Ein griechischer Abend oder einfach nur Heimat
Oh man, wie aufgeregt ich bin. Heute Abend werde ich sie zum ersten Mal live erleben, die magischen Klänge der Bouzouki und die von mir so geliebte Musik aus der Heimat meines Vaters. Das Restaurant „Daphne“ hat zum griechischen Abend geladen und wir sind dabei. Ich freue mich so sehr. Vergessen ist die doofe Klassenarbeit in Mathematik, für die ich den halben Tag gelernt habe. Jetzt lassen wir uns entführen und wir sind gespannt darauf zu sehen, was uns erwartet.
Als wir das Restaurant betreten, ist dieses schon mehr als gut besucht. George, der Chef des Hauses, führt uns an unseren Tisch. Er befindet sich direkt gegenüber dem Platz, an dem später die Band spielen soll. Wir sind also richtig nah am Geschehen. Wie herrlich. Klasse, wenn man einen Vater hat, der Grieche ist.
Ich lasse meine Augen durch das Lokal wandern. Menschen lachen und unterhalten sich angeregt. Aus der Küche weht uns ein verlockender und verführerischer, aber doch auch heimatlicher Duft entgegen. Man hört das Klimpern von Gläsern und sieht Kellner, die fröhlich aber hektisch umher laufen. An der Wand hängen verschiedene Bilder von berühmten Ausgrabungsstätten, denen ich aber nie etwas habe abgewinnen können. Ausgerechnet über der alten Kasse befinden sich eine Ikone der Jungfrau Maria und eine Ewiglichtampel. Alles hier ist wirklich typisch griechisch. Das Ambiente passt also schon mal. Kein Wunder, dass dieses unser Stammlokal ist.
Und die Musiker? Sie sind noch nicht zu sehen, dafür aber ihre Instrumente. Wie stolz, groß und mächtig sie aussehen. So eine Bouzouki wird wirklich noch von Hand gebaut, desto feiner, umso sanfter, klarer und schöner ihr Klang. Oh, ich liebe die griechische Musik, habe sie aber noch nie live erlebt oder gehört. Wir befinden uns in den 90er Jahren. Schnelles Internet, Smartphones oder gar Youtube gibt es noch nicht. Griechenland ist wirklich weit weg und das Ende von Europa.
Niko, einer der Kellner versorgt uns mit Getränken und einer viel zu großen Vorspeisenplatte. „PIKELIA“ genannt besteht sie aus vielen kleinen und unterschiedlichen Köstlichkeiten, wie Oliven, Feta, Brot oder „Tarama“. Letzteres ist eine rosafarbene Creme, die ausschaut wie Erdbeereis, in Wahrheit aber Fisch ist und auch danach schmeckt. Ich mag es, mein Vater liebt es, meine Mutter findet es dagegen gruselig. „Opa, heute gibt es Essen, wie bei die Mama in Athen“, murmelt Niko und er hat dabei denselben griechischen Akzent auf den Lippen, wie ich ihn ich auch von meinem Vater kenne. Die beide wechseln einige Worte, die ich aber nur schlecht bis gar nicht verstehe, denn mein Griechisch ist dafür noch nicht gut genug und die beiden sind mir außerdem viel zu schnell.
Nun kommen die Musiker. Es sind drei Stück, obwohl es vier Stühle und auch vier Instrumente gibt. Sie beginnen mit einigen sehr ruhigen und leisen Instrumentalswerken. Ich kenne sie alle und summe sie leise mit. Die griechische Musik ist meine Leidenschaft. Kein Wunder, denn im Auto oder daheim hören wir fast nichts anderes. Während meine Schulkameraden auf Whitney Houston, Michael Jackson oder Guns Roses stehen, schlägt mein Herz für Sänger wie Stratos Dionysiou, Stelios Katzanzides oder Litsa Diamanti. Ich kann es nicht beschreiben, aber die griechische Musik löst etwas in mir aus, was nur sie in mir erreichen und berühren kann.
So in meine Gedanken versunken beobachte ich auch einen Mann, der an der Bar des Restaurants sitzt. Er wirkt irgendwie speziell mit seinen langen, schwarzen Haaren und dem dunklen Bart. Ich habe ihn noch nie zuvor hier gesehen, aber wirkt auf mich wie ein Künstler, der heimlich auf seinen großen Auftritt wartet. Er nippt einem Glas Ouzo und raucht eine Zigarette nach der anderen. Was das wohl für ein Typ ist!?
Unser Essen kommt. Es wird auf einer großen, runden Platte serviert und enthält Gyros, Steak sowie mehrere kleine Fleischspieße. Ich traue meine Augen kaum, denn diese echte und typisch griechische Art des „Souvlaki“ habe ich bisher hier noch nie gesehen. In Deutschland wird sie nicht angeboten, vermutlich weil sie der Küche viel zu viel Arbeit machen würde. Während hier meist drei kleine Schweinefiletstücke aufgespießt werden, sind es ins Griechenland, so wie an diesem Abend, eher viele kleine, viereckige Fleischwürfel. Sie haben einen ganz fantastischen und eigenen Geschmack, dem sie einem kräftigen Zitronensaft und jede Menge Oregano verdanken. Mindestens jetzt fühle ich wirklich wie daheim, denn mit jedem Biss schmecke und genieß ich die Heimat meines Vaters.
Bei ihm ist das hellenische Flair allerdings noch nicht angekommen. Er sitzt noch immer etwas steif und leicht gelangweilt vor seinem Teller. „Ich will richtige griechisch Musik hören, nicht diese olle Gemüse mit die doofe Sirtaki“, sagt er leise. Da ist er wieder, der von mir so geliebte Akzent. Aber mein Vater hat recht, die Stimmung ist noch etwas mau. Doch das soll sich schon bald ändern.
Als wir unser Fleisch verköstigt und meine Eltern sich ausreichend am Ouzo vergnügt haben, erhebt sich urplötzlich der auffällige Herr von der Bar. Er nimmt auf dem letzten noch freien Stuhl der Band platz und greift zu einer schwarzen Bouzouki. Mit seinem Auftritt wird die Musik deutlich lauter und auch griechischer. Er improvisiert zunächst nur, wandert sinnlich und vorsichtig mit den Fingern über sein Instrument. Dann schließt er die Augen und seine Hände beginnen zu fliegen. Was für ein Musiker. Ein echter Meister seines Faches. Auch mein Vater empfindet das so. „Der Junge er hat goldene Hände, goldene Hände“, ruft er und das nicht gerade leise.
Nun kommen endlich all jene Lieder, die mein Vater aktuell auf seinen vielen Kassetten hat und die sich auch auf seinen verschiedenen Schallplatten finden. Es ist die echte, die richtige, die wahre griechische Musik, wie er sagt. Es sind Stücke, die von Liebe, Heimat, Sehnsucht und Herzschmerz erzählen. Auch wenn ich nicht alles verstehe, ich kann nahezu jedes Lied mitsingen und das bleibt nicht unbemerkt. Einer der Sänger kommt zu uns an den Tisch. „Seid ihr Griechen?“, fragt er und mein Vater grinst. Damit ist unser Schicksal besiegelt. Urplötzlich haben wir Mikrofone in der Hand und wir singen einfach mit. Mein stolzer Herr, sonst eher ernstes und stilles Oberhaupt unsere Familie, ist plötzlich wie ausgewechselt. Er singt, lacht, schnippst mit den Fingern und ich tue es ihm nach. Gäste schauen zu uns herüber, klatschen und feuern uns an. Die Kellner werfen mir ein Lächeln zu und heben anerkennend ihren Daumen. Was zum Henker geht hier ab? Mir laufen die Tränen, denn ich habe meinen Vater noch nie zuvor so gesehen. Das ist so verrückt, so irre und doch einfach nur absolut wunderschön.
Es wird immer später und mit der Länge des Abends ändert sich auch sichtbar das Publikum in dem Restaurant. Es finden sich nun mehr und mehr Griechen aus der ganzen Stadt ein, die hier lecker essen, tanzen und feiern wollen. Meine Eltern und ich sind da schon bei der zweiten Portion leckeren Jogurts mit Honig und als sich dann auch noch ein Trommler und ein Klarinettenspieler zu der Band gesellen, murmelt mein Vater nur noch staunend ein Leises: „Oha, jetzt geht es richtig los“.
Den Höhepunkt des Abends bildet, nicht nur musikalisch, der „Tsifteteli“, der griechische Bauchtanz, der einst aus Persien und der Türkei nach Griechenland kam. Ein Trommelwirbel schwebt durch die Luft. Die Bouzoukis werden schneller und schneller. Die Klarinette übernimmt anregende und fast animalische Soloparts, die sich mitten ins Herz des Zuhörers brennen.
Unweit von unserem Tisch sitzen drei junge Damen, allesamt Griechinnen. Sie lachen, klatschen und gehen voll mit der Musik mit. Als George sie sieht, ruft er: „Aneva“, zu deutsch: „Hoch, auf den Tisch“ und das lassen sich die drei Schönheiten nicht zwei Mal sagen. Beflügelt von der so intensiven und schnellen Musik springen sie nun abwechselnd auf den Tisch. Ihre Körper bewegen sich heiß und verführerisch, so wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Ihr Hüften und Bäuche kreisen anregend durch die Nacht. Mein Vater hat Tränen in den Augen. „Jetzt bin ich Zuhause, re Giannis! Kuck mal das an!“, flüstert er und ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Die Frauen bewegen sich derart erotisch, dass mir fast drohen die Augen auszufallen. Es ist das sinnliche Spiel der Verführung, was man in Griechenland auf jeder Feier und in nahezu jeder Taverne spielt, das einen wirklich gewaltig um den Verstand bringen kann. Nun werden endlich auch Teller und Gläser geworfen. Was für eine besondere und außergewöhnliche Stimmung. Selbst die Kellner tanzen und als wir gegen Mitternacht gehen müssen, habe ich für mich das Gefühl, dieses so herrliche Treiben, es geht noch für Stunden weiter.
Ich verlasse das Restaurant mit dem Gedanken, heute Abend in Griechenland und ganz nah bei meinem Vater gewesen zu sein.
Lang ist dieser Abend her. Nie wieder habe ich so gut gegessen wie damals und nie wieder habe ich meinen Vater so fröhlich und glücklich gesehen. Wie gerne hätte ich ihm diesen Text jetzt geschickt und ihm damit eine Freude gemacht. Leider ist er 2012 jedoch schon von uns gegangen. Aber mit jedem Wort, das ich hier schreibe, sehe ich ihn vor mir und ich weiß welch ein Geschenk es ist, ein Kind zweier Kulturen zu sein.
Vielen Dank für das Lesen meiner kleinen Erinnerung. Allen Teilnehmern viel Glück. Vielleicht denkt ihr ja mal an mich, wenn ihr zu eurem Griechen des Vertrauens geht, an den Jungen, der an diesem Abend seinen Vater mit ganz neuen Augen sah und der so unendlich glücklich war, denn das, das war ich.