Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Herbstsonne

Durch das Fenster gegenüber des Esstisches kann ich die Gold schimmernden Strahlen der Herbstsonne sehen, und die großen Laubhaufen, die mein Vater in den letzten Herbsttagen mühevoll zusammengerecht hat. Ich schließe meine Augen und stelle mir vor, wie die wärmende Sonne auf meine Nase scheint, während ich auf dem Schaukelreifen liege, der unter der großen Linde hinten im weitläufigen Garten steht.

Ich öffne meine Augen. Vorm mir steht noch immer der Teller voll Linseneintopf, dessen Farbe mich an den Matsch erinnert, welche der letzt Regenguss in den Pfützen der Beete hinterlassen hat. Der Anblick lässt mich schaudern. Aber ich weiß, wenn ich heute noch raus will, muss ich mich überwinden und Löffel für Löffel der klitschig-klebrigen Pampe in mich hineinzwingen.
So lautet zumindest die Anweisung, die meine Tante Fanny mir gab. Ja Tante Fanny, eigentlich Großtante, die meinte, sie wäre die allerbeste Köchin und Haushälterin überhaupt. Vor langer Zeit wollte Sie uns „nur“ besuchen und keiner der Familie hatte sich wirklich über diese Selbsteinladung gefreut. Dennoch kam sie und nistete sich ein. Dieser Besuch dauerte nun schon über 3 Jahre und ich fragte mich, wann sie endlich wieder nach Hause fährt.
Aber ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass das heute noch passiert und ich diesen scheußlichen Eintopf doch nicht essen müsste.
Angewidert rühre ich im Teller herum. Ich hebe den Löffel an und lasse den Inhalt wieder in den Teller zurückplatschen, wieder und immer wieder. Das dabei entstehende Geräusch, machte es mir auch nicht gerade leichter, mich zu überwinden. Ich schaue wieder aus dem Fenster, gefühlt ist es schon eine Stunde später. Ich befürchte, dass die Sonne bald unter geht.

„Okay“, denke ich „ich schaffe das“. Erneut schließe ich die Augen und führe den Löffel zum Mund. Der kalte Esslöffel, auf dem der ebenso mittlerweile kalte Eintopf hängt, berührt meine Unterlippe. Vorsichtig lecke ich etwas davon ab. Der Geschmack dieses mit Maggi überwürzten Eintopfes schüttelte meinen Körper. Außerdem erzeugt das eigenwillige Aroma sowie die etwas mehlige Konsistenz der braunen Linsen einen leichten Würgereiz. Mein ganzer Körper sowie mein Geist sträuben sich buchstäblich dagegen, dieses Gericht zu essen. Ich lasse den Löffel angewidert zurück in den Teller fallen. Die Reste der Sauce auf meinem Mund wische ich mit der Serviette ab.

Im Obergeschoss ertönt das Geräusch des Staubsaugers und sofort ist mir klar dass Tante Fanny nicht mehr in der Nähe ist. Kurzentschlossen stehe ich auf und kippe den Tellerinhalt in die Toilette. Sicher wird Tante Fanny das Geräusch der Spülung jetzt nicht wahrnehmen. Schnell stelle ich den Teller in der Küche ab und verzupfe mich nach draußen auf die Schaukel, von der ich vorhin noch träumte. Zum Glück war die Sonne auch noch da und ich genieße schaukelnd die wärmende Sonne auf meiner Nase.

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Warme Birne

Verharrend hocke ich auf dem knorrigen alten Ast des alten Zwetschgenbaums. Abwartend, ob noch etwas passiert. Doch es scheint sich alles beruhigt zu haben. Die niedrige Oktobersonne scheint mir wärmend ins Gesicht. Eine leichte Brise trägt den süßlichen Geruch der reifen Birnen, die weiter vorne im Garten stehen zu mir.
Ich sitze häufig in Omas Obstbäumen, obwohl ich sie gar nicht so gerne mag. Also Oma, nicht die Bäume. Die Bäume mag ich sehr! Sie sind meine Festung. Sie nehmen mich auf und erlauben mir das Hochklettern, wo sie unter Oma nachgeben. Dann steht sie wieder da, irgendwo unter mir und versucht, mit Sprüngen an meine kurzen Beine zu kommen. Drohend hebt sie dann den Zeigefinger und wettert, was das Zeug hält.
Doch nun ist alles still. Sehr still, sogar die Brise macht eine Pause. Also mache ich auch eine und schließe kurz meine Augen.
Das Kitzeln hinter meinem Ohr verrät ihn. Ich spiele das Spiel wie immer mit und fuchtel hinter meinem Kopf herum. Nach dem dritten Mal muss ich lachen und drehe mich um. „Opa!“, kicher ich gespielt entsetzt.
„Ho! Da war eine Fliege“, beteuert er. „Ist gerade weggeflogen!“ Mit großen Augen deutet er in die Richtung der abgewetzten Stoppelfelder.
„Ja klar!“ Ich rolle mit den Augen und will wissen: „Wie kommst du eigentlich hier hoch?“ Mit dem Zeigefinger an seinen schmalen Lippen bedeutet er mir leise zu sein. „Ich bin ganz leicht. Ich wiege eigentlich gar nichts. Aber psst, das bleibt unser kleines Geheimnis.“
Ich schwöre feierlich mit erhobener Hand. „Gut, dann kriegste auch das hier.“ Flink zieht er ein dickes Küchentuch aus seiner Hosentasche und schiebt es mir in die Hand. Es ist noch warm und duftet nach Butter und Birne. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich schlage das Tuch auf und sehe den frischen, krossen Streuseln entgegen. Genüsslich beiße ich hinein und spüre das warme Süß, die weiche Birne von allein zerlaufen. „Lass dich nicht erwischen“, mahnt er. Dann ist er weg. Und die angenehme Stille auch.
Drinnen, hinter den Fenstern des Hauses kracht es. „Wer war das?“, hört man ihre polternde Stimme über das gesamte Gelände. Oma hats gemerkt! Tante Hildes Fiat fährt die Einfahrt hoch. „Irgendwann bringt sie Opa noch eigenhändig unter die Erde“, beteuert Tante Hilde immer.
Irgendwie müssen wir es schaffen, Oma eher unter die Erde zu bringen, denke ich mir, und nehme noch einen Bissen.

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Der Inhalt einer weiteren Kelle landete auf dem Teller. Die grüne Masse schiebt sich weiter auf die Ränder zu.

„Noch mehr?“, erklang ihre Stimme harsch und höflich zugleich. Innerlich hoffte ich, dass mein Freund endlich ablehnen würde. Ohne Zweifel würde die Ladung einer weiteren Portion alles über den Rand des runden Keramiktellers fließen lassen. Es wirkte wie ein grotesker Wettkampf. Meine Oma, die gerne die Teller mehr als belud, gegen meinen Freund, der gerade nicht äußern konnte, dass er mehr als genug auf dem Teller hatte. Schon als meine Großmutter ihm den Kartoffelbrei auflud, warf er mir hilfesuchende Blicke zu.

Mit großen Augen sah ich von ihr zu meinem Freund. Bald würden Schweißperlen auf seiner Stirn sichtbar werden. Die Luft um ihn herum war angespannt, beinahe greifbar. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er vor zwei Kellen genug hatte.

Schnell suchte er Blickkontakt mit meiner Oma. Sein Lächeln wirkte befangen. Er war zu gutmütig. Einerseits wollte er sie nicht zurückweisen und dadurch unhöflich wirken. Anderseits fragte er sich, ebenso wie ich, ob sie nicht erkannte, dass der Teller überladen war und er genug hatte.

Derweil versenkte meine Großmutter abermals, die Antwort abwarten, die Kelle im Topf. Anhand ihrer Armbewegung, war unschwer zu erkennen, dass sie sie mit Nachschlag belud.

Sein Kopf wandte sich mir zu. Wortlos bat er mich ihm zu helfen. Augenrollend schaute ich zu meiner Oma auf, streckte den Arm aus und verneinte gestikulierend. „Danke. Das reicht uns.“

Überrascht sah sie uns an. „Nun gut. Wenn ihr noch was wollt, ist genug da. Ihr seid jung und solltet essen.“

„Ja, Oma“, pflichtete ich ihr bei.

Sie setzte sich auf ihren Platz der Sitzbank. Schnell war ihre Aufmerksamkeit vom Fernseher eingenommen. Seit Jahren waren Bank, Stühle und Tisch so in der Küche angeordnet, dass sie, durch die Tür, freien Blick auf die Röhre im Wohnzimmer hatte. Die Werbepause war vorbei und unsere Anwesenheit zügig vergessen.

Seufzend richtete ich mein Augenmerk auf den Teller vor mir. Einzelne Tropfen, eine Mischung aus Wasser und Fett, waren in der Zwischenzeit von der runden Keramik getropft und zierten die abwaschbare Tischdecke in Blumenoptik. Ein flüchtiger Blick zu meinem Freund, verriet mir, dass es bei ihm nicht anders ausschaute. Unsere Augen trafen sich. Ratlos sahen wir uns an. Wir zwei hatten wir bei dem Anblick von Kartoffelbrei, Spinat und Ei den Appetit verloren.

Beide hatten wir am gestrigen Tag zugestimmt. Freudig, da wir keinerlei Abneigung gegen das Gericht hatten. Gab es dieses Gericht doch häufiger bei uns.

Doch war das, was meine Großmutter uns vorgesetzt hatte, ganz anders:

Der Butteranteil in den zerstampften Kartoffeln war enorm hoch. Unweigerlich fragte ich mich, ob es sich hierbei nicht eher um Butter mit Kartoffelbrei handelte. Ähnlich ging es dem Spinat. In einem Bad aus Schmalz wurden nicht nur die Zwiebeln ausgelassen, sondern auch die beinah fingerdicken Schweinebauchstreifen. Der Anblick dieser, zwischen dem matten grün des zerkochten Spinates, ließ darauf schließen, dass meine Großmutter ein Stück mit üppiger Fettschicht gewählt hatte. Innerlich zog sich in mir alles zusammen, wenn ich daran dachte, wie sich das Fleisch in meinem Mund anfühlen würde: zäh, fest und gleichzeitig mehr werdend. Meine Augen wanderten vom öligen Rüherei zu meiner Oma. Starren Blickes sah sie eine ihrer Sendungen und aß nebenbei, was sie gekocht hatte.

Innerlich kämpfte ich mit mir: Auf der einen Seite ein Kind, dass erzogen wurde immer zu essen, was auf den Tisch kam. Nie sollte der Koch, der sich viel Mühe gegeben hatte vor den Kopf gestoßen werden. Auf der anderen eine junge Frau, die im Laufe ihres selbstständigen Lebens gelernt hatte, dass man sich selbst glücklich machen sollte und nicht andere.

Das Seufzen meines Freundes unterbrach meine Entscheidungsfindung. Abermals trafen sich unsere Blicke. Ich war lange genug mit ihm zusammen, um zu wissen, was er dachte.
Schulterzuckend wandten wir uns unseren Tellern zu, griffen nach den danebenliegenden Löffeln und begannen, den ungesündesten Spinat unseres Lebens zu essen.

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Hort-Küche

Noch 200 Meter, Rauch klettert hinauf aus dem Schornstein der Kita, -meiner Kita und Hort der Kindheit -, so als ob er wirbt für „Futtern wie bei Muttern“. Es duftet nach Bratensoße bilde ich mir ein, dabei riecht der Rauch wie Rauch nunmal riecht.

Mein Schulranzen drückt nicht mehr, denke nicht mehr an Gedichte, nur noch an leckere Gerichte; auch nicht an Diktate, lieber an mit Reis gefüllte Tomate; nicht mehr an die Hausaufgabe, viel lieber an Essensausgabe.

Wohlgeruch strömt weiter aus.

Noch 100 Meter, das Fenster steht offen, eingerahmt vom Backsteingemäuer, Pflanzen klettern empor. Die Köchin steht am Herd und tranchiert den Braten und zaubert mit bunten Zutaten den Mittagsschmaus. Hier ein paar Zwiebeln, da etwas Knoblauch und Gemüse, frisch vom Markt. Die Hilfsköchin streicht den Kartoffelbrei durch das große Sieb. Hier wird noch selbst gekocht. Keine Fertiggerichte oder lieblos zubereitete Massenprodukte der Kantinen und Fast-Food-Tempel.

Im Vorbeigehen höre ich das klimpern der Töpfe, es brutzelt Gemüse in einer gigantischen Pfanne.

Neben dem Eingang lese ich den Speiseplan der Woche. Viel Hausmannskost, liebevoll zubereitet und authentisch im Geschmack, ohne Konservierungsstoffe.

Ein Geräusch schrillt auf. Wieder reißt mich der Wecker aus dem Traum der Vergangenheit und konfrontiert mich mit dem Hier und Jetzt.

Schade eigentlich. Wie gerne wäre ich nochmal Kind.

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Vom Warten auf das nächste Wort

Neun Monate habe ich gewartet, ausgeharrt, die Geburt herbeigesehnt. Neun lange Monate, in denen mein Bauch wuchs und die Anspannung stieg. Als es dann soweit war, wechselten sich Vorfreude und Angst, Erschöpfung und Schmerz ab. Meiner Frau, die unsere Tochter zur Welt brachte, soll es während des Gebärens sogar noch schlechter gegangen sein. Doch nun ist sie da, die Kleine. Und wir haben alles gut überstanden, auch ich als Vater.

Wieder gilt es zu warten. Wann wird sie ihr erstes Wort sprechen? Und welche Silben wird sie in ihre Umgebung flüstern? „Mama“, „Papa“ oder „Weißwurstfrühstück“? Völlig unerwartet sprach sie dann ihr erstes Wort. „Dada“, schmunzelte sie. Ich habe verstanden, dem tiefen Band zwischen Vater und Tochter sei Dank. Es war „Papa“, aber verschlüsselt für den Rest der Welt. Welch großes Glück! Als Belohnung gingen wir zum Bäcker und kauften ein Laugenbrötchen, an dem sie stundenlang nuckelte.

Heute hat sich eben jene Freude über das gesprochene Wort verkehrt. Ich warte wieder, doch diesmal ist es das Luftholen, dass so sehnlich herbei gewünscht wird. Gerne würde ich auch einmal zu Wort kommen, aber als das Vokabular unserer Tochter wuchs, erreichte ihr Sprachzentrum plötzlich eine Art synaptischen Overkill. Ja, sie hörte plötzlich nicht mehr auf zu reden. Dass Jugendliche durch die Augen atmen können, war mir einfach nicht klar.

Am liebsten würde ich ihr auch heute noch ein Laugenbrötchen in den Mund schieben, um den Redefluss zu unterbrechen. Doch ab und an gelingt es auch ohne diese Maßnahme, ich flechte einen Satz ein und werde mit einem geübten Augenrollen quittiert. Natürlich könnte es sich hierbei auch um eine Art juvenile Augenatmung handeln, doch ich kann gewisse Vorbehalte gegen meine Aussagen spüren, und werte diese als Ablehnung.

Bereue ich es, ihr das Reden beigebracht zu haben? Natürlich nicht. Aber ich freue mich auf den Moment, an dem sie die Kontrolle über den Umfang des Sprachgebrauchs erlangt. Bis dahin genieße ich die „Ruhe“, wenn sie am Essen ist.

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Seitenwind

Kartoffelstampf mit Frikadellen

Wie das duftet, mir läuft bereits das Wasser im Mund zusammen. Mein Onkel und ich sitzen ungeduldig am Tisch. Mit sieben Jahren hat meine Geduld Hummeln im Hintern. „Ich geh in die Küche und Helfe Tante Marta. Sicherlich kann ich die Frikadellen mit ins Esszimmer tragen.“ Mein Onkel nickt und schon bin ich um die Ecke verschwunden und tapse in die Küche.
Tante Marta lächelt und reicht mir die Platte mit den Fleischbällchen. „Nicht naschen bevor ich fertig bin,“ mahnt sie mich. Dieses wissende Lächeln auf ihrem Gesicht ignoriere ich. Eilig trage ich die Platte und stelle sie auf den Tisch. Das Gemüse und die Sosse stehen bereit. Alles was fehlt ist der Kartoffelstampf. Wir lauschen den Geräuschen die aus der Küche dringen. Der Duft des angebratenen Fleisches, Zwiebeln und diversen Gewürzen steigt in meine Nase. „ich kann nicht mehr lange warten,“ flüstere ich meinem Onkel ins Ohr. Er nickt zustimmend, „denkst du, sie bemerkt wenn wir eine Naschen?“ fragte er und zwinkert mir zu. Nach kurzem überlegen schüttle ich den Kopf. „Wir dürfen uns nicht erwischen lassen, sonst dürfen wir ihr das nächste Mal nicht mehr helfen.“ Flink greifen wir nach der Köstlichkeit und stecken uns eines dieser leckeren Frikadellen in den Mund.
Mit dicken Backen sitzen wir da und versuchen mit der unschuldigsten Miene auf die Tür zu schauen. Tante Marta steht mit dem Kartoffelstampf da und mustert uns. „habt ihr genascht?“ Mein Onkel und ich sehen uns an und schütteln den Kopf. Sie kneift leicht die Augen zusammen und stellt die letzte Schüssel auf den Tisch. Während sie sich hinsetzt versuchen wir so unauffällig zu kauen. Sie lächelt leicht, „ich werde das nächste Mal die Frikadellen selbst an den Tisch bringen.“ ich seh sie mit grossen Augen an und denke, ‚mist, jetzt kann ich nicht mehr heimlich mit Onkel Heinz naschen.‘ Eine kleine Hoffnung bleibt, vielleicht hat sie es bis zum nächsten Mal vergessen.
Beim nächsten Besuch wünsche ich mir das selbe Essen, denn ich liebe es. Wieder riecht es lecker und ich freue mich riesig darauf. Eilig deckte ich den Tisch und stand in der Küche und griff nach der Platte mit den Fleischbällchen. "Oh nein meine Kleine, die trag ich selbst an den Tisch. ich kenne euch beide, ihr nascht wieder und das möchte ich nicht. " Verblüfft seh ich meine Tante an, sie hat es nicht vergessen. „Ich möchte aber etwas in das Esszimmer tragen“ erwidere ich und strecke die kleinen Hände aus.
Sie lächelt und reicht mir die Schüssel mit der Sosse.
Voller Stolz trage ich es an den Tisch. Nach wenigen Minuten steht alles auf dem Tisch und wir geniessen das Mahl. Seit damals ist und bleibt dieses Rezept mein liebstes. Es weckt eine der schönsten Erinnerungen an meine Kindheit.

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Braune Pfeffernüsse
Der Herbst ist da. Die Kastanienmännchen sind gebastelt und die Blätter an den Bäumen leuchten in rot und gelb.
Es wird Zeit, die Kekse für die Weihnachtszeit zu backen. Sieben Sorten müssen es sein. Für die Braunen Pfeffernüsse muss die Rübenernte eingebracht sein, denn es wird Sirup benötigt. Die Weißen Pfeffernüsse mag ich nicht so gerne, aber sie gehören trotzdem auf den Weihnachtsteller. Braunes und Weißes Schmalzgebäck folgen, sobald es frisches Schweineschmalz gibt.
Zimtsterne, Makronen und Vanillekipferl werden erst wenige Tage vor dem ersten Advent gebacken.
Und es ist das erste Mal, dass ich Mutti beim Backen helfen darf. Sie zieht mir ihre bestickte Schürze an. Der Latz reicht mir bis unter das Kinn.
Aufgeregt warte ich, bis sie die alte Küchenwaage aus dem Keller geholt hat. Alle Zutaten werden genaustens abgewogen. Die kleinen Gewichte an der Waage hin und her geschoben.
Die Mandeln müssen noch abgezogen und gemahlen werden. Mutti setzt das Wasser auf und schon schwimmen die Mandeln im heißen Wasser. Jetzt aber schnell abgießen und die Mandeln aus der braunen Hülle drücken.
Flutsch! Mit Tempo schießt die erste Mandel über den Tisch. Bald hab ich den Bogen raus.
Jetzt wird die Mandelmühle an den Tisch geschraubt. Oben werden die Mandeln eingefüllt und ich drehe an der Kurbel, bis unten das Mandelmehl herausquillt.
Anschließend das Mehl in eine große Schüssel sieben. Butter, Zucker, Sirup, Mandelmehl dazu.
Die Zitronenschale darf ich noch nicht darüber reiben. Die Küchenreibe ist viel zu scharf für mich. Aber die Pottasche rühre ich in die Sahne.
Nun muss Mutti alles zusammenkneten.
Endlich! Den Teig ausrollen und ausstechen.
Es gibt Herzen, Pilze, Tannen, Mond und Wolken. Der Engel ist die schwierigste Figur. Die geht mir oft kaputt.
Das Backblech wird mit Butter ausgestrichen und auf jeden Keks wird eine halbe Mandel gelegt. Ab in den Ofen und ein himmlischer Duft zieht durch die Küche.
Jetzt noch die Plätzchen heil vom Backblech bekommen und abkühlen lassen.
Die heilen Plätzchen wandern bis zum ersten Advent in die Blechdose, die sehr gut verschlossen wird.
Die zerbrochenen Kekse lassen wir uns jetzt schon schmecken.

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Die Erbsensuppe

von Björn D. Neumann

Der brennende Geruch in der Nase weckte sie auf. Sie wollte sich doch nur kurz hinlegen, während die Suppe auf dem Herd langsam warm wurde. Jetzt zogen Rauchschwaden bis ins Wohnzimmer und es roch, als hätte jemand eine nasse Katze ins Feuer geworfen.

Leicht benommen tapste Karin in die Küche. Auf dem Herd stand der Topf, qualmend wie der alte Schornstein einer Fabrik. Immer wieder hustend schnappte sie sich die Topflappen fasste den Topf bei den Henkeln, als ob sie ihm vorwurfsvoll die Ohren langziehen wolle und bugsierte ihn so in die Spüle. Ein Schwall kalten Wassers zischte fauchend, als Karin den Hahn aufdrehte. Sie riss das Küchenfenster weit auf und empfing eine heftige Ohrfeige der eiskalten Winterluft. Verdient, wie sie fand. Wie konnte ihr das passieren? Warum an diesem Tag? Mit einem Stück Küchenrolle trocknete sie sich die feuchten Augen, in deren Tränen, verursacht durch den Qualm, sich inzwischen jene tiefer Traurigkeit und Verzweiflung mischten.

Karin war nie die große Köchin gewesen. Für eine Dose Ravioli oder eine Tiefkühlpizza reichte es, aber ihr Freund war eindeutig der Bestellzettel des Lieferservice. Umso mehr freute sie sich immer, wenn ihre Großmutter Erna ihr Verpflegungspäckchen für den Tiefkühler mitgab. Egal ob es ein deftiger Wirsingeintopf, Graupen oder wie in diesem Falle, Erbsensuppe war. Heute war es die letzte Erbsensuppe. Vor genau einem Jahr starb Oma Erna. Und seither hütete Karin diesen Schatz. Zwischen Tiefkühlpizza und Vanilleeis stand eine Margarinepackung mit der Aufschrift „Erbsensuppe“. Noch bevor das Wort Nachhaltigkeit in aller Munde war, legte Oma Erna größten Wert auf Sparsamkeit und wo man Verpackungen wiederverwerten konnte und Plastikmüll zu vermeiden war, war Erna ganz vorne mit dabei. Kriegsgeneration eben. Und heute wollte Karin dieser Frau gedenken. Noch einmal ihre Erbsensuppe essen, die sie nie wieder schmecken dürfte. Bei dieser Erkenntnis schüttelte sie erneut ein heftiger Weinkrampf.

Mit einer Tasse heißen Tee begab sie sich wieder ins Wohnzimmer und muckelte sich mit einer Wolldecke auf die Couch. Sie dachte an ihre Oma. Dachte daran, wie die Düfte der von ihr zubereiteten Speisen durch die Altbauwohnung zogen. An die Familienfeste, bei denen alle bei Erna eintrafen und an der großen Tafel bewirtet wurden. Aber auch an die Abende, an denen sie nur mit ihrer Oma in der Küche saß und Erna bei Erbsensuppe aus ihrer Jugend erzählte.

Karin kam ein Gedanke. Entschlossen ging sie zum Wohnzimmerschrank, öffnete die Klappe und holte ein kleines Ringbuch heraus. Die Seiten waren zum Teil vergilbt und Elsesohren markierten einige Seiten. Trotzdem wirkte es nicht unordentlich. Es waren die Gebrauchsspuren eines erfüllten Lebens. In sauberer Sütterlinschrift waren Rezepte darin notiert und Karin begriff auf einmal, warum Oma ausgerechnet ihr dieses Kochbuch hinterließ. Sie blätterte, bis sie auf das Rezept für Erbsensuppe stieß. Dann kramte sie aus dem Fach Notizblock und Stift heraus und begann zu schreiben:

Einkaufsliste

500 gr. grüne Schälerbsen

300 gr. Kartoffeln

1 Zwiebel

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Fürwahr die besten Brotwörscht gab es beim Beter. Die Wirtschaft, wie sie mal war, gibt’s schon seit vielen Jahren nicht mehr. Heut steht am Eingang Taverna, was immer das auch ist. Das Haus wurde kurz nach dem Krieg gebaut. Bis in die 70er war der Gasthof Krone das Vereinslokal des Gesangs- und Schützenvereins. Es war ein Lokal, in dem es eigentlich keinen Stammtisch gab. Dieses Wirtshaus hatte einen ureigenen Geruch, der sich aus dem Mobiliar, dem gerauchten Tabak und dem gekochten Essen zusammen setzte.

Es wurde damals von Irmgard und Hans geführt, die damit ihr Auskommen hatten. Ihre Kinder, der Peter und die Inge halfen ab und zu aus.

Es war günstig neben der Kirche gelegen und so war es einfach, nach dem Beten, mit wenigen Schritten zu erreichen.

Gar oft wurde der Frühschoppen länger und länger. So auch beim Schnackas, der blieb, weil es zu Hause dicke Luft gab. Seine Frau war schon die ganze Woche sauer, denn durch eine Show-Einlage hatte er das Ehebett zerstört. Durch einen besonderen Einfall sprang er vom Schlafzimmerschrank ins Bett. Das Bett knarzte erschrocken und streckte alle vier Beine von sich. Seine Frau im Schlafrock polterte mit ihm auf den Boden. Als Belohnung hat sie ihm den Besenstil übers Kreuz geschlagen.

Wer das Mittagessen zuhause verpasste, hatte trotzdem Hunger. Irmgards Spezialität waren Bratwürste mit Sauerkraut. Der Schnackas bestellte sich welche und mein Onkel lut mich auch zu einem Paar ein.

Jeder Erwachsene erzählte während des Essens eine wilde Geschichte, so dass der Schnackas zum Schluss kam, dass er etwas Harmloses gemacht hätte und seine Frau mit Ihrem Zorn übertreiben würde.

Das war früher das Gute: Im Wirtshaus wurde man psychologisch wieder aufgebaut und man konnte dabei noch Essen und wilde Geschichten erzählen, ohne auf einer Couch sitzen zu müssen.

Irmgads Bratwürste sind noch heute die Besten, die ich jemals gegessen habe. Diese Episode trug sich 1971 zu.

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Die Geschichte, ob wahr oder nicht, gefällt mir sehr sehr gut. Niemand sollte sein Leben, wegen wem oder für wen auch immer, aus Höflichkeit umzukrempeln und dabei selbst unglücklich oder unzufrieden werden. :+1:

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Vielen liebe Dank :wink:

Frühstücksgenuss pur - Anno …

Es ist früh, sehr früh. Es sind andere Zeiten als heute und dennoch sollte ich noch nicht wach sein. Dennoch treibt es mich aus meinem Bett. Obwohl es mitten in der Nacht ist.

Aufstehen, anziehen. Alles schläft, einer wacht …

Endlich draußen. Schnee. Die Kälte der Nacht greift nach mir und der eisig kalte Wind umweht mein Gesicht. Der Schnee greift sich noch mehr von der Stille und es wird noch mystischer, als es um diese frühe Uhrzeit sowieso schon ist. Nur vereinzelt Autos, keine Menschen, nur hin und wieder eine Katze, die auf der Suche ist nach ihrer nächtlichen Mahlzeit. Meine Füße tragen mich entlang der Hauptstraße, auf der alles ruhig und noch dunkel ist. Heute haben die Winterferien begonnen und trotzdem, oder gerade deshalb, musste ich gleich heute so früh raus aus dem Bett.

Nach etwa einer Viertelstunde Fußweg in der Kälte der Nacht erreiche ich den Ort meiner nächtlichen Unruhe. Ein kleines Ladengeschäft direkt an der Hauptstraße neben der Brücke mit dem kleinen, inzwischen vereisten Flüsschen. Und dahinter das kleine Häuschen, in dem schon ein schwaches Licht brennt. Ich weiß, dass hier schon seit einiger Zeit kräftig gearbeitet wird, damit sich die Menschen am Morgen freuen und mit strahlenden Augen ihre Ware kaufen können.

Leise öffne ich die Tür und mir strömt ein warmer Luftzug entgegen. Warme Luft, ein unbeschreiblicher Duft und dezente Radiomusik aus einem kleinen Radio auf einem alten Regalbrett. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich fühle mich einfach wohl und geborgen.

„Guten Morgen Robert“ sage ich zum Mann in Weiß.
„Guten Morgen Werner“ antwortet dieser. „Na, schon am ersten Tag Deiner Ferien ausgeschlafen?“
„Ja, nichts hielt mich mehr im Bett. Ist hier ja schließlich schöner und interessanter als in der Schule“ sage ich und binde mir gleich darauf eine Schürze um.

Robert kenne ich seit einigen Jahren. Er betreibt die kleine Bäckerei im Ort und hier gibt es die besten und ehrlichsten Brötchen und zudem ist der Weg von unserer Wohnung am kürzesten. Frühmorgens in der Backstube, wenn Robert schon die Öfen angeheizt hat, die ersten Teige geformt, Kerne gestreut und auch süße Leckereien vorbereitet hat, ist die Welt noch in Ordnung. Die Musik spielt leise im Hintergrund aus dem kleinen Radio und die ersten Backbleche werden in den Ofen geschoben. Kurz danach erfüllt ein Duft den Raum, dass einem nur so das Wasser im Mund zusammenläuft. Es gibt fast nichts Schöneres, als den Teig anzusetzen, mit den eigenen, bloßen Händen zu kneten, daraus Brot oder Brötchen zu formen, in den Backofen zu schieben und nach wenigen Minuten diese leckeren Brötchen- und Brotsorten aus dem Ofen zu entlassen. Der Duft und der Anblick der frischen Backwaren erfüllt einen einfach mit einem Wohlgefühl, das kaum mit etwas anderem zu vergleichen ist.

So langsam wird es draußen hell und der Schnee tut sein Übriges, dass es noch heller ist als sonst. Die ersten Brote, Brötchen und auch süßen Stückchen werden von Anita, Roberts Frau, aus der Backstube geholt und in den Laden gebracht. Auch hier darf ich oftmals behilflich sein, wobei meine Mithilfe sich in erster Linie auf die Mithilfe beim Backen beschränkt. Natürlich könnte Robert das auch alleine, aber er weiß, wie gerne ich ihm dabei helfe und freut sich auch immer, wenn ich ihm in den Schulferien ein wenig helfe.

Nach getaner Arbeit darf ich mir dann eine Brötchenauswahl in die Tüte packen und mache mich voller Vorfreude auf den Weg nach Hause, wo mich meine Eltern bereits am gedeckten Frühstückstisch erwarten. Der Duft von frischgebrühtem Kaffee und warmer Milch, in die wir Kakao einrühren, erfüllt bereits die Küche und auch die frische, selbstgemachte Marmelade steht schon auf dem Tisch und wartet darauf, ihren Platz auf einer Brötchenhälfte zu finden.

Das ist ein gelungener Start in den Tag!

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„Ich habe die Wassermelonen getragen“ - gefällt mir. Ich hatte sofort Jennifer Grey vor Augen. Ging mir bei den Kopfhörern und den blonden Härchen auch so.
Kann man sich alles sehr gut vorstellen!

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Klasse Text.

Komisch, mein Kindergarten war auch eine riesige Villa, aber an Fischsuppe erinnere ich mich zum Glück nicht. (Finde ich auch wegen der Gräten furchtbar.)

Wunderbar beschrieben, ich rieche es förmlich! Galant Hintergrundwissen eingebaut.

:+1:

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Ach man…ich hab „Kindheit“ in der Anforderung übersehen…sorry

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Oh Gott Bambi :sob:
Toll geschrieben, und so oder so ähnlich oft von Freunden und Bekannten gehört :smiling_face_with_tear:

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Reisfleisch

Zwischen drei und vier Jahren entwickeln Kinder erste Vorstellungen von Zeit und Raum. Mit fünf wächst das Verständnis für Zahlen und Mengenbegriffe, erst dann entwickelt sich ein klareres Zeitgefühl. Ich war Frühentwickler. Meine Oma förderte mich. Mit ihren Kochgewohnheiten. Jeden Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag stand sie um Punkt elf Uhr in der Küche, um Kartoffeln, Lauch, Kohlrabi, Zucchini und anderes jahreszeitenbedingtes Grünzeug zu einer Gemüsesuppe zu verarbeiten. Ich saß an einer Karotte nagend neben ihr auf der Küchenkredenz und schaute ihr dabei zu. Die Kirchenglocken läuteten zwölf Uhr, als wir bei Tisch saßen, und unsere Suppe löffelten. Ich mochte die Kartoffeln und Karotten. Sie waren süß und zergingen auf der Zunge. Al dente war anders. Den Kohlrabi, welchen ich nicht unbedingt für eine Gaumenfreude hielt, schluckte ich als Ganzes runter. Der war immer etwas härter und seinen Geschmack lernte ich über die Jahre nie zu schätzen. Da das Gemüse in kleine, gleichförmige Würfel geschnitten war, kam es anfangs ab und an zu Verwechslungen. Doch die Kontinuität schulte mein Auge, und bald konnte ich Kohlrabi und Kartoffelstücke gut voneinander unterscheiden. Zucchini war mir egal. Der war ich neutral gegenüber eingestellt. Der Lauch hingegen, der legte sich zuerst um den Löffel wie Algen sich um die Beine im See schlingen. Im Mund um die Zunge und die Zähne. Da hieß es schnell und gekonnt schlucken.

Wenn Oma früher als die restlichen Tage in der Küche war, und ich keine Lust hatte, mich in diesem Raum aufzuhalten, dann war Freitag. Am fünften Tag der Woche wurde aufgekocht. Da gab es Fleisch. Reisfleisch, um genau zu sein. Vom Rind. Damit das Menscherl auch groß und stark wird. Reis und Rindfleisch schmeckten mir. Leider nicht in dieser Kombination. Und Konsistenz. Der Geruch, der mir beim Anschwitzen der Zwiebel in die Nase stieg, erinnerte mich an die sonntäglichen Ausflüge auf den Fußballplatz. Die Umkleide, um genau zu sein. Nach Schlusspfiff. Der Anblick des rohen Fleisches bereitete mir Unbehagen. Dasselbe Gefühl wiederholte sich später. Gekochte Version. Da stand es vor mir. Das Finale einer kulinarischen Woche mit und bei Oma. Reisfleisch. Mein Endgegner.

Trockener Reis mit zähen Fleischklumpen. Thymian. Harte Zwiebelstücke, die sich hinterhältig im paprikaroten Reis verstecken. Die Mission startet. Ich durchkämme mein Gericht mit der Gabel. Jedes noch so kleine Stück muss gefunden und eliminiert werden. Da heißt es keinen Fehler machen. Und Zeit gewinnen. „Das Reisfleisch wird nicht besser, wenn es kalt ist“, höre ich Oma sagen. Leider hat sie damit recht. Bei der ersten Gabel wird mir klar, mit Strategie schnell runter wird es nichts. Das Fleisch ist hart und verändert selbst bei langem Kauen kaum seine Form. Der körnige Reis macht das Ganze nicht einfacher. Glücklicherweise begleitet ein Glas hausgemachter Hollersaftsirup mit Leitungswasser das Mittagessen. Um das Reisfleisch, ohne gröbere Unfälle, runter zu befördern. Derselbe wurde mir bei speziellen Anlässen mit Mineralwasser aufgespritzt als Sprite verkauft. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Bei der Aufgabe dachte ich gleich an eine Kolumne, also habe ich eine geschrieben.

Japanisch Essen in Kanada

Folgende Szene: Kanadaurlaub, ohne geplantes Ziel durch Vancouver gelaufen, letzter Abend vor dem Rückflug.

Was also tun?, fragt sich der hungrige Tourist. Gehe ich auf Nummer sicher und fahre zurück zum Hotel, wo ich schon Restaurants kenne, oder suche ich mir hier etwas? Keine große Frage. Ich habe jetzt Hunger. Ich will jetzt essen. Also weiter umherirren, bis das Schicksal es gut mit mir meint. Eine Pizzabude… nein, keine Sitzplätze. Der letzte Abend soll schon nett sein. Ein Inder, aber da sitzt kaum jemand drin. Kein gutes Zeichen, also weiter.

Ah, japanisch. Vancouver hat viele tolle japanische Restaurants. Ein kurzer Blick durchs Fenster zeigt einen anständigen Besucherpegel. Hoffentlich nicht zu gut, mault der Pessimist im Hinterkopf, ich will nicht warten, bis was frei wird. Aber manchmal hat man Glück und die freundliche Nachfrage im Inneren beschert mir einen Platz am Tresen mit Blick in die offene Küche. Tische sind keine mehr frei. Die Karte ist umfangreich und ich einige mich schließlich auf einen Oyakodon. Eine Schale Reis mit Zwiebeln, Hühnerfleisch und gestocktem Ei obendrauf. Klingt simpel, ist aber, wenn gut zubereitet, lecker und vor allem sättigend. Außerdem habe ich seit Jahren keinen mehr gegessen und bin entsprechend glücklich, ausgerechnet hier so ein Angebot zu finden. Der Name setzt sich aus oya, ko und don zusammen und bedeutet in der Reihenfolge Eltern, Kinder und Essensschale. Hühnerfleisch und Eier, Eltern und Kinder. Ich mag den Humor.

Okonomiyaki heißt übrigens grob übersetzt „grill doch was du gerne magst“. Trotz des Namens ist es immer eine Art gefüllter Pfannkuchen, wenn auch mit unterschiedlicher Füllung, aber Weißkohl ist jedes Mal dabei. Warum geht mir das gerade durch den Kopf? Ah ja, das Essen ist angekommen und mir fallen gleich die gebratenen Weißkohlstücke auf, die sich zwischen den üblichen Zutaten tummeln. Dazu etwas dunkle Soße obendrauf und das für Okonomiyaki charakteristische Gittermuster aus japanischer Mayonnaise.
Aber ich habe Oyakodon bestellt. Was ist das hier? Ei und Huhn sind vorhanden und zweifellos in einer Schale. Oya, ko und don stehen dampfend vor mir auf der schmalen Tischplatte. Aus der Küche höre ich gelegentlich japanische Wortfetzen, also ist nicht alles falsch.
Außerdem riecht es super. Würzig und ein bisschen süß. „Anders heißt nicht gleich schlechter“, sagt der Optimist in meinem Kopf und lässt mir vorsorglich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Na gut, ich gebe nach. Drei, zwei, Risiko. Stäbchen in die Hand und auf in den Kampf!

Die dünne Soßenschicht schmeckt wirklich wie bei Okonomiyaki. Hat sich die japanische Küche in den Jahren meiner Abstinenz gewandelt, oder ist das eine lokale Spezialität? Heißt es auch dann noch Fusion-Küche, wenn beide Gerichte aus demselben Land stammen? Fragen über Fragen, aber ein Grummeln aus der Tiefe meines Körpers sagt, dass ich ein dringenderes Anliegen habe. Also arbeite ich mich nach unten vor. So eine Schale ist hoch und will schichtenweise durchprobiert sein. Fleisch, Zwiebeln und Ei schmecken, wie man es erwarten würde, und harmonieren hervorragend mit Kohl und Soße. Der Optimist in meinem Kopf triumphiert: „Hab‘ ich doch gesagt“. Weil es lecker ist und ich gute Laune habe, ignoriere ich den nervigen Besserwisser.
Bleibt noch der Reis untendrunter, also schiebe ich die obere Schicht zur Seite… huch?

Darunter findet sich eine überraschende Schicht aus dunklen Glasnudeln. Japan hat viele Nudelgerichte, aber Glasnudeln sind eher selten und weder in Oyakodon noch in Okonomiyaki habe ich je welche gesehen. Außerdem sind sie dunkel, auch das kenne ich nicht. „Anders ist nicht unbedingt…“ Ja, ja, ich weiß. Erstmal probieren.

Wow! Umami pur! Nicht zufällig ist die fünfte Geschmacksrichtung nach dem japanischen Wort umai, übersetzt am besten mit lecker, benannt. Der Geschmack, der an Fleischextrakt erinnert, ist so deutlich in den Nudeln konzentriert, das die untere Schicht aus Reis keine weitere Würze mehr benötigt, sondern eher als angenehme Verdünnung der Geschmacksnervenüberlastung herhält. Sagenhaft.
Wie inzwischen durch die gesammelten Erfahrungen erwartet, mischen sich die Einzelkomponenten des Gerichts bei gemeinsamem Verzehr in perfekter Balance. Zwiebeln und Kohl liefern Widerstand beim Kauen und bringen genug Frische mit, um mich vor dem drohenden Untergang in Würzigkeit zu bewahren. Das Ei ist fluffig und das Fleisch fest, ohne zäh zu sein. Mit der Reismenge steuere ich die Stärke des Gesamtkunstwerks. Es dauert nicht lange, bis das letzte Reiskorn in meinem Mund verschwindet.

Leider traue ich mich nicht, die hektisch arbeitende Küchenmannschaft zu unterbrechen, um nach dem Gericht zu fragen, und die Bedienung ist nur eine studentische Aushilfe, die im Stress nicht einmal mein Anliegen zu verstehen scheint, also gehe ich, ohne herauszufinden, ob ich eine lokale Erfindung genießen durfte.
Heute bereue ich das.

Daher mein Appell an die wunderbare Leserschaft: Sollte es Ihnen eines Tages ähnlich ergehe, fragen sie bitte nach. Reisen Sie nicht nur voller schöner Erinnerungen zurück, sondern nehmen Sie das Wissen mit, ob es eine Chance auf Wiederholung gibt. Und ganz eigennützig zum Schluss: Falls Sie diese Variante des Oyakodon kennen, schicken Sie bitte einen Leserbrief.

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Wie im Rausch durchgelesen :joy: War richtig spannend, obwohl es nur um eine Torte ging. Schön beschrieben: erst die himmlische Torte und dann der Wandel durch den Überdruss …klotzig, pampig, matschig. :nauseated_face:

Wie können wir den Ablauf der Saison noch besser machen? Stimmt ab, wie wir die Saison für die folgenden Wochen anpassen sollten:

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