnügt.
Die Kaffeetafel ist mit einer blütenweißen Tischdecke überzogen. Ihr liebstes Porzellangeschirr mit dem Blumenmuster steht darauf. Den Kuchen hat sie mittig platziert. Es klingelt wieder und diesmal ist es Papa mit seiner Lebensgefährtin und meinem Bruder. Lachen und Geplapper dringt von oben durch das Treppenhaus, als die Neuankömmlinge Oma gratulieren. Schritte auf der Treppe kündigen an, dass alle auf dem Weg nach unten sind. Papa hat die Vase mit dem Blumenstrauß in der Hand. Oma hat ihm genaue Anweisungen gegeben, wo der Strauß stehen soll. Und so findet auch er einen Platz auf der Tafel: „Damit ihn alle sehen.“, wie Oma zufrieden sagt. Hinter Papa folgt Opa mit dem duftenden Kaffee.
Wir setzen uns an Omas schön gedeckte Kaffeetafel.
„Schwarzwälder“ nennt Oma ihren Kuchen, den sie zu allen Anlässen backt. Eine richtige „Schwarzwälder Torte“ ist es allerdings nicht.
Omas Schwarzwälder hat einen Boden aus Rührteig, der sehr schokoladig schmeckt mit einem Hauch von Zimt. Auf diesem Boden verteilt sie, nachdem er gebacken wurde, die aufgekochten Kirschen. Sie krönt diesen Kuchen immer mit einer Schicht aus Schlagsahne, die sie locker aufschlägt. Der Vanillinzucker darf nicht fehlen. Er sorgt für ein feines Aroma in der Sahne. Zu guter Letzt streut Oma Schockoraspel über ihren Kuchen.
Wir haben uns etwas länger nicht gesehen, erzählen was im Leben gerade los ist und lachen über Anekdoten. Was passt dazu besser, als Omas „Schwarzwälder“? Auch wenn es keine richtige
Schwarzwälder ist, wir alle lieben diesen Kuchen. Oma strahlt glücklich, als zum Ende des Kaffeetrinkens kein Stück mehr übrig ist.
So unterschiedlich wir sind: Ihr Kuchen bringt uns immer zusammen. Und wird für uns ein Stück „zu Hause“ bleiben.

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Kalorien, Teufels Werk oder Gottes Beitrag

THEORIE

Kalorie ist eine veraltete Maßeinheit der Energie, insbesondere der Wärmemenge. Eine Kalorie ist nach einer gängigen Definition die Wärmemenge, die erforderlich ist, um (bei bestimmten Bedingungen) 1 Gramm Wasser um 1 Grad Celsius zu erwärmen.

PRAXIS

Wenn du als Mädchen das Licht der Welt erblickst, hat diese rein wissenschaftliche Definition aber noch andere, ungeahnte Auswirkungen auf dein Leben. Sie bestimmt, ob du eine 36er, Konfektionsgröße trägst, oder dich mit Müh und Not in eine 42 zwängst. Sie hat die Kraft, dein Selbstbewusstsein nachhaltig zu verwirren, dir ein vollkommen gestörtes Essverhalten anzuerziehen, und das was dich ausmacht auf Kilos und Zentimeter zu beschränken. Statt ohne schlechtes Gewissen superleckeres, genial duftendes Essen, bei dessen Anblick dir das Wasser im Mund zusammenläuft, zu genießen, steht plötzlich ein fieses Monster an deiner Seite, um dir jeden Gaumenschmaus zu verleiden. Dieses Biest zwingt dich Essen zuerst argwöhnisch auf Kalorien zu untersuchen, bevor du es reuelos zu dir nehmen darfst.
Für mich war es immer schon unverständlich, was eine Schaumrolle, eine Tafel Schokolade, ein knuspriges Hendlhaxerl oder flaumige Marillenknödel mit der 1 Grad Celsius Erwärmung zutun haben sollte. Als Kind war meine Beziehung zum Essen noch ganz natürlich, ich folgte dem Grundsatz: Iss wenn du Hunger hast.

Ich war ein Omakind, meine Mama starb zu früh und mein Vater war mit einer lebendigen 4-Jährigen vollkommen überfordert. Also kam ich in die Obhut meiner heiß geliebten Oma, von mir liebevoll Ömchen genannt. Sie nahm mich in ihre mütterlichen Arme, trocknete meine Tränen, zog mich an den wogenden Busen und begann mich zu bekochen. In ihrer Welt hielt gutes Essen Leib und Seele zusammen und heilte jeden Kummer. Ömchen hatte böhmische Vorfahren und das schlug sich auch in ihrer Kochkunst nieder. Ihre Knödel, Palatschinken, Powideltascherln oder Buchteln mit Vanillesauce, waren zum Anbeten, der Apfelstrudel, der Nusskuchen und die Vanillekipferln ein Gedicht. Damals war ich noch ein Allesesser, Schweinsbraten, von dem ich heimlich die knusprige Schwarte stibitzte, landete genauso in meinem Magen wie Grenadiermarsch, Paprikahendl, Gulasch mit Nockerl, Linsen mit Semmelknödeln, Schwammerlgulasch oder ein Ganserl mit Apfel Maroni Rotkraut mit Erdäpfelknödeln und Bratensaft. Mit ganz viel Saft und noch mehr Knödeln! Eigentlich war ich schon immer eher der Beilagenesser, Fleisch musste nicht sein, aber dummerweise gibt es ohne Fleisch keinen Saft, also verdrängte ich mein schlechtes Gewissen, dass Tiere für mich sterben mussten, und genoss Omas Küche. Erst Jahrzehnte später strich ich Fleisch ersatzlos von meinem Speisezettel und begriff, dass ich meinen Genuss nicht durch den Tod eines Tieres erkaufen wollte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Als kleines Mäderl war ich fest gebaut, nicht dick, aber auch keine Elfe mit zarten Knochen und feinen Gliedern. Meine beste Freundin, die Ingrid, war um ein Jahr älter und auch kein Hungerhaken, wir waren gesunde, lebendige, aktive Kinder, die lieber in der Prater-Hauptallee herumstreunten, als sich mit „Mädchendingen“ zu beschäftigen. Im Sommer 1972 waren wir Teil einer lustigen Gruppe, Mädchen und Buben gemischt im Alter von 9 bis 12 Jahren, die alles miteinander teilten, die irgendwie trotz der Geschlechtsunterschiede „gleich“ waren. Es war ein heisser Sommer und wir lungerten faul in unserem Bandenhauptquartier herum, als die „Neue“ zu uns stieß. Ich erinnere mich noch gut an den Tag und sogar mir blieb der Geleefrosch fast im Hals stecken, als sie mit Max´s Schwester Andrea, den Clubraum betrat. Sie hieß Lucia und war zum Anbeten schön, zumindest sahen das unsere Jungs so. Langes, dunkles Haar, das nicht wie bei uns zu Zöpfen geflochten war, Augen so groß wie Bambi, ein schlanker, biegsamer Körper, der die Schwelle vom Mädchen zur Frau bereits überschritten hatte – kurz gesagt – sie war perfekt. Der ehemalige Geräteschuppen, der von uns als Treffpunkt benutzt wurde, war nichts Besonderes, wir hatten ihn ein bisserl verschönert, lose Bretter angenagelt, ausgediente Fauteuils und eine alte Bettbank hineingestellt, auf der sich Decken, Polster und Comics, mit Apfelbutzen und in Stanniolpapier gewickelter Schokolade den Platz teilten. Uns hatte das nie gestört, doch als Lucia erschien (anders konnte man das nicht nennen) sprang der fesche Max sofort auf um Platz zu machen. Michael, sein bester Freund, schüttelte eifrig imaginäre Brösel einer Decke aus und legte sie für Lucia auf die verschlissene Bank. Sogar Erwin, der sich eigentlich nie um etwas anderes kümmerte als um Fußball und umSammelbilder der Austria-Mannschaft, strich sich unauffällig die zerrauften Haare aus der Stirn, zog die Hose hoch und den Bauch ein. DAS hatten sie bei Ingrid und mir noch nie gemacht und der Grund war eindeutig Lucia. Die wunderschöne, schlanke, elfenhafte Lucia… Heute weiß ich, dass ihr sirenenhafter Auftritt den Untergang von Erdbeerschokolade, Kokosstangerl, Geleefröschen und Co einläutete, weil ich kurz den Wunsch verspürte, genauso wie Lucia angesehen und hofiert zu werden.
Mir war damals noch nicht klar, dass es zwei Kategorien Frauen gab, die Glücklichen, deren Stoffwechsel mit einem Güterwagen voll Schokolade umging, als wäre es ein Salatblatt und die Anderen. Ingrid und ich gehörten eindeutig zur zweiten Kategorie. Wir mussten eine Torte nur ansehen und schon schmiegte sie sich an Hüften oder Bauch an. Und zwar dauerhaft. Sie war gekommen, um zu bleiben.
Mit zehn Jahren war ich noch weit davon entfernt Essen argwöhnisch zu betrachten und in Kohlehydrate, Eiweiß und Fett aufzuspalten, bevor ich hineinbiss. Im Laufe der Zeit wurde mir aber klar, dass ich nicht zu den „Lucias“ dieser Welt gehörte. Ich war im Team „gute Futterverwerter“, wie meine Oma es liebevoll nannte, und die hatten es viel schwerer in Form zu bleiben als Lucia´s. Je älter ich wurde, umso mehr wuchs die Erkenntnis in mir, dass ich die Freunde meiner Kindheit - Schokolade, Mehlspeisen, Knödel und Co - nie wieder ansehen würde, ohne frustriert zu seufzen.

Es hat einige Irrungen und viele Lucias gebraucht, um mich aus diesem unnatürlichen Kaloriendiktat zu lösen. Heute weiß ich, Kalorien machen nicht dick und trennen auch keine Beziehungen, nicht sie treiben dich in den Wahnsinn, sondern du selbst, weil du dir einbildest dich in ein Kleid zu hungern, in das nur Lucias mit Leichtigkeit hineinpassen. Kalorien machen dich auch nicht liebenswürdiger, schöner, beliebter, mitfühlender, gütiger, klüger oder glücklicher, sie machen dir aber das Leben schwer, weil du ihnen diese Macht gibst.

Ich brauchte fast 40 zig Jahre um zu erkennen, dass Essen Spaß machen muss, es nichts Besseres für die Seele gibt, als Vanillekipferl nicht nur zu riechen, sondern auch zu essen. Mittlerweile hab ich verstanden, dass es genial ist, mit Freundinnen vor dem Fernseher zu sitzen, umgeben von Chips, halbleeren Pizzakartons und ganz leeren Sektgläser, um mit Baby mitzufiebern, ob sie am Ende ihren Jonny bekommt, oder Lizzie ihren versnobten Mr. Darcy erobern kann. Zu begreifen, dass Geburtstagstorten mit Schokoladencreme oder Zuckerguss nicht Teufels Werk, sondern Gottes Beitrag sind, um Anlässe zu feiern und dadurch unvergesslich zu machen, ist ein wichtiger Teil meines Lebens.

Heute, im Alter von 59 Jahren, sitze ich mit Tee und Keksen vor meinem Laptop und schreibe das alles in der Hoffnung nieder, dass ich Essen nie wieder an Kalorien und Verzicht binde, es viel mehr ein Teil von Lebensfreude und Genuss bleibt.

Bevor meine Schwammerlsuppe am Herd nun endgültig überkocht, oder das selbstgebackene Brot im Backofen zu knusprig wird, noch ein flammender Appell an alle „nicht Lucias“ dieser Welt:
Vergesst nie das Leben euch schmecken soll, lasst nicht zu, dass alte Muster es verkopfen und diktieren, denn dazu ist unsere Zeit auf Erden eindeutig zu kurz.

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schrecklich… nicht dein Schreiben, sondern Deine Erinnerung.

Ich habe heute zwei neue Wörter gelernt, die ich hoffentlich bald total lässig nebenbei in ein Gespräch einbauen kann, am liebsten über ein blubberndes, duftendes Käsefondue hinweg. Und ich habe sehr geschmunzelt über den verschmürzelten (drei neue Wörter!) Bart deines Vaters. Ich hoffe, das ist nicht schlimm.

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Haha! Ich bin auf Deiner Seite. Glücklicherweise brauchte ich nicht 40 Jahre sondern erlangte Deine Weisheit bereits nach 30 Jahren Darben. Und du gehörst zu den Gourmets, genau wie ich. Die meisten Lucias hingegen zu den Allesessern… Liebe Grüsse aus dem Schokoladenland…

Wo auch. Ich freue mich sehr darüber und auch, dass du meinen Beitrag zum Wettbewerb schon gelesen hast. Danke!

„Ich fürchte nicht den Mann, der 10.000 Kicks einmal geübt hat, aber ich fürchte mich vor dem, der einen Kick 10.000mal geübt hat“

So soll es Bruce Lee einmal gesagt haben. Was hat das mit meinem Lieblingsessen zu tun? Eine ganze Menge.

Der zehntausendfach getretene Kick meiner Großmutter, Gott hab sie selig, war:

Die Kartoffel

Ich kenne keinen Menschen der sie besser gemeistert hat, als Sie. Als jemand, die den Krieg und die Nachkriegszeit miterlebt hat, hatte sie oft keine Alternative zu ihr. Sie hat wohl irgendwann beschlossen, das Beste daraus zu machen, buchstäblich. Ob Kartoffelstampf, Bratkartoffeln, Kartoffelknödel, niemand hat sie je zu 100% so hinbekommen wie sie.

Ich erinnere mich gern daran, als Kind ab und an bei ihr in der Küche sitzen zu dürfen, wo ich ihr fasziniert bei der Zubereitung zusah. Eine Sache die mir in Erinnerung bleibt ist, wie dünn die übrig gebliebene Schale war. Auch das wohl ein Vermächtnis aus einer Zeit, in der Verschwendung, insbesondere von Essen, noch eine absolute Unverschämtheit war. Gerne erinnere ich mich auch daran mit welcher Ruhe und unbeirrbarer Konzentration sie am Werk war. Gesummt wurde dabei auch häufig und gerne.

Ihr Magnus Opus war der Kartoffelsalat. Viele in der Familie haben gefragt, wie genau sie diesen denn jetzt macht. Das Rezept ist bekannt:

Die Kartoffeln in Gemüsebrühe gekocht, für einen angenehmen Eigengeschmack
Zwiebeln, ganz fein geschnitten
Gekochte Eier, nicht mehr flüssig aber noch samtig weich
Ebenfalls sehr fein geschnittene Apfelstückchen, um der Zwiebel den Biss zu nehmen
Klein geschnittene saure Gürkchen
Mayonnaise, um alle Extreme etwas abzumildern und dem Gericht Volumen zu verleihen
Und zum Schluss noch etwas Pfeffer und Salz

Ein Löffel, auf dem alle oben genannten Zutaten einen halbwegs fairen Anteil hatten, sorgte dafür, dass man alle Geschmacksrichtungen auf einmal bekam:

Schärfe über die Zwiebel, Süße über die Äpfel, Säure über die Gurke, Salz über, nun ja, Salz. Selbst Umami ist über die, üblicherweise in Hühnerbrühe gekochten Kartoffeln, vertreten.

Es konnte einem die Tränen in die Augen treiben. Die Guten. Es gab zahlreiche Versuche das Gericht zu replizieren, aber es ist nie vollständig gelungen.

Es fehlen wohl noch ein paar Tausend Kicks.

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Danke Dir und liebe Grüße ans Schokoland retour… ich hatte ja schon zwischendurch Erkenntnisse :slight_smile: , aber ich irrte dann doch wieder auf " schlanker werden" Pfaden umher.
lg aus Österreich

Eierkuchen

Papyrus Autor kennt 19 Synonyme für diese Speise: von Eierfladen bis Plinz.
In den Geschichten weiter oben in diesem Forum kommen sie bereits vor. Und sicher sind sie nichts Besonderes. Pfannkuchen ist gewiss die gebräuchlichste Bezeichnung dafür. Doch bei uns heißen sie von jeher Eierkuchen.

Meine Mutter hat das Rezept an mich weitergegeben. Sie hat sie in einer großen Pfanne zubereitet, denn zu kleine Portionen verletzten ihre Küchen-Ehre. So ein praktisches beschichtetes Teil, wie ich es heute benutze, hätte sie gewiss mit Kusshand genommen.
Hingekriegt hat sie sie trotzdem – wie immer perfekt. „Mit Eischnee werden sie lockerer“, hat sie mir beim Aufschreiben des Rezepts diktiert. Leider sind meine Ansprüche geringer und nehme mir weniger Zeit, schließlich heißen sie nicht Ei-Schnee-Kuchen.
Die Familie liebt meine Eierkuchen trotzdem. Sie kennen sie von früher, von der Oma. Nicht nur der Körper braucht Nahrung, sondern auch die Seele, und es ist für sie eine süße Erinnerung, selbst wenn sie die Speise mit - selbstverständlich palmölfreier – Nuss-Nougat-Creme anreichern, die es früher nicht gab.
Es hat eine Weile gedauert, bis meine Eierkuchen wie Eierkuchen aussahen und nicht wie ein fehlgeschlagener Versuch aus dem 3D-Drucker. Die Familie hat die Experimentierzeit geduldig ertragen. Mittlerweile kann sich mein Werk sehen lassen.
Die Pfanne ist heiß und der Duft lockt die Hungrigen an. Alle bekommen abwechselnd einen und später noch einen und noch einen. Die Wartezeit wird mit Unterhaltungen ausgefüllt und mit Gedanken an früher. Es ist ein Ereignis.

Der Blick schweift zurück, aber auch nach vorn. Was wird später von mir bleiben, außer Erinnerungen und Bildern, die es nicht über die Kinder- oder Enkelgeneration hinaus schaffen? Die Software, die ich beruflich schreibe, wird der technische Fortschritt in wenigen Jahren mit Haut und Haaren aufgefressen haben. Meine Geschichten haben ein paar stolze Leser, aber es sind überschaubar viele.
Die Eierkuchen hingegen, die reisen gemeinsam mit den Kindern und deren Kindern in die Zukunft. Sie erinnern heute an die Oma und irgendwann an mich.
Und dadurch sind sie für mich doch etwas Besonderes.

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Wie versteinert blickte mein völlig fassungslos und tieftrauriges dreizehnjähriges Ich auf den prall gefüllten Essenstisch. Das meine Mutter kochte, kam wirklich nicht oft vor. An diesem Abend, kurz vor Weihnachten tat sie es. Sie stellte die riesige Platte auf die Mitte des alten Holztisches. Der Duft von gebratenen Fleisch lag streng in der Luft. Ich konnte ihm keinen mir bekannten Duft zuordnen. Nur die Knödel und das Rotkraut erkannte ich. Auch heute noch wird mir speiübel, wenn ich an den beißenden Geruch des Bratens denke.
Ich hatte nach einigen Tagen der Trauer endlich mal wieder Appetit und etwas Hunger und freute mich auf das Abendessen im Kreis meiner Familie. Gerade deswegen ließ mich der Anblick und die breit grinsenden, gehässigen Gesichter nach der Offenbarung erschaudern. Mein bester Freund war tot. Nach acht treuen Jahren wachte er eines morgens in seinem Offenstall nicht mehr auf. Starr durch die Winterkälte fand ich ihn eingebettet in seinem Stroh. Die Wasserschüssel war völlig zugefroren. Er ist ganz alleine und bitterkalt gestorben. Armer Schlumpfi. Mein kleines weißes Zwergkaninchen mit den schwarz umrandeten Augen und dem schwarzen Strich auf dem Rücken, war mein einziger Freund in meiner gottlosen Kindheit. Den unwürdigen Tod hatte er so nicht verdient. Mein Kleiner verdiente ein Grab, direkt neben dem Teich und der großen Tanne, bei der er gerne herum hoppelte. Ich hätte ihm ein schönes Blümchen gepflanzt und weiter mit ihm gesprochen, so wie ich es immer tat. Stattdessen landete er in der Bio Tonne. Direkt neben den stinkigen Essenresten und dem Unrat. Sie sagten sie haben ihn dort entsorgt. Wie eine alte Bananenschale oder ein paar Latschen die ausgedient hatten. Ich durfte ihn nicht beerdigen. Als ich nun auf den Küchentisch starrte und fragte was genau sie gekocht hatte, sagte meine Mutter :" Na das ist ein Hasenbraten. Das schmeckt total lecker. Das musst du unbedingt probieren". Sie kicherte dabei wie ein Schulkind. Ich verstand nicht wieso sie darüber so amüsiert zu sein schien. Ich murmelte leise… Hase? Bis mein Vater mit seinem schockierenden Satz heraus brach :„Das ist dein Hase Schlumpfi!“. Beide inkl. meinem nervigen Bruder lachten lauthals los. Mir liefen die Tränen. Ich brachte keinen weiteren Ton heraus. „Na iss schon“ sagten sie. Ich weigerte mich und ignorierte mein nagendes Hungergefühl, welches in Ekel und Übelkeit übergang. Ich stand tränenüberströmt auf und rannte zur Mülltonne in den Hof hinaus um mich davon zu überzeugen, dass mein armes Tier nicht wirklich gerade auf dem Küchentisch verspeist wurde. Ich öffnete vorsichtig den Deckel aber ich sah ihn nicht. Mein Herz raste und ich fing an zu schwitzen. Die frostige Kälte machten mir nichts aus. In der Stille und Dunkelheit des Hofes hörte man nur noch mein schluchzen. Ich konnte vor Tränen nichts mehr erkennen. Schwankend lief ich schnell ins warme Haus zurück und rannte wutentbrannt in die Wohnküche. Ich schrie meine Familie an, was ihnen einfiel mein süßes Kaninchen zu essen. Mein Vater machte sich darüber erneut lustig und kaute genüsslich auf seinem Stück Fleisch herum welches er sich vor meinen Augen in den Mund stopfte. „Hmmm, dein Schlumpfi schmeckt so lecker.“ Meine Mutter schmunzelte und meinte :" Ach komm schon, das ist natürlich nicht dein Hase. Den habe ich aus dem Supermarkt gekauft". Ich glaubte ihr kein Wort. Ich lief in mein Zimmer und weinte mich in den Schlaf. Ich weiß es bis heute nicht, was aus dem Leichnam meines geliebten Vierbeiners geworden ist. Ist er wirklich in der Tonne und auf der Mülldeponie gelandet oder in den Mägen meiner abscheulichen Familie, die mir mit diesem Abend eines neues Trauma bescherten. Die Antwort liegt irgendwo begraben.

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Ganz toll geschrieben. Ich werde den Text nochmal lesen.

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Zwischen Frühstück und Gänsebraten

„Ist es schon so weit?“
„Noch zehn Minuten.“
„Dann bleibt euch noch Zeit zum Tischdecken, Mädchen“, sagt meine Muttsch und legt mir das Besteck in die Hand.
„Ich hol‘ die Teller aus der Küche“, bietet sich meine Schwester Jule an und verschwindet in der Tür, die unser Wohnzimmer direkt mit der Küche verbindet.
„Nimm aber die Guten. Die mit dem Goldrand“, erinnert unsere Muttsch sie unnötigerweise und legt mir die Servietten auf den Esstisch. In den Weihnachtstagen besteht sie immer auf dem guten Geschirr, auf Servietten und der Sauciere.
„Hab sie schon!“, ruft Jule. Ihre Stimme klingt dabei so gedämpft, als würde sie mit dem Kopf gerade im Küchenschrank feststecken. Während ich das Besteck verteile und die Servietten falte, scheppert es bei ihr bedrohlich.
Unsere Muttsch fährt so zusammen, dass sie den Tischleuchter samt Kerzen wie eine Fahne schwenkt, gleichzeitig ruft sie: „Die guten…“
„Nichts passiert, Mamilinchen!“, besänftigt sie meine Schwester sofort.
„Zum Glück!“, rufe ich ihr zu. „Hätten die Kerzen am Leuchter noch gebrannt, hätte Mama, dank dir, gerade ein Freudenfeuer entzündet.“
„Aber Mamilinchen!“ Feixend kommt Jule aus der Küche. Auf ihrem linken Arm balanciert sie den Stapel unversehrter weißer Heiligkeiten.
„Jule“, stöhnt unsere Mutter, dann lacht sie nur noch.
Jedes Jahr schafft Jule es, ihren Pulsschlag mit irgend so einem Unsinn in die Höhe zu treiben. Jedes Jahr behält Jule die Nerven und alles im Griff. Auch heute rollt sie nur theatralisch die Augen und setzt dabei betont vorsichtig die Teller auf dem Tisch ab.
Draußen im Flur klappert der Schlüssel meines Vaters im Türschloss, die erste Tür geht auf, seine schweren Schritte nähern sich, dann streckt er seinen rabenschwarzen Schopf zur Wohnzimmertür herein. Seine Augen zwinkern uns lustig zu. Zu mir sagt er: „Hier, Lütte, unser Birnenkompott und die Pflaumen mit Zimt aus dem Keller. Soll deine Mutter entscheiden, was es heute gibt und was morgen.“
Begeistert greife ich zu, erinnere mich dabei aber reumütig an die Wochenenden im Herbst, als wir vier das ganze Obst im Garten abnehmen, putzen, schneiden und einkochen durften. War das eine Plackerei! Damals hatte ich das Gefühl, wir würden nie fertig werden. Jetzt trage ich die süßen Kostbarkeiten wie Schätze in unsere Mini- Küche, die im Angesicht der ungewöhnlichen Fülle an Lebensmitteln, die sie über die Festtage beherbergen muss, wieder einmal geschrumpft ist. Orangen, Mandarinen, Äpfel und Nüsse, sogar ein paar Bananen haben unsere Eltern für das große Fest zusammengetragen. Pulsnitzer Lebkuchen, Dresdner Stollen und kleine Marzipankugeln warten draußen auf dem Balkon, auf dem Simms hinter der Fensterscheibe, auf ihren späteren Einsatz. Muttsch besteht zwar immer darauf, dass sie kühl stehen müssen, aber hier drin ist auch kein einziges Plätzchen mehr für sie frei und in der Stube… würden sie die Weihnachtsmäuse viel zu schnell stibitzen. Genau wie die Schokokringel und Zapfen am Baum. Auf dem Herd steht die Pfanne mit den gerösteten Weißbrotwürfeln, dahinter der Topf Rotkraut, den wir gestern bereits zubereitet haben. Naja, Jule und ich hatten eher die roten Finger, meine Muttsch später die Arbeit. Der riesige Kloßtopf von unserer Urgroßmutter hat auch schon seinen Platz eingenommen, bereit für seinen ganz großen Auftritt. Daneben, im Spülbecken und auf der Anrichte, tummeln sich Teller, Tassen, Schüsseln, Schälchen, Löffel, Messer, Pfannenwender Topflappen, Geschirrhandtücher und, und, und. Im Ofen sonnt sich der Gänsebraten. Schon wieder. Er ist bereits fertig gewürzt und gefüllt und scheint sich in der Gesellschaft von roten Apfelspalten, gelben Orangenwürfeln und groben Zwiebelstücken bestens zu entwickeln. Gestern Abend war es zwischen ihnen zwar schon ganz schön hitzig zur Sache gegangen, aber nur, um herrlich duftend auf dem eisigen Balkon schockgefrostet zu werden. Das alles nur, damit meine Muttsch heute Morgen das Fett vom Bratenfond trennen konnte. Natürlich für Schmalzstullen, die es am Abend mit leckeren Grieben und sauren Gürkchen geben wird.
Nach dem Frühstück, und allen Vorbereitungen für das Essen zum 1. Weihnachtsfeiertag, ist unsere Küche ein Schlachtfeld. Aber ein sehr leckeres und köstlich duftendes. Beim Gedanken an echte Thüringer Klöße, Rotkraut und Gans erfasst mich eine ungetrübte Vorfreude und mir tropft so richtig der Zahn. Damit bin ich auch nicht allein.
„Hmm“, brummelt mein Vater hinter mir. „Das riecht wieder so fein. Das wird ein Festmahl.“
„Müsstest du nicht langsam den Fernseher anmachen, Paps?“, unterbricht Jule unsere ums Essen kreisenden Gedanken und wirft sich auf das Sofa.
Neben mir nimmt meine Muttsch ihre zierliche Hand aus dem Kloßteig und schaut prüfend auf ihre silberne Armbanduhr. „In zwei Minuten beginnt es“, läutet sie den Countdown für mich ein. Ich schiebe entschlossen die Kakaobox bis an die Wand und stelle die Einweckgläser davor. Dann schlüpfe ich hinter dem Rücken meiner Mutter aus der Küche, renne in Jules und mein Kinderzimmer, greife mir mein geliebtes Marienkäferkissen und sprinte zurück in die Stube, wo ich mich samt Kissen auf den weichen Teppich werfe. So muss ich zwar die ganze Zeit schräg hochschauen, aber näher als ich ist keiner am Geschehen. Und da erscheinen sie schon auf der Mattscheibe! Margot Ebert, die Grande Dame des DDR-Fernsehens und Heinz Quermann, der mich immer an meinen absolut geliebten und verehrten Chorleiter erinnert und dessen Humor ich einfach mag. Sie im tollen Glitzerkleid und er in Anzug und Fliege. Wie jedes Jahr. Und auch an diesem ersten Weihnachtsfeiertag vergeht die Zeit zwischen elf und ein Uhr wie im Flug. Heitere Sketche lösen wohlbekannte Weihnachtslieder und Schlager ab, die wir alle fröhlich mitsingen. Auch meine Muttsch in unserer Küche. Klassik mögen sonst nur unsere Eltern, aber Jule und ich lauschen selbst ihr andächtig. Ich bleibe wie angeklebt bei Hurwinek und Spejbl, meinen allerliebsten Vater- und Sohn-Marionettenfiguren, vor der Flimmerkiste sitzen und kugele mich vor Lachen über ihr Gespräch, während meine Schwester in der Küche die Kompottschalen befüllt. Dafür tanzt sie dann im Wohnzimmer zur Ballettshow mit, währenddessen ich die Klöße forme und meine Muttsch sie vorsichtig mit der Schaumkelle im Topf versenkt.
„Mädels, gleich wird die Weihnachtsgeschichte verlesen. Kommt ihr?“, fragt mein Paps und klopft ungeduldig mit der rechten Hand auf seine Armlehne. Auf dieses Weihnachtsmärchen, das immer ein lustiges, aber auch leicht kritisches Licht auf die politische Führung im Land wirft, wartet neben uns gefühlt die ganze Republik. Flugs waschen und trocknen wir uns unsere Hände ab, Muttsch legt schnell noch ihre Schürze ab, und schon stehen wir in der Stube. Sie setzt sich zu Paps auf die Armlehne, ich lasse mich im Schneidersitz erneut auf meinem Siebenpunkt nieder.
An manchen Stellen der Geschichte müssen wir nur schmunzeln, an anderen herzhaft lachen. Dieses „Zwischen Frühstück und Gänsebraten“ ist wieder einmal richtig gelungen und deswegen werden wir fast ein bisschen wehmütig, als Heinz Quermann dazu auffordert die Kartoffelklöße anzusetzen. Aber nur fast, denn nach der Sendung wartet der beste Leckerbissen des Jahres auf uns: Paps schneidet die Gans, Muttsch füllt die Bratensoße in die Sauciere, wir stellen Getränke, Klöße und Rotkohl auf den Tisch und… das Birnenkompott. Jule hat für mich extra die Nelken rausgefischt. Ich hasse den scharfen, ewig nachbrennenden Geschmack von Nelken, der in der Lage ist, mir das ganze Festessen zu ruinieren. Zu Weihnachten sortiert Jule sie für mich aus. Und dafür liebe ich sie. Ich liebe sie alle, für das alles. Und ich liebe den Frieden, der das alles überhaupt möglich macht.
Hier und jetzt würde ich gern die ganze Welt umarmen. Aber leider sind meine Arme zu kurz. Und außerdem wird das Essen kalt, wenn ich jetzt anfange abzuschweifen.
Es wird im wahrsten Sinne des Wortes ein Festmahl. Der Bratenduft mit seiner leichten Rosmarinnote mischt sich mit dem Rotkohlduft und durchzieht alle vier Zimmer. Die Klöße sind weich, schmecken leicht salzig, aber nicht matschig. Das Rotkraut daneben ist so wunderschön lila, ich genieße andächtig seinen Anblick und den süß-säuerlichen Geschmack in meinem Mund. Aber erst beim Genuss der mit Honig bepinselten knusprig-würzigen Gänsehaut, dem butterzarten, milden Fleisch zwischen meinen Zähnen schließe ich andächtig meine Augen. Dann explodiert die Fruchtnote der Soße auf meiner Zunge. Und mein Inneres lauscht diesem einzigartigen Gedicht aus Zwiebeln, Äpfeln und Orangen. Ich werde wieder einmal die letzte am Tisch sein, die fertig wird. Weil der Weihnachtsbraten, ob mit Birnenkompott oder Zimtpflaumen, für mich so viel mehr ist als ein Lieblingsessen.
Alle Jahre wieder.

Durch all den Wandel der Zeit, Höhen und Tiefen hindurch, bleibt dieses Essen für mich immer verbunden mit inniger Liebe, Frieden, Glück, Geborgenheit und einem besonderem Maße an Achtsamkeit. Heute sind ich und mein Mann diejenigen, die versuchen, solche Erinnerungen für unsere Kinder zu schaffen. Ich wünsche mir von Herzen, dass es gelingt. Nicht nur für mich, sondern meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, die mit gutem Beispiel voran gingen. Möge der Zauber dieser Tage und die Liebe auch in Zukunft erhalten bleiben. Mit oder ohne Fernseher. Mit oder ohne Fleisch. Aber immer in Frieden.

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M wie …

Meine Oma hieß Mathilde. Mit Zweitnamen. Heute nenne ich mich selber oft Mathilde, nicht nur, weil ich meine Oma sehr geliebt habe, sondern auch, weil ich gewisse Ähnlichkeiten zwischen uns feststelle. Nicht alle davon gefallen mir :blush:

Mathilde hat mir das Sticken beigebracht. Unter anderem. Sticken habe ich nicht gerne gemocht. Ich konnte es auch nicht. Überall gab es Flecken und Ecken und Fäden. Und Mathilde durfte immer wieder nachbessern. Viel lieber habe ich mit ihr Patiencen gelegt. Dazu gab es oft – weil es angeblich gesund war – Orangensaft mit einem rohen Eigelb und Zucker. Brrrr, mich schüttelt es, wenn ich nur dran denke. Heute würde ich es bestimmt nicht mehr trinken, damals habe ich es geliebt.

Schön war auch immer wieder der Besuch in Mathildes Vorratskammer. Ihre größte Sorge war, dass es nichts mehr zu essen geben könnte. Als Mensch, der zwei Kriege miterlebt hat, bestimmt kein schönes Gefühl. Mein Bruder und ich kannten dieses Gefühl nicht und deshalb war es für uns der Himmel auf Erden, wenn Mathilde einmal am Tag den Schlüssel zur Kammer zückte und die Tür zu dieser aufschloss. Auf ca. fünf Quadratmetern stapelten sich Regale bis zur Decke und diese waren prall gefüllt mit Konserven, Eingemachtem, Mehl, Kaffee und vor allem Kekse, Schokolade und noch mehr Leckereien. Unter den wachsamen Augen von Mathilde durften wir uns genau eine Süssigkeit aussuchen, dann klappte die Tür wieder zu und blieb bis zum nächsten Tag für uns verschlossen.

Der allergrößte Hit allerdings war – und das stellt Euch jetzt bitte in großen Druckbuchstaben vor – MILCHMÄDCHEN!

Für alle, die das nicht kennen: Das ist gezuckerte Kondensmilch, die eigentlich nur richtig schmeckt, wenn man die cremige Flüssigkeit direkt aus der Tube in den Mund quetscht.

Bei Mathilde war Milchmädchen immer noch mit einer Portion Liebe versehen und jedesmal, wenn ich heute Milchmädchen in meinem Mund zergehen lasse, spüre ich diese Liebe. Als hätte Mathilde vor ihrem Tod jede einzelne Milchmädchentube mit ihrer Liebe geimpft.

Sonst hatte sie es nicht so mit Gefühlen. Ihre Liebe zeigte sie durch Fürsorge. Mathilde war ja auch ein Mädchen aus gutem Hause. Da brauchten Frauen keine Ausbildung zu machen. Obwohl sie ihr Leben lang behauptete, sie hätte eine Ausbildung zur Arzthelferin gemacht (übrigens witzig, dass das auch mein allererster Beruf war).

Vieles aus ihrem „guten Elternhaus“ durften auch wir erleben: feines Porzellan, Nachtisch mit extra Gäbelchen und Messerchen, silberne kleine Messerbänkchen – alles ein wenig etepete.

Ich kannte es nicht anders und fand es beruhigend, wie sich in dieser geschützten Weltenkugel so lange Zeit nichts änderte. Es war, als würde Mathilde in ihrer ganz eigenen Zeit leben.

Selbst als mein Großvater starb, der mir die Liebe zu Max und Moritz, Peterchens Mondfahrt und Lebkuchenhäuser vermittelte, änderte sich nicht viel. Die Wohnung wurde ein wenig kleiner, Mathilde ein wenig gebückter. Und ich wurde älter.

Und wie das mit älter werdenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen so ist wurden die Besuche bei Mathilde weniger. Lange Zeit hatte ich gar keinen Kontakt zu ihr.

Unsere Tochter hat sie noch kennen lernen dürfen. Da war sie schon dürr und zittrig. Kurze Zeit später kam sie ins Altenheim. Dort klammerte sie sich noch einige Zeit an ihre Zeit. An einen Rest Leben. Das Loslassen fiel ihr schwer.

So war sie, meine Mathilde!

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Schlüssel-Gelée
Sie wollen wissen, was das ist? Nun das war ein Missgeschick während ich wie sonst jeden Herbst mit meiner Familie Gelée einkochte: Von einem Arbeitskollegen, der nebenbei auch rote Johannesbeeren züchtete brachte mein Vater 200g mit. Die ganze Familie beteiligte sich an der Arbeit. Die Beeren wurden gewaschen, entstielt und im Entsafter gekocht, um den Saft zu gewinnen. Der Saft wurde anschließend abgekühlt und in den großen Einmachtopf gegossen. Mein Vater stellte den Topf auf den Herd und meine Mutter rührte ab und zu um. Dabei stieß sie versehentlich an den Schlüssel, der über dem Herd am Schlüsselbrett hing. Der Schlüssel fiel in den Topf. Mein Vater fischte den Schlüssel mit der bloßen Hand wieder heraus, denn der Saft war noch nicht sehr heiß. Der Schlüssel war noch neu und frei von Rost. Wir konnten also den Gelée zu Ende kochen und später auch genießen. Aber seit diesem Ereignis heißt dieser Gelee bei uns nur noch Schlüssel-Gelée.

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Ein Biss – eine Erinnerung

Ich stehe vor dem kleinen Baum im Vorgarten, bei meiner Arbeit. Noch eine Stunde und ich kann endlich in den wohlverdienten Urlaub. Vereinzelte Tropfen lösen sich von den grünen Blättern, die vor mir im leichten Sonnenschein schimmern. Es riecht frisch und kalt zugleich, meine Finger berühren den winzigen rötlichen Apfel, der zwischen den vielen Blättern hängt. Er fühlt sich hart und nass an, während seine Farbe glänzend und erfrischend wirkt. Sofort läuft mir das Wasser im Mund zusammen, voller Vorfreude beiße ich mir in die untere Lippe. Ob er wohl so schmeckt, wie ich es mir vorstelle? Langsam beiße ich in den knackigen minimalistischen Apfel, als mich plötzlich der fruchtig saure erste Tropfen des Saftes in die Vergangenheit katapultiert. Das Knacken der harten Schale ertönt in meinen Ohren und ich beiße das erste Stück ab, dabei sauge ich den sauren Apfelsaft ein, um den Geschmack zu intensivieren. Mein Blick ist nicht mehr auf den Apfelbaum gerichtet, sondern auf das Haus, das meinem Großvater gehört. Eine Erinnerung. Ein Sommer in Bosnien, die Hitze prallt auf mein helles Gesicht, während die Apfelbäume an der Auffahrt in einer Reihe stehen. Das Knistern der Blätter ertönt in meinem Ohr. Der Geruch des frischen, nicht chemisch vollgepumpten Apfels steigt in mir in die Nase. Mein Großvater erscheint mit seinem weißen Haar, den vielen Falten im Gesicht und den blauen hellen Augen neben mir auf. Mein Herz setzt einen Moment aus. Der saure Geschmack benebelt meine Sinne, sodass ich ein weiteres Mal hineinbeißen muss. Ich will hier nicht weg. Die Erinnerung fühlt sich echt an. Meine Geschmacksknospen reagieren sofort auf den nächsten biss, der mich die Augen zusammenkneifen lässt. Uff, sauer. „Hey, kommst du?“ Die pralle Sonne verwandelt sich in ein schwaches warmes Licht. Die Apfelbaumreihe verschwindet und ein kleiner Baum, mit grünen Blättern und winzigen Äpfeln taucht vor mir auf. Tief atme ich ein, ziehe den Geruch des frisch gepflückten Apfels ein, beiße ein weiteres Mal hinein, bevor ich mich der letzten Stunde vor dem Feierabend widme.

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Der Geschmack nach Familie

Denke ich an den Geschmack meiner Kindheit, dann denke ich an Lila.
Lila ist nicht nur der Flieder,
der den kleinen Kräutergarten zierte,
es sind auch die Leckereien, die Milka gefühlt, nur für mich kreierte.
Die Kuh, die vor mir auf dem Feld so nicht existierte,
aber dafür als Geschenk aus den zärtlichen faltigen Händen in den meinen vibrierte.

Eine Aufmerksamkeit nur für mich,
als Allheilmittel für all meine Wunden,
als allumfassende Erinnerung für all die Stunden,
in denen alles Süße deiner Liebe glich!

Eine Liebe, die durch den Magen geht,
denn die Erinnerung, sie steht.
Sie wird alles überdauern,
auch nach dem langen Trauern.
Denn ich kann dich noch sehen!
Deine Zuwendungen und Gesten erst jetzt richtig verstehen.
Es war deine Art, mir zu sagen,
und das ohne Bedingungen, ohne Fragen,
nur für mich bestimmt:
„Ich hab dich lieb mein Kind!“

Denke ich an den Geschmack meiner Kindheit, so denke ich an Rot.
Ich denke an jedes deiner Gebäcke, deinen Apfelkuchen, an jede Torte.
Ganz gleich, ob Rotkäppchen oder welche Sorte,
denn egal welcher Schmerz, welche Not,
die Liebe, die in all deinem Gebackenen steckte,
hatten die Kunst mich zu trösten,
allen Kummer zu lösen,
wenn ich mir den Zuckerguss von den Fingern leckte.

Eine Liebe, die durch den Magen geht,
die sieht,
die versteht,
die niemals vergeht.
Es war dein Zauber,
dein ganz persönlicher Glaube,
dass diese Zuwendungen, die nur für mich bestimmt,
mir alles Schwere abnimmt.

Denke ich an den Geschmack meiner Kindheit, so denke ich an Blau.
Und dabei wird mir etwas flau,
denn nichts, was du jemals in deiner Küche kreiertest, war wirklich blau,
nicht einmal dein Heidelbeerkuchen, nehmen wir’s genau.

Und dennoch blau!
Sowie grün, gelb, pink oder auch grau,
denn meine Kindheit war kunterbunt.
In allen Farben und zauberhaften Geschmäckern
kann ich nur überquellen vor Sinneseindrücken,
die mich wehmütig stimmen und bedrücken,
die so viel in mir wecken.

Eine Liebe, die durch den Magen geht!
Eine Liebe, die niemals vergeht!
Denn in Liebe werde ich immer an dich denken,
niemals einen Gedanken vorbeiziehen lassen und damit verschwenden.
Denn Liebe geht durch den Magen,
und deshalb möchte ich dir ohne Bedingungen, ohne Fragen,
einfach nur noch einmal sagen:

„Ich hab dich lieb!“

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Ein besonderes Körnchen

Tief sitzen meine Erinnerungen an die wenigen glücklichen Kindertage. Fest verschnürt in einem kleinen Säckchen stupsen sie sich wie winzige Sandkörnchen an, wenn meine Gedanken sie sacht streifen. Kichern still vor sich hin, als ob sie dieses Versteckspiel liebten. Nichtsahnend, dass sie im Grunde wohl behütet und gehütet sind.
Ein winziges Körnchen, frecher und wagemutiger als die anderen, schiebt sich immer wieder durch die winzige Öffnung. Zumeist an Sonntagen. An diesen tristen, wenn sich meine Mundwinkel der Schwerkraft willenlos hingeben. Dann stupst dieser kleine Freund meine Geruchsknospen an, kitzelt das Näschen und erinnert mich an etwas Besonderes, etwas, was mein kleines Herz zum Flattern brachte, in meinem Bauch die Schmetterlinge zum Kitzeln veranlasste und meine Nasenflügel freudig erbeben ließ. Hefe und Mehl, Milch und Ei und ein fruchtiges Holunderbeeren-Aroma.
Im Herbst, wenns draußen kälter, die Blätter bunter und die Erkältungen häufiger wurden, zauberte meine Oma, oftmals nur für mich, und das war das eigentlich Besondere, selbstgemachte Hefeklöße mit herrlicher, frisch gekochter Holunderbeeren-Suppe. Kugelrund, als sei ich selbst eine Beere, habe ich mich gefuttert. Und war einfach nur glücklich.
Ich weiß nicht, wann diese Tage endeten, doch irgendwann kochte sie keine mehr. Oder wir waren nicht mehr dort, wenn es welche gab. Irgendwann hatte sie das letzte Mal welche für mich gemacht, ohne, dass ich es wusste.
Als ich ausgezogen war und meinen eigenen Haushalt hatte, probierte ich die Fertigprodukte, versuchte mich sogar daran, selber welche herzustellen. Doch keine waren so, wie die von meiner Oma. Werden es auch nie sein.
Und dieses kleine Körnchen erinnert mich daran. Dass es diese Tage gegeben hat. Tage, an denen etwas nur für mich gemacht wurde. Tage, an denen ich mich besonders gefühlt habe. Der mich zugleich mahnt, dass es nun meine Aufgabe ist, dieses Gefühl weiterzugeben. Mich darauf aufmerksam macht, mir immer wieder bewusst Zeit zu nehmen und etwas Besonderes zu machen. Nun für mein Kind. Und irgendwann vielleicht auch für mein Enkelkind.
©N. L. Berg

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