Seitenwind Bonuswoche 8: Weihnachtlicher Ausrutscher

Willkommen zur finalen, finalen Woche von Seitenwind!

Lasst uns zusammen noch eine extra Woche Spaß haben und Seitenwind 2023 mit einem Weihnachtsgruß verabschieden!

Deine Perspektive:

Der Weihnachtsmann kommt bei dir vorbei, um Geschenke abzuladen. Schlechter Zeitpunkt. Du erwischst ihn oder er erwischt dich dabei, wie…

Deine Aufgabe:

Eigentlich wolltet ihr alle gerade eure Privatsphäre. Der Weihnachtsmann kommt heimlich in die Wohnung gestiegen und möchte ungestört eure diesjährigen Geschenke unter den Baum packen. Aber du warst gar nicht ins Bettchen gekuschelt. Genau zum falschen Zeitpunkt entdeckt ihr euch gegenseitig: Wer ertappt hier wen … und bei was?

Teilnahme
• Poste deinen Beitrag hier in diesen Thread bis Freitag, den 15.12.2023, 15:00 Uhr.

• Bitte gib nur einen Beitrag pro Wochenthema ab und verfasse ihn neu für die Perspektive. Falls du deine Geschichte lieber aus erzählerischer Perspektive schreiben möchtest, ist das auch OK. :wink:

• Gib den Beiträgen, die dir am besten gefallen, ein Like mit dem Buchicon! Gib laufendes Feedback auf die Beiträge anderer mit Kommentieren.

• Der beliebteste Beitrag wird mit einer Vollversion von Papyrus Autor 11 gefeiert! Zusätzlich verlosen wir ein weiteres Papyrus Autor 11 unter allen Teilnehmern.

@Anachronica , die Gewinnerin der letzten Woche, und jetzt auch @Momo71 schenken ein Papyrus Autor 11 als Los an zwei weitere Teilnehmer! Danke!!

• Details zur Schreibsaison: Seitenwind: Perspektiven. Deine Schreibsaison 2023

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:santa: :mx_claus: :christmas_tree: :snowman_with_snow:

Lametta-Lektorat

So ging ich geschwind meines Weges dahin, wo der eiskalte Schnee meine Spuren verwischte.
Der Satz klingt merkwürdig. Ich sollte ihn umstellen. Einfacher formulieren, etwas prägnanter, irgendwie mit mehr Inhalt versehen. Ich halte die Entfernen-Taste meines Laptops gedrückt.

Vor dem Fenster tanzen Schneeflocken im Lichtkegel der Straßenlaternen. Neben mir knistert der Kamin. Heiligabend. Nur noch sieben Tage bis zum Abgabetermin. Nur noch hundert Seiten. Nur noch… hundert Seiten geteilt durch sieben, das sind vierzehn und ein paar zerquetschte pro Tag. Unmöglich. Ich bin verloren. Dass ich dafür bestens über das Alkoholproblem von Til Schweiger informiert bin, meine Socken gebügelt und die Fliesen mit der Zahnbürste geputzt sind, interessiert meinen Verlag leider wenig. Ich greife nach meinem Smartphone und öffne Instagram. Ach guck, mein letzter Weihnachtsmarkt-Post hat schon 132 Likes.

Schreibblockade würde ich das Knäuel in meinem Hirn nicht nennen, eher chronische Prokrastination. Verdammte Axt. Eine Runde um den Block hat mich beim letzten Mal auch gerettet. Ich schleppe mich vom Arbeitszimmer in den Flur und schlüpfe in meinen Mantel. Leise schließe ich die Tür. Im Treppenhaus riecht es nach Braten. Familie Wegmann von gegenüber hört das Christmas-Album von Michael Bublé. Ich habe einsames Krimi-Schreiben und Metallica im Angebot.

Zwei Stunden, 250 g Mutzen und zwei Glühweine später drehe ich den Schlüssel im Schloss um. Zehn Seiten schaffe ich heute Abend locker. Nur noch eben den Schneeflocken-Post hochladen. Fertig. Zwei Likes, läuft bei mir. Der Mantel hängt wieder an der Garderobe, ab an den Schreibtisch. Ich schlurfe durch den Flur, am Bad vorbei Richtung Arbeitszimmer.

Ein rhythmisches Klacken ertönt. Klack. Klack Klack. Bestimmt zockt Flo von nebenan wieder Fortnite mit seinen Freunden aus dem Internet. Klack Klack Klack. Mmm, nein, das klingt zu dicht. Klack Klack. Halt stopp, das Geräusch kommt nicht aus der Nachbarwohnung. Klack Klack Klack. Es kommt aus meiner Wohnung. Klack. Klack. Aus meinem Arbeitszimmer. Klack. Ich greife nach dem erstbesten Gegenstand. Regenschirm, er erfüllt seinen Zweck. Die Tür ist einen Spalt geöffnet. Langsam pirsche ich mich an. Jemand sitzt an meinem Laptop. Mein Herz donnert so laut in meiner Brust, dass mich jeder Einbrecher bestimmt noch in drei Kilometern Entfernung hören kann. Zu lange her, mir fehlt die Routine. KLACK. KLACK. Ich atme tief ein, halte den Regenschirm wie eine MP5 und stoße die Tür auf. „Halt, Polizei. Keine Bewegung.“ Bevor ich registriere, dass ich nicht auf Streife, sondern in Pension bin, dreht sich dieser Jemand um. Langer weißer Bart, rosige Wangen, roter Mantel. „Ach Santa, du bist es.“ Ich lasse meine Regenschirm-MP5 sinken und gehe auf ihn zu.
„Ja, nur noch kurz die eine Seite. Ich muss auch gleich weiter.“ Er streicht sich über den Bart. „Hier, die eine Stelle, die habe ich dir rot markiert. Das geht so nicht.“ Er zeigt auf die Passage, in der die Leiche im Amrumer Kniepsand eingebuddelt wird. Eigentlich ganz passabel geschrieben, dachte ich zumindest bis eben. Ich beuge mich ein Stück nach vorn. Noch 159 Wörter bis zum Tagesziel. „Ach Santa, du bist unverbesserlich.“

„Eine Weihnachtsgeschichte“

Ich durcheilte die Raumkrümmung hinter dem dritten Stern rechts und flog, getragen von kosmischen Winden, Richtung Erde. Dabei kam mein Schlitten etwas aus der Bahn. Eine Kursabweichung war die Folge, die mich durch das Trümmerfeld bröckelnder Asteroiden zur Erde schleuderte. Bald sah ich die Kugelgestalt des blauen Planeten vor mir auftauchen. „Ho!“, rief ich meinen Rentieren zu, deren Namen ich verinnerlicht hatte wie ein Grundschullehrer die Namen seiner Kinder. Während ich durch die bläulichen Wolkenschichten stieß, zählte ich sie auf, wobei ich mir, beseelt durch den Glühweingenuss, lustige Verse auf ihre Namen ausdachte: „Dasher, Dancer, Prancer – ihr seid keine Necromancer, Cornet, Cupid, Vixen, euch kann man nicht austricksen, Donner und Blitzen, ihr kommt niemals in Schwitzen. Rudolf…", bei Rudolf klemmte der Reim, denn was reimt sich schon auf rote Nase – mir fiel nichts anderes ein als Base oder Blumenvase – was gar nicht ging, denn was hatte das eine mit dem anderen zutun?

Als ich noch darüber nachgrübelte, raste ich bereits mit Mach 3 auf das altehrwürdige Gebäude des St. Ormonds Kinderkrankenhauses in London zu und konnte gerade noch bremsen, bevor ich die Schindeln des Daches abräumte. Geistesgegenwärtig griff ich in die Zügel, wendete mein schlingerndes Gefährt und brachte es mit einem Kreischen auf dem Dachfirst zum Stehen. Nur dem guten Gleichgewichtssinn meiner Rentiere war es zu verdanken, dass sie nicht allesamt von der Schräge Holterdipolter samt dem Schlitten und mir an Bord, in den Abgrund sausten. „Junge, das war knapp“, sprach ich zu mir selbst und nahm noch einmal einen kräftigen Schluck aus der Glühweinpulle. Kalt schmeckt das Zeug wie Knüppel an den Kopf, aber durch den Fahrtwind meiner Reise erhitzt, war der Wein wohlig und warm und mundete mir vorzüglich. Mit einer kleinen Kraftanstrengung hievte ich meinen stattlichen Leib aus dem Schlitten und landete leicht taumelnd auf dem Dachfirst. Dabei glitt mir die Glühweinflasche aus der Tasche, schlidderte über das vereiste Dach und landete mit lautem Plumps im Schnee. Über seinen Verbleib musste ich mir keine Sorgen machen. Dies war London. Irgendeine arme, frierende Seele würde sich des Getränkes gewiss anehmen.

Sei’s drum, dachte ich und zog den großen Sack vom Schlitten, der so prall gefüllt war, dass sich die Ladefläche unter ihm bis zur Belastungsgrenze bog. Er würde die ganze Nacht prall gefüllt sein, so oft ich auch hineinlangte, das war Teil des Zaubers. Den Trick hatte mir mal Fortuna mit ihrem Füllhorn gezeigt und mittlerweile beherrschte ich ihn ziemlich gut. Aber genug von mir; jetzt galt es einen Job zu machen. Mit einem Ruck zog ich den riesigen Sack vom Schlitten und warf ihn mir „Schwupps“ über die Schulter. Er war so gewaltig, dass ich darunter fast verschwand.

Meine Rentiere schnaubten und tänzelten aufgeregt. „Johoho!“ rief ich und lachte in meinen Bart, in Vorfreude des Kommenden. Dann war ich samt Sack mit einem Satz in dem dunklen Kamin verschwunden.

Ruß kitzelte meine Nase als ich abwärts sauste, der warmen Stube entgegen. Unten angekommen erhob ich mich und blinzelte in das schummrige Licht einzelner Kerzen.

Ich befand mich im großen Speisesaal des Krankenhauses von St. Ormond – und ich war nicht allein. Ein Junge stand vor mir, im dünnen Nachthemd, sehr klein und sehr bleich. Aber das war nicht das Schlimmste. Dem Leuchten seiner Augen sah ich an, dass er auch mich sah. Natürlich, er mochte gerade vier Jahre alt sein und glaubte noch an den Weihnachtsmann. Damit war meine Tarnung dahin, ich war komplett aufgeflogen. Für einen Augenblick verließ mich meine sprichwörtliche Gemütlichkeit, kehrte aber sofort zurück als der Junge zu sprechen begann. Seine Stimme war zart und zerbrechlich, wie die eines verletzten Vögelchens.

„Bist du das, Peter?“

Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Welcher Peter?“ fragte ich, „wovon redest du, mein Junge?“

Er wich einen Schritt zurück und klammerte sich an seinen Teddy, der zerliebt und verzottelt in seinen dünnen Ärmchen lag.

„Na, von Peter“, wiederholte er mit zittriger Stimme, die von eimen Hüsteln durchbrochen wurde, „Peter Pan.“

„Ach der Peter“, sagte ich und warf einen mitfühlenden Blick auf das kranke Kind, „Nein, der bin ich nicht. Der Peter ist in Nimmerland.“

„Ich weiß“, sagte der kleine Junge, „aber ich dachte er kommt zurück, um mich mitzunehmen.

Dann kann ich immer dort spielen, mit Peter, der so herrlich Krähen kann und den anderen Kindern dort. Weißt du? Die verlorenen Jungs.“

„Oh ja“, sagte ich, „das wird sicher ganz toll werden. Aber sag mal, spielt hier denn keiner mit dir?"

Der Junge zwinkerte ins Licht und wurde von einem neuen Hustenanfall geschüttelt.

„Die anderen Kinder wollen schon, aber die Schwestern erlauben es nicht. Sie sagen ich bin zu krank und muss im Bett bleiben. Aber ich liege ganz allein da und ich fürchte mich vor dem Dunkeln.“

„Das verstehe ich“, sagte ich.

„Schickst du mich jetzt zurück?“ seine Stimme klang flehend.

„Das sollte ich“, dachte ich bei mir. Ich habe meine Arbeit noch nicht mal begonnen und muss mich schon um ein krankes Kind kümmern. Nicht, dass das wirklich eine Rolle spielte, ich konnte mir so viel Zeit nehmen wie ich wollte. Auf der Wirklichkeitsebene, auf der ich mich befand - und dieser kleine Bursche jetzt auch, spielte Zeit keine Rolle. Die Bescherung dauerte so lange wie sie dauerte, und bis zum Weihnachtsmorgen würden sämtliche Geschenke unter den Bäumen liegen und alles erledigt sein.

Ich betrachtete das kleine Menschlein, das an seinem Teddy geklammert mit triefender Nase vor mir stand, und ein Gefühl der Rührung überkam mich. Der Rat mystischer Wesenheiten würde nicht amüsiert sein, wenn er von dieser Sache hörte. Ganz und gar nicht. Aber war es nicht meine Aufgabe, die Kinder an Weihnachten glücklich zu machen? Alle Kinder. Auch diesen Knirps hier.

„Ich schicke dich nicht zurück“, sagte ich lächelnd unter meinem rauschenden Bart. Das verspreche ich, so wahr ich der Weihnachtsmann bin.“

Der Kleine musterte mich von Kopf bis Fuß, angefamgen bei den schwarzen Stiefeln, über den tannengrünen Rock und Rauschebart bis zu der Mütze mit dem weißen Bommel. Dann legte er den Kopf schief und sah mich aus großen Augen an.

„Du bist nicht der Weihnachtsmann.“

„Na toll“, dachte ich und grummelte in meinen Bart, "da hatten wir es ja wieder. Niemand kannte mehr mein grünes Original- Outfit, das ich noch in Dickens „A Christmas Carol“ getragen hatte. Danke, Coca Cola.“

„Doch“, sagte ich seufzend, „ich bin der Weihnachstmann, der einzige, echte und wahre. Ich weiß, ich habe keine roten Klamotten an, aber die sind…äh…in der Reinigung. Aber glaube mir, Kleiner, ob grüne oder rote Kleidung, ich kann trotzdem Zaubern. Willst du es sehen?"
Und ob er wollte.

„Komm“, sagte ich, „du kannst mir helfen.“

Freudig hüpfte er auf mich zu und beäugte meinen großen, tonnenschweren Geschenkesack.

„Christmassus!“, rief ich und der Sack öffnete sich wie von Geisterhand. Ein Strom von Geschenken quoll daraus hervor. „Und jetzt du“ forderte ich den Jungen auf.

„Christmassus!“, rief der Kleine begeistert, und eine Lawine von Süßigkeiten ergoss sich in die Halle. Eine Wolke von Zimtsternen wirbelte durch die Luft und sank knisternd zu Boden, Lebkuchen-Männer hüpften durch den Raum, weiß-rot- gestreifte Zuckerstangen stellten sich auf zum Spalier. In Folie gewickelte Marzipanbrote stapelten sich wie Goldbarren und Berge von Lebkuchenherzen luden zum Schmaus. Ich machte eine Geste und der Weihnachtsbaum entzündete hundert helle Lichter. Silbernes Engelshaar und buntes Lametta erstrahlten in überirdischem Glanz.

Mein kleiner Freund lächelte angesichts dieser Sinn betörenden Pracht und ich erwiederte sein Lächeln. Schüchtern reichte er mir die Hand und ich umschloss sie behutsam mit meiner großen Pranke. So blickten wir eine Weile auf den Weihnachtszauber und ein warmes Gefühl erfüllte unser Sein.

Ich lächelte, aber ein Gefühl der Traurigkeit schlich in mein Herz, als ich durch den dünnen Stoff meines Handschuhs fühlte, wie die Hand des Jungen kälter wurde und immer kälter. Behutsam nahm ich ihn auf und drückte ihn fest an mich. Sein kleines Köpfchen sackte an meine Brust.

Ich spürte, wie die Müdigkeit in ihm Raum einnahm.

„Das war schön, Weihnachstmann“, sagte er und hüstelte leise.

„Ja, das war schön.“

„Die anderen Kinder werden sich über die Geschenke freuen, nicht?“

„Ja, das werden sie.“

„Und über die vielen Süßigkeiten.“

„Ja, die auch.“

Ich streichelte über seine schweisnassen Locken.

Noch einmal weiteten sich seine Augen. Hoffnung lag in seinem Blick.

„Bringst du mich jetzt nach Nimmerland?“

Ich sah ihn überrascht an.

„Das kannst du doch? Du bist der Weihnachstmann.“

„Ja, sagte ich“, und umfasste seine kleine, kühle Hand, „das kann ich.“

„Ich bin so müde“, murmelte er.

„Dann schlaf“, sagte ich, „ich bringe dich nach Nimmerland. Dort wirst du unter den Sternen spielen, mit Peter Pan und den anderen Kindern. Du wirst mit Peter Krähen und mit ihm gegen die Piraten kämpfen. Auch gegen Käptn Hook, den Schlimmsten von allen. Aber auch der wünscht sich etwas zu Weihnachten…

Aber das hörte der kleine Bursche schon nicht mehr. Leise schlich ich mit dem Kind im Arm den dunklen Flur hinab und öffnete die Tür am Ende des Ganges. Dort war es still. Nur ein leichter Luftzug wehte durch den Raum. Ich betrat das Zimmer. Hinter der schneebehauchten Scheibe tanzten weiße Flocken. Der Geruch von Hustensaft hüllte mich ein. Langsam ließ ich den Jungen in das Federbett sinken, das ihn warm und weich empfing. „Ich wünsche dir Glück, mein Kleiner“ sagte ich und küsste ihn sanft auf die Stirn. Im Hinausgehen sah ich noch einmal zu dem Jungen hin. Er schlief friedlich, wie ein kleiner Engel. „Fröhliche Weihnachten“, flüsterte ich und schloss leise die Tür.

Wunder gibt es immer wieder

Endlich bin ich wieder allein. Mit der Gurkenmaske im Gesicht, Lockenwicklern im Haar und einem Glas Weißwein schlurfe ich ins Wohnzimmer.
Der Verwandtschaftsbesuch ist überstanden, die Wohnung wieder in ihrem Ursprungszustand. Erschöpft sinke ich auf das Sofa und genieße die Ruhe vor dem Kaminfeuer.

Es rumpelt. Rußwolken stieben aus dem Kamin.
Als die Sicht wieder klar wird, sehe ich den Weihnachtsmann zu meinem geschmückten Tannenbaum schleichen und zwei Päckchen ablegen.

Gutes Stöffchen, denke ich und nehme noch einen großen Schluck Wein.

Der Weihnachtsmann macht sich auf den Rückweg zum Kamin, sieht mich und erstarrt. „Ich bin doch auf der Erde, oder?“

Peinlich berührt, stelle ich mein Glas ab und entferne mit einer Serviette den Großteil der Gurkenmaske. „Ja, bei Luna Wonder.“

Sichtlich erleichtert, geht der Weihnachtsmann weiter. „Na dann: Frohe Weihnachten! Und nicht traurig sein, den einen Wunsch konnte ich leider nicht erfüllen.“

„Welchen? Die extrem flauschigen Winterstiefel oder den großen Rucksack für die aktive Frau?“

„Nein, die liegen dort.“ Er holt eine Liste hervor. „Hier steht, ihr sehnlichster Wunsch sei einen netten Mann kennenzulernen.“

Ich bin irritiert. „Liefern sie auch Männer in Weihnachtspaketen aus?“

„Nein. Ich verschenke keine Menschen.“ Auch der Weihnachtsmann scheint mittlerweile verwirrt zu sein. „Aber ich muss immer alle Wünsche erfüllen, die auf der Liste stehen.“

„Und auf der steht, dass ich einen Mann bekomme?“

„Ja, einen geselligen, reisefreudigen, der gerne jeden Wunsch erfüllt.“

Hm. Ich sehe mir den Weihnachtsmann an. Das Bäuchlein ist ja ganz gemütlich und gegen den Bart kann man was unternehmen. „Möchten sie vielleicht einen Schluck Weißwein?“, frage ich.

a nightmare before christmas

Ich habe Weihnachten noch nie gemocht. Als Kind war es jedes verdammte Jahr ein Albtraum, wenn mein alkoholabhängiger Vater meine Mutter verprügelt hat, weil der Braten entweder nicht gar oder zu gar war, wenn nicht rechtzeitig eine neue Flasche Bier auf dem Esstisch stand oder wenn ihm ihre schlichte Anwesenheit den letzten Nerv raubte. Und Geschenke gabs auch nicht. Traumhafte Kindheit, was?

Eine gute Handvoll Jahre später bin ich wieder hier. In meinem Elternhaus, dessen Geruch all die Emotionen hochkochen lässt, die ich so gerne verdrängen möchte. Alleine der Geruch, den dieses Haus verströmt. Es sollte sich nach Geborgenheit oder Heimat anfühlen, stattdessen spüre ich nur Ekel. So sehr, dass sich die Haare auf meinen Armen aufstellen. Ich schüttele mich. Straffe meine Schultern. „Du kannst das, Tom. Einmal im Jahr zusammenreißen und dem Schauspiel der heilen Familie frönen. Einen fucking einzigen Tag.“ Mein Abbild im Spiegel sieht nicht gerade so aus, als würde es mir glauben. Ich wende mich ab und begebe mich langsamen Schrittes nach unten in das Esszimmer. Bereits im Flur übertönt laute Weihnachtsmusik jegliche andere Geräusche. Meine Mutter steht am Herd, mein Vater sitzt mit Bier in der Hand am Tisch und meine Schwester und ihr Freund schmücken den Baum. Würde jemand durch das Fenster schauen, könnte man glauben, die perfekte Familienidylle zu sehen. Nur dass es diese nur im Film gibt. Ein kleines Schnauben entrinnt mir. Es hört eh keiner. Ich warte einige Zeit im Halbdunkel des Hausflures.
„Essen ist fertig.“ Let the games begin. Mein Vater bewegt sich keinen Zentimeter. Mutter räumt, emsig wie eine kleine Biene, alles auf den Tisch. Knödel, Bratensauce, Ente, Rotkohl, Kroketten, Kaisergemüse. Ein Sammelsurium von dem, was vielleicht als die deutsche Küche bezeichnet wird. Keine Ahnung. Stillschweigend wird Essen verteilt und leises Schmatzen erfüllt den Raum.
RUMMS. Die Faust meines Vaters knallt auf den Tisch. Lediglich Sarahs Freund zuckt zusammen. Der wird sich noch daran gewöhnen.
„Trocken.“ Niemand wagt es, ihm zu widersprechen. Er wird wohl die Ente meinen. Die Augen von Mutter füllen sich mit Tränen, als sie den Blick nach unten zur Tischdecke wendet und den Kopf schüttelt.
„Tut mir leid.“ Ganz leise und demütig kommen diese Worte aus ihrem Mund. Für den Hauch eines Moments fühlt sich mein Herz ganz schwer an. Solange, bis die Kälte wieder die Oberhand in meinem Körper gewinnt und ich kein Gefühl mehr empfinde.
KLATSCH. Ich brauche nicht hinsehen, um zu wissen, was geschehen ist. Vaters Hand an Mutters Wange. Klassiker. Erneutes KLATSCH. Sie beginnt leise zu wimmern.
„Hör auf.“ Meine Stimme ist ganz ruhig. KLATSCH. KLATSCH. KLATSCH. „Ich habe gesagt, hör auf!“ Geräuschvoll schiebe ich meinen Stuhl zurück. KLATSCH. Ab jetzt passiert alles rasend schnell. Ich hechte um den Tisch, schubse meine Mutter zur Seite, damit sie aus der Schusslinie ist. Hinter mir lautes Rumpeln. Vor mir die wütend funkelnden Augen meines Vaters.
„Für wen hälllllllst du dich?“ Lallende Worte. Erneutes Rumpeln. Die Hände meiner Mutter an meinen Schultern.
„Mach das nicht, Tom.“ Kurz unaufmerksam, schiebe ich sie weg und kassiere im selben Moment die Faust meines Vaters im Gesicht. „Mmmmmh“, dringt aus meinem Mund. Ich schmecke Blut.
„Toooooooom!“ Meine Mutter, die schon wieder hinter mir ist.
„Geh Mutter. Geh und nimm Sarah und Peter mit und geh. Bitte!“ Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal bitte gesagt habe, als die Faust erneut mein Gesicht trifft und ich taumelnd einige Schritte rückwärts gehe. Es reicht. Heute hat er den Bogen überspannt. Von meiner Wut beflügelt renne ich auf ihn zu, stoße ihn zu Boden und lege meine Hände um seinen Hals. Er weiß, dass ich stärker bin. Rudernde Armbewegungen versuchen meine Hände zu lösen. Keine Chance. Ich könnte jetzt aufhören. Habe ihm ja gezeigt, dass ich stärker bin. Aber ich kann nicht. Eine Träne löst sich aus meinem linken Auge, während ich weiterhin mit aller Kraft zudrücke. Schon wieder ein Rumpeln hinter mir, dieses Mal so laut, als wenn jemand auf den Hintern geplumpst ist. Ich kann den Blick nicht von den verzweifelten Augen meines Vaters abwenden. Er wehrt sich schon gar nicht mehr. War’s das jetzt? Für immer?
„Was ist denn hier los?“ Die tiefe, männliche Stimme hinter mir kommt mir unbekannt vor. Ich drehe langsam den Kopf, meine Hände verharren in ihrer Position.
„Was zum…?“ Der weißbärtige Mann mit dem rot-weißen Kostüm guckt mich genauso erstaunt an, wie ich ihn. Immerhin besser als die Polizei.

Trigger Warung: Suizid

This ist the end, my friend

Weihnachten. Der schlimmste Tag des Jahres. Einsamkeit tut immer weh, aber besonders, wenn alle anderen mit ihrer Familie feiern und man selbst noch mitten in der Nacht vor dem halbherzig geschmückten kleinen Bäumchen sitzt, das sich bereits ein paar braune Nadeln zugelegt hat, als ob es sagen wollte: „Ich teile deinen Trübsinn, schau her, ich bin schon tot und weiß es auch.“
Was also war zu tun? Ich legte eine alte Platte von den Doors auf und ließ mich mit „This ist the end“ in weihnachtliche Stimmung bringen. Meine weihnachtliche Stimmung.

The end
No safety or surprise
The end
I’ll never look into your eyes again

Dann schlenderte ich zum Schreibtisch, zog die Schublade auf und wog das schwere, schwarze, kalte Stück Metall in meiner Hand. Das fühlte sich irgendwie gut an. Weihnachten ist der Tag, an dem sich die meisten Menschen umbringen. Mir war klar, warum.
Ich zögerte nur kurz. Dann schob ich die Patrone in die Trommel. Eine nur. Eine reicht.

Can you picture what will be?
So limitless and free

Sollte ich die müde flackernden Kerzen am Weihnachtsbaum noch löschen? Besser. Nicht, dass noch ein Brand ausbricht. Die anderen Familien im Haus sollten ihre Feier haben. Ich stand wieder auf. Ach ja … und ein Kissen würde ich noch brauchen. Wegen des Krachs.

Ride the highway West, baby

Das rote Kissen. Das passt zu …

Boing! Knirsch! Was zum …?

„Oh.“ Der Body-Positivity Typ im roten Zwirn schaute mich überrascht an. „Tschuldigung, ich dachte nicht, dass noch jemand auf ist …“

„Scheisse, wer bist du denn? War der Eierlikör vorhin schlecht gewesen? Eine Flasche, dass müsste doch noch gehen. Oder hab’ ich etwa schon …?“ Irritiert schaute ich auf das Ding in meiner Hand. Sah man so Zeugs, nachdem man sich? Nö, das müsste ich doch gemerkt haben.

„Was machst du denn da?“ Wollte der Rauschebart wissen. Sein Blick war meinem auf die Waffe in meiner Hand gefolgt. „Du willst doch nicht etwa …? Mann, das gibt eine Million Miese auf deiner Unartig-Liste!“

„Du bist nur eine Einbildung. Geh’ weg! Nerv nicht!“

Statt zu antworten, sprang er mich und versuchte, mir den Revolver aus der Hand zu winden. Ganz schön flink für den Bauch und ganz schön energisch für eine reine Einbildung.
Es kam zum Handgemenge.
Der Schuß löste sich.

Die Doors waren gerade angekommen bei:

Fuck, fuck-ah, yeah
Fuck, fuck

„Autsch! Das hat gezeckt!“ Der Rote hielt sich das Bein.

„Oh. Tut mir leid, das wollte ich nicht.“

„Beim Bart des Nikolaus! Wie soll ich denn jetzt mit einem Bein meine Tour fahren?“ Er kniff die Augen zusammen und sah mich an. „Außerdem kann ich dich ja nicht aus den Augen lassen … Ok, da gibts nur eins - ich fahren den Schlitten, du lieferst aus!“

„Ich soll was?“

But you’ll never follow me, sangen die Doors und kamen langsam zum Ende. Irgendwie hatte ich den richten Moment jetzt ohnehin verpasst. Also was soll’s? dachte ich.

Naja, und so kam es, dass ich an dem Weihnachten als Santas Helfer eingeteilt wurde und seitdem bin ich ein anderer. Einen Ersatzmantel hatte er mir noch abgegeben aber die Begabung zur relativen Unsichtbarkeit hatte ich nicht irgendwie von Santa aufgeklebt bekommen und so traf ich viele Menschen, die mich sahen. Viele glückliche Kinder, viele neue Freunde. Nächstes Weihnachten wird nicht einsam. Ach so, und Sylvester auch schon nicht. Moment mal, ist der Eierlikör etwa schon alle?

Friederike

Ich bin sauer. Stinksauer. Es ist kalt, der Schnee ist feucht, und es ist nichts zu Essen da. Darum hocke ich hier auf der Terrasse, starre durch die gläserne Tür ins Innere, wo ein Weihnachtsbaum leuchtet, und zerkaue einen Gummischuh. Rache dafür, dass die Menschen auch an diesem Abend ihre Hühner wieder im Stall eingepfercht haben und mir nicht einmal eins draußen gelassen haben. Dabei ist Weihnachten! Was ist mit Barmherzigkeit und Nächstenliebe?
Ja, klar, nur nicht für einen Fuchs.
Ich kaue, das entspannt. Der Gummi wird immer geschmeidiger.
Dann rumpelt es mit einem Mal im Inneren und ich springe erschrocken auf. Doch keiner der hier hausenden Menschen kommt durch die Tür, um mich wieder mit wildem Geschrei zu verjagen. Stattdessen zwängt sich ein fetter Mann in appetitlichem Rot durch den Schlot, unter dem manchmal Feuer brennt. Interessant, ich habe nicht gewusst, dass das ein Durchgang ist.
Der Mann hustet, klopft sein Fell ab und richtet sein weißes Haar, dann stiefelt er zum Baum hinüber. Er fängt an, Boxen in bunten Farben dort zu deponieren, die er aus einem Kartoffelsack holt.
Keine Gefahr, beschließe ich und lasse mich wieder nieder. Kaue weiter an dem Schuh und schaue zu. Der Mann wird fertig und richtet sich mit einem Schnaufen auf. Ich glaube, seine Wirbelsäule knackt, als er sich streckt.
Und dann entdeckt er mich. Er sieht überrascht aus. Aber er fängt nicht an, wild herumzuschreien, darum bleibe ich entspannt liegen und kaue weiter. Mittlerweile habe ich genug gekaut, dass meine Wut verraucht und der Schuh im Grunde nur noch Matsch ist. Zum Glück stehen ja noch andere hier herum.
Dann bewegt sich der Mann. Moment, kommt er jetzt etwa doch her? Oh, verdammt! Ich trete den Rückzug an.
Etwas segelt an mir vorbei und ich bremse abrupt ab. Vor mir im Schnee liegt ein Gummihuhn.
„Für dich“, sagt der Mann. „Fröhliche Weihnachten!“
Ich starre verdutzt zurück, aber von dem Mann ist nichts mehr zu sehen. Ich meine, in der Ferne noch Hufe klappern zu hören und ein wenig Rentier zu riechen, ansonsten keine Spur.
Reinecke schüttelt später fassungslos den Kopf, als ich mit dem Gummihuhn in den Bau komme, und behauptet, ich hätte mich reinlegen lassen. Ich kaue auf dem Gummihuhn herum und kümmere mich nicht darum. Es ist das beste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe!
Ich glaube, ich werde das Huhn Friederike nennen.

Das innere Kind

Sonntagabend 18:00 Uhr – das Feuer im Kamin knistert, die Duftlampe ist mit Bratapfelduft geladen und die Kuschel-Anti-Rutsch-Socken passen wie angegossen. Es ist der siebte Urlaubstag, 14 weitere werden noch folgen. Das Leben ist schön.

Vor mir flimmert das dritte Weihnachtsspecial des Tages auf dem großen LED-Bildschirm. Helene Fischer, die gerade noch in einer anderen Show zu sehen war, begrüßt mich auch dieses Mal mit einem herzlichen: „Seid ihr bereit für die beste Show des Jahres?“
Ich erhebe mein übervolles Weinglas und dekoriere die warme Kuscheldecke ein weiteres Mal mit einem roten Fleck. „Verdammte Helene“, murmle ich, während ich versuche, die dicken Tropfen mit meinem übergroßen Pulli aufzuwischen.

Vorwurfsvolle Blicke treffen mich vom anderen Ende der Couch. Die spitzen Ohren sind nach hinten gelegt, der Körper angespannt. In meinen Gedanken zähle ich herunter. Drei, zwei … es klingelt.
„Perfekt“, murmle ich, springe auf und tätschle dem Hund auf den Kopf, bevor ich meinen Geldbeutel schnappe und zur Tür eile.
Der Fahrer sieht müde aus.
„Sie sind die letzte Lieferung heute, guten Appetit und schöne Weihnachten.“
Ich drücke ihm den zusätzlichen Zwanziger in die Hand und schließe die Tür hinter mir. Der Duft von fettiger Salami drückt sich aus allen Ritzen des Kartons und zieht eine unwiderstehliche Wolke hinter mir her. Nun trottet auch der zweite Hund aus dem anderen Zimmer zu mir und sieht mich ebenfalls vorwurfsvoll an. „Denk nicht mal dran“, ermahne ich ihn, während ich den Karton auf die rot befleckte Decke lege und von einem großen Stück der Pizza abbeiße.

Ein perfekter Abschluss für einen stinknormalen Tag. Weihnachten, wer braucht das schon? Konsum und Völlerei – nicht mit mir. Manchmal denke ich an die Zeit zurück, als ich als Kind vor der Küchentür meiner Eltern stand und mir eingebildet habe, den Weihnachtsmann zu sehen. Die Zeiten sind lange vorbei, die Magie längst verflogen.
Ich gönne mir ein weiteres Glas des schweren Rotweins und merke, wie der Alkohol meine Muskeln schmerzen und meinen Geist benebeln lässt. Helenes grelle Stimme wird leiser und leiser. Ein letzter Blick auf die Uhr, bevor meine Augen endgültig zufallen. 19:30 Uhr – ein neuer Rekord.

Ein lautes Knistern lässt mich aufschrecken. Die schemenhaften Umrisse eines roten Riesen treibt das Adrenalin durch meinen Körper. „Was zum …?“
Die Umrisse werden deutlicher und dann gestochen scharf. Ein alter… mehrgewichtiger Mann mit weißem Bart in einem roten Samtanzug kruschtelt geschäftig unter der 20 cm Plastiktanne.
„Ey!“
Sanfte Augen werden zu weit aufgerissenen, schwerfällige Bewegungen zu panischen.
Fuck! Ein scheiß Einbrecher an scheiß Weihnachten? Ich schnappe den ersten Gegenstand, der mir in die Finger kommt und stürme los.
Der durchgeweichte Pizzakarton landet im Gesicht des perversen Spanners. An seiner rechten Gesichtshälfte bahnt sich ein Stück labbrige Pizza seinen Weg nach unten.
„Mach, dass du hier wegkommst!“

Wo sind die Hunde, wenn man sie mal braucht? Mein Pfiff hallt durch die Wohnung, doch nichts passiert. Der Karton erweist sich als ungeeignete Waffe, und ich entschließe mich dazu, mit einer ungraziösen Wende nach einer besseren zu suchen. Die leere Weinflasche auf dem Tisch schreit mich förmlich an, ihrem Leben einen weniger traurigen Sinn zu geben, und ich gehorche. Als ich mich weit ausholend umdrehe, um den Halunken endgültig zu vertreiben, fällt die Flasche ins Leere und zerbricht in tausend Teile.
Ich starre auf die leere Ecke des Zimmers und sinke auf den Boden. Alles um mich herum wird schwer und schwarz.

Zwei übergroße, müffelnde Zungen rollen über mein Gesicht. Durch die Fenster dringt das erste Licht des Tages und verwandelt sich zu einem kaum auszuhaltenden Schmerz in meinem Kopf.
„Scheiß Weihnachten. Scheiß Wein. Scheiß Albtraum.“

Ich greife nach dem Pizzakarton, doch meine Hand prallt an der Tischkante ab. Seltsam, ich hatte ihn doch genau da hingestellt? Mein Blick wandert durch den Raum und bleibt auf dem Sideboard hängen. Die verbeulte Schachtel lässt mein Herz schneller schlagen. Schnell suche ich nach der Weinflasche auf dem Tisch, doch auch sie ist verschwunden. Nun rast mein Herz und die Hitze strömt durch meinen Körper.

Wie gelähmt stehe ich auf und betrachte den Boden in der Ecke des Raums. Unzählige grüne Glasscherben funkeln im einfallenden Licht. Ganz vorsichtig drehe ich mich zur Seite und blicke auf das Plastik-Tännchen. Das kann jetzt wohl nicht wahr sein.

Auf dem kleinen Umschlag leuchten schwungvoll geschriebene Worte:

Manchmal lohnt es sich zu glauben. Im Herzen sind wir alle Kinder auf der Suche nach der Magie. Viel Spaß mit Papyrus 11 – Frohe Weihnachten“

„Oh fuck.“

Weihnachtswunder

Zwischen dem Weihnachtsmann und dem Räuber blitzt ein Messer. Schneeflocken fallen träge auf die Straße, hell erleuchtet im runden Schein der Straßenlaterne. Es ist still im Viertel, in den Fenstern hängen Lichterketten. Auf der Hauptstraße gleiten beinahe lautlos ein paar Autos vorüber, ihre Scheinwerferkegel streichen langsam vorbei.
“Da drinnen sind Kindergeschenke”, sagt der Weihnachtsmann. Er hat die Arme erhoben, der braune Sack baumelt herunter. Der falsche weiße Bart flattert beim Sprechen an der Oberlippe.
“Hättest einen anderen Weg nehmen sollen”, sagt der Räuber. Das Messer in seiner Hand zittert, er trägt eine dünne Jacke.
“Hast du mir zugehört? Das sind Geschenke für die Nachbarskinder. Ein Teddybär. Spielzeugautos. Bücher. Nichts womit du etwas anfangen kannst.”
“Dann gib mir Geld!”
Der Weihnachtsmann nimmt die Arme langsam herunter, der Sack voller Geschenke sinkt leicht in den frischen Schnee. Er greift in die Innentasche des Mantels, holt ein Portemonnaie hervor, hält es dem Angreifer hin. “Wie heißt du?”
Der Räuber greift nach der Geldbörse, steckt sie in seine Jacke. Dann dreht er sich um und läuft eilig davon, beide Hände in den Taschen.
“Hey, warte! Brauchst du meinen Mantel?”
Der Räuber bleibt stehen, der Weihnachtsmann läuft auf ihn zu.
“Es ist kalt. Wenn du noch die ganze Nacht Leute ausrauben willst, könntest du ihn nehmen, um dich warm zu halten.”
Der Räuber sieht den Weihnachtsmann ungläubig an. “Warum tust du das?”
“Wenn du den Weihnachtsabend ohne Familie verbringst und andere Leute ausraubst, brauchst du das Geld wohl wirklich dringend. Ich will nur ein paar Kindern Geschenke bringen. Die freuen sich auch, wenn ich ohne Mantel komme. Ich werde einfach sagen, ich hätte ihn im Schlitten gelassen.”
Der Räuber bewegt die Lippen, aber antwortet nicht.
“Ich heiße übrigens Sammy”, sagt der Weihnachtsmann.
“Jack”, sagt der Räuber.
“Ich mache dir einen Vorschlag, Jack. Ich gehe hoch und bringe den Kindern die Geschenke. Danach wollte ich einen Kaffee trinken, an der Hauptstraße liegt ein Café. Komm mit, ich lade dich ein. So lange kannst du dich im Hausflur wärmen.”

Als der Weihnachtsmann und der Räuber eine halbe Stunde später das Café betreten, werden sie von der Wärme des Gastraums, Gesprächen von den Tischen und Weihnachtsliedern aus den Lautsprechern empfangen. Sie reden, trinken Kaffee, essen Kuchen.
“Ich fürchte, ich habe zu viel versprochen”, sagt der Weihnachtsmann nach einer Weile. Er hat den falschen Bart abgelegt, der rote Mantel hängt an der Garderobe. “Du wirst mich einladen müssen. Du hast noch mein Geld.”
Jack holt aus seiner Jackentasche das Portemonnaie und gibt es zurück.
“Du kannst das Geld darin behalten, wenn du mir einen Wunsch erfüllst”, sagt der Weihnachtsmann.
“Welchen?”
“Überlass mir dein Messer.”
Der Weihnachtsmann lächelt. Jack zögert kurz, dann schiebt er die Klinge über den Tisch. Er bezahlt, der Kellner wünscht einen schönen Weihnachtsabend, die beiden stehen auf und gehen. Die Hauptstraße ist beleuchtet von Straßenlaternen, Lichterketten und dem warmen Licht aus den Fenstern.
“Danke, Sammy.”
“Keine Ursache, Jack. Frohe Weihnachten.”

Sturmfrei! Endlich!

Kein Mann im Haus, der frägt wann das Essen fertig ist oder wo irgendwas in der Küche steht. Letzteres kann Mann ja auch nicht wissen. Mann lebt ja auch erst seit 15 Jahren in diesem Haushalt.

Mann ist bei Freunden und hilft beim Aufstellen von deren überdimensioniertem Weihnachtsbaums. Über zwei Meter Baum wollen bezwungen werden und dazu braucht der Hausherr tatkräftige, männliche Unterstützung.

Frau, also ich, hat damit zuhause ihre Ruhe, liegt tiefenentspannt in der heißen Badewanne und genießt nebenbei ein Gläschen Rotwein. Gut, mittlerweile ist das Wasser nur noch lauwarm. Den verschrumpelten Fingern nach dümpel ich wohl doch schon etwas zu lange in den Fluten. So langsam könnte ich mal aus dem Wasser steigen und nach dem Weihnachtsbraten sehen. Das aus der Wanne steigen gestaltet sich jedoch etwas schwieriger als erwartet. Ein Blick auf die Flasche verrät mir, dass es wohl mehr als ein Glas war. Ups!

Frisch trockengerubbelt und im Evaskostüm schlurfe ich Richtung Küche, vorbei am Wohnzimmer, in dem unser Weihnachtsbaum, bereits geschmückt, fröhlich mit der Lichterkette blinkt.

Plötzlich poltert es dort laut. Ob der Kater schon wieder versucht, die Tanne zu erklettern? Ich drehe mich um und suche den Baum ab. Nein, da bewegt sich nix. Ein Blick auf den Kratzbaum verrät, dass das gesuchte Getier selig in der obersten Hängematte pennt.

Ich schüttle verwirrt den Kopf und will meinen Weg Richtung Küche fortsetzen, doch beim Umdrehen fällt mein Blick auf den Kamin und den Mann in Rot davor.

Ähhh, Moment!

Mein weinvernebeltes Hirn versucht, das Bild vor mir zu ordnen. Ich blicke den Mann mit zusammengekniffenen Augen an. Das ist nicht Meiner. Der besteht nur aus Muskeln und Knochen von seiner ewigen Sporttreiberei. Das Exemplar vor mir kennt Sport wohl nur vom Hörensagen, wenn man den Umfang seiner Leibesmitte in Betracht zieht. Offensichtlich fehlen ihm ebenfalls die Worte, denn er starrt mich immer noch an, als hätte er noch nie eine Frau gesehen. Eine nackte Frau, wie mir da siedendheiß einfällt! Ich hechte entsetzt hinter die Couch und blicke über die Lehne wieder auf den Mann.

Dieser bückt sich langsam und hebt das Päckchen auf, das ihm bei meinem Anblick aus den Händen gefallen ist, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Er legt das Geschenk vorsichtig auf den Couchtisch und geht rückwärts Richtung Kamin. Noch immer bin ich sprachlos, was wirklich nur äußerst selten vorkommt. Er nickt mir langsam zu, räuspert sich umständlich. Dann sagt er trocken „Fröhliche Weihnachten!“ und verschwindet durch den Kamin. Ob der mit Harry Potter verwandt ist?

Ok, definitiv zu viel Wein auf fast nüchternen Magen.

Ich warte noch einige Minuten, während ich versuche, das Geschehene einigermaßen logisch zu begreifen. Bevor ich ganz hinter der Couch hervorkomme, krabble ich auf allen Vieren zum anderen Ende der Couch und schnappe mir eine Decke. Darin eingewickelt gehe ich langsam auf den Tisch zu. Zwei Geschenke stehen darauf. Mein Name ist auf einem der beiden, also packe ich es aus. Es ist eine Karte darin „Danke für die interessante Abwechslung an einem stressigen Abend“ und ein neuer Bademantel…

Der Weihnachtsmann, der Weihnachtsmann, der hat keine Hose an…

„Hey Süßer, du hast aber einen ordentlichen Bart. Und eine samtene Hose. Auch was drunter?“ Ich schrecke auf und lasse die Geschenke fallen. Um Gottes willen! Ein Mensch, eine Frau ist da und sie sieht mich! Ich gerate in Panik und überlege, ob ich mich Totstellen sollte. Vielleicht, wenn ich so tue, als wäre ich nur eine Weihnachtsmann-Figur, wird die Frau gehen? Ich stehe ganz still da und halte den Atem an. Die Frau wippt ein wenig und starrt mich konzentriert an. Ich sehe, dass es ihr schwerfällt, sich zu fokussieren. Sie torkelt in meine Richtung und richtet die Brille auf der Nase. In ihrem Haar steckt etwas schief eine glitzernde Krone und ein Tannenzweiglein. Sie streckt ihren Zeigefinger in meine Richtung. „Duuuu Weihnachtsmann, ich sehe dich.“ Ein glückliches Lächeln erstrahlt auf ihrem Gesicht. Sie hat wohl zu tief in die Flasche geschaut, denke ich mir.

„Bin vollkommen betrunken!“ Trällert die Frau und lächelt begeistert. Kann sie mich sehen, und sogar meine Gedanken lesen? Ich kann es kaum glauben. Was passiert hier? Wie ist das möglich. „Weiß ich nicht.“ Nuschelt die Dame und fängt an, an meinem Bart zu zupfen.

„Was hast du denn drunter Pummelchen?“ Sie greift mich unsanft am Bauch und kichert. Nicht zu fassen! Ich bin entrüstet und beschämt. Ich muss hier weg, so schnell es geht.

„Das tut mir wirklich unendlich leid Gnädigste, sie verwechseln mich wohl. Ich wollte nur ganz kurz die Geschenke abladen und dann bin ich schon schnell weg.“ Ich versuche mich, aus dem eisernen Griff der Frau zu befreien, und fange an zu schwitzen. Das bekommt mir gar nicht gut.

„Ho, ho, ho.“ Flötet währenddessen die Dame. „Nichts da mit schnell weg. Du bist doch ein Wwwweichnachtsmann, also beschenke mich gefälligst.“ Sie lächelt unanständig und macht Schmollmund. „Ich war ein sehr braves Mädchen und habe sicher ein Geschenk verdient. Bidde!“ Ihr feuerroter Schmollmund kommt mir gefährlich nah. Ich wende einen Trick an und schlüpfe aus meiner roten Jacke. Die Frau kichert begeistert und schreit „Habe ich dich!“ „Nein hast du nicht!“ Werfe ich gereizt zurück und manövriere mich zum Kamin. Doch weit komme ich nicht. Mit einem gewaltigen Sprung überwindet die Dame die Entfernung zwischen uns und bringt mich zum Fall. Ich zappele und kämpfe verzweifelt und denke an alle die Kinder, die heute keine Geschenke bekommen werden, weil der Weihnachtsmann ganz offensichtlich in eine schreckliche Falle geraten ist.

Der Gedanke an die Kinder macht mich richtig sauer. Ich bin ein wirklich netter Weihnachtsmann, aber das hier, das geht gar nicht. Ich entschuldige mich innerlich und gebe der Angreiferin einen gekonnten Tritt. Sie grunzt und fällt von mir runter.

Ich schnappe nach Luft und robbe mich so schnell ich kann zum Kamin. Die Dame kriecht mir auf allen vieren hinterher und packt mich fest am Bein. Ich schreie in Panik. Als ihr verwuschelter Kopf plötzlich in meinem Sichtfeld auftaucht, wird doch einiges klar. Die Schminke ist verwischt und unter der blassen Farbe offenbart sich eine grüne Visage. Dich kenne ich doch, du bist doch der, der…! Der Grinch grinst frech und zeigt mir seine langen, spitzen Zähne. Ich wache auf.

Ach du liebes Bisschen, was für ein Traum. Eine Frau, na sowas! Das ist ja ein Ding. Ich bin erleichtert und strecke mich genüsslich in meinem schönen Bett. Etwas liegt schwer auf meiner Hand. Ich drehe mich um und sehe ihn schlafen. Eine dauerhafte Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen süße Stupsnase, weiches, smaragdgrünes Fell. Er schnarcht und murmelt etwas im Traum. „Habe ich dich.“ Höre ich. Ja, ja, das tust du, aber das weiß ja keiner. Ich schmunzele in mein Bart und stehe leise auf, um ihn nicht zu wecken. Ich habe noch viel zu tun, Geschenke verteilen, Kinder glücklich zu machen. Ho, ho, ho.

Rolands Angst vor dem Feuer

Roland stocherte in der erkalteten Glut herum. Nur hier und da blitzte noch ein Körnchen rote Hitze. Da konnte sicher nichts mehr passieren, ganz sicher? Sollte er vielleicht noch etwas Wasser darüber gießen? Der Gedanke an einen womöglich nachts aufflackernden Kamin im Wohnzimmer mit dem geschmückten Baum, hatte Roland aus dem Schlaf gerissen. Sollte er das Jagdgewehr lieber von der Wand nehmen? War es nicht zu nah am Kamin? Konnte es explodieren? Unsinn, es war nicht geladen, seit Jahren unbenutzt.

»Du hast offensichtlich immer noch Angst vor dem Feuer, Roland.«

Roland blieb ein Schrei im Hals stecken, als er die tiefe Stimme hinter sich hörte. Den Schürhaken noch in der Hand drehte er sich um. Träumte er? Wandelte er im Schlaf?

»Jetzt staunst du, was, Roland?«

Da stand, in einem Weihnachtsmann-Kostüm, das ihm etwas zu groß geworden war, noch stattlich und breit genug, Onkel Klaus. Seine schweren Hände ruhten am Gürtel des Kostüms. Er hatte sich erstaunlich wenig verändert. Bis auf sein linkes Auge, das wirkte schlaff und schien etwas tiefer zu sitzen, als das rechte. Sein Bart war drei Tage alt und stoppelig. Er sah eher aus wie ein abgehalfterter Boxer als ein Vorstandsvorsitzender.

»Onkel Klaus«, sagte Roland, unfähig, seinen Worten eine Tonlage zu verleihen. Wie ein Türschild ohne Klingel.

»Immerhin erkennst du mich noch«, sagte Onkel Klaus und ließ sich in dem alten Ledersessel nieder, in dem er schon damals gesessen hatte, als Roland und seine Cousine, die arme Alexandra, artig ihre Geschenke ausgepackt hatten. »Es ist ja nicht ganz selbstverständlich, dass du mich noch erkennst, nachdem du mich drei Jahre lang nicht besucht hast.«

»Es tut mir leid, Onkel Klaus. Es war wegen Luise und der Kinder. Luise hätte es nicht verstanden. Ich wollte nicht, dass sie …«

»Das sie was? Erfährt, dass der reiche Erbonkel im Gefängnis sitzt? Dass ein Makel an der Familie ist, in die sie so erfolgreich eingeheiratet hat?«

»Das verstehst du ganz falsch, Onkel Klaus. Luise ist eine unbeschreiblich einfühlsame Person. Sie hätte es einfach nicht verkraftet. Sie glaubt, du bist auf einer langen Reise.«

Onkel Klaus rieb seine Hände, die so groß waren, dass er damit einen Eimer hätte abdecken können.

»Auf einer Reise? Wie einfallsreich. Und während Onkel Klaus auf großer Fahrt ist, gilt es, sich um sein Haus und sein Vermögen zu kümmern.«

Roland fühlte sich so lächerlich in seinen Pyjamahosen und den Filzpantoffeln, wehrlos. Der Schürhaken in seiner Hand wurde schwer, doch er traute sich nicht, ihn an seinen Platz zurückzulegen.

»Wir haben hier alles instand gehalten, so war es doch vereinbart.«

Klaus schob seine buschigen Augenbrauen zusammen. »So war es vereinbart. Und vereinbart war auch, dass du mich einmal in der Woche besuchst und mir über die Lage in der Firma berichtest. Und mir die Zeitung bringst.«

Roland hatte das Gefühl, aus Gelatine zu bestehen.

»Ich …«

»Jetzt sag bitte nicht, du wärst nicht in der Lage gewesen, unbemerkt zur Vollzugsanstalt zu kommen.«

Roland trat unbequem von einem Bein aufs andere.

»So war es aber«, bemerkte er mit einer Spur Trotz.

»So war es? Sieh an, sieh an. Wie geht es eigentlich den Kindern?«

Roland räusperte sich.

»Gut. Sie schlafen oben.«

»Wie alt sind die beiden mittlerweile?«, Klaus legte die Füße auf den Marmortisch vor dem Sessel, direkt neben die Schale mit den Keksen, die Franzi mit ihrer Mutter gebacken hatte.

»Franzi ist sieben und Timo vier.«

»So groß schon, wie die Zeit vergeht. Nicht wahr, Roland? An den Weihnachtsmann glauben sie noch?«

Roland nickte ruckartig.

Onkel Klaus faltete seine Hände über dem teilweise geschrumpften Bauch und sah Roland aus zusammengekniffenen Augen lange an. Roland kannte diesen Blick und hatte ihn immer gehasst.

»Mein lieber Neffe. Roland. – Ich möchte von dir, dass du jetzt hinaufgehst, deine Kinder und deine Frau weckst, ihnen sagst, dass sie sich anziehen sollen und dann ein Taxi bestellst. Ich verlange, dass ihr ein einer Stunde das Haus verlassen habt. Komm mir nie wieder unter die Augen.«

Rolands Kehle war eng wie ein verschrumpelter Schwamm. Mit seinem Gelatine-Arm wies er auf den bereits hergerichteten Weihnachtsbaum.

»Aber die Bescherung ist doch schon vorbereitet.«

Klaus nickte.

»Ganz genau. Diese Bescherung hast du vorbereitet, du elender Nichtsnutz. Du hast noch nie etwas getaugt. Nicht einmal einer einfachsten Aufgabe warst du gewachsen. Einmal die Woche, Roland. Das Einzige, was du geschafft hast, war, meine Konten zu leeren. Du Made. Du gehst jetzt hinauf und weckst deine Kinder oder ich tue es. Und wenn ich es tue, versprochen, dann glauben sie nicht mehr nur an den Weihnachtsmann, dann fürchten sie ihn.«

Roland biss sich auf die Lippe. Er spürte den Schürhaken in seiner Hand. War es Vorsehung, dass er jetzt bewaffnet war? Eine Handlungsaufforderung? Vor seinem inneren Auge spielten sich Szenen ab, bei denen er sonst immer umgeschaltet hatte. Oder das Gewehr? Hatte Onkel Klaus sich nicht einmal damit gebrüstet, dass noch eine Kugel darin war, die er einem Elefanten zwischen die Augen jagen wollte? Onkel Klaus, ein Freund der Großwildjagd. Wenn er, Roland, ihm jetzt das Gewehr auf die breite Stirn setzen würde? Nein, das würde einen Knall geben und die ganze Familie wecken. Ebenso unsinnig: einen Mann von Klaus Format mit einem Schürhaken zu schlachten – dies würde weder Geräusch- noch Rückstandslos zu bewerkstelligen sein.

Onkel Klaus nahm sich einen Keks.

»Was ist los, Roland? Bist du eingefroren? Ich warte nicht mehr lang.«

Genüsslich biss Onkel Klaus in das zuckersüße Gebäck. Ein Rezept aus einem Koch-Blog, den Luise liebte. Festliche Kekse mit gemahlenen Erdnüssen und viel dunkler Schokolade.

»Wird’s bald?«, fragte der Vorstandsvorsitzende und Großwildjäger, dem immer alles gelungen war. Bis auf das eine Mal.

Rolands Hand verkrampfte sich um den Schürhaken und Tränen schossen ihm in die Augen, weil ihm klar wurde, dass ihm diese Waffe nicht nützen würde. Dass er nicht fähig sein würde, sie anzuwenden. Onkel Klaus hatte recht, er war ein Versager. Auf ganzer Linie.

Mit gesenktem Kopf wandte Roland sich ab. Als er den ersten Pantoffelfuß auf die Treppe setzte, bemerkte er das würgende Geräusch hinter sich.

»Roland, Hilfe …« Onkel Klaus war blau angelaufen und hielt sich den Hals. Erdnüsse! Um Himmels willen, die Erdnussallergie, die hatte Roland ganz vergessen. Onkel Klaus und seine schwere Erdnussallergie.

Der Mann im Weihnachtskostüm fuchtelte flehend mit den Armen. Roland seufzte tief. Dann drehte er sich um und stieg langsam die Treppe hinauf.

Nikolaustag

Nikolaustag. Ein fröhlicher Tag der Kinder und der Familie. Ich habe keins von beiden, daher hat mein Redakteur allein mich zu Überstunden verdonnert. „Ich will ihren Bericht über die Adventsansprache des Bürgermeisters morgen früh auf dem Tisch!“ Auch wenn ich keine Jubelsprünge vollführe, so mache ich mich doch gern an die Arbeit. Ich bin zwar ein unbedeutender Dorfjournalist, aber der Job macht mir Freude. Nah am Menschen, mitten drin im Geschehen, genau dort will ich sein. Als mich mein Vater vor Jahren vor die Tür gesetzt hat, weil ich ihm nicht als großer Rechtsanwalt nacheifern wollte, habe ich hier meine Welt gefunden.

Kurz vor Mitternacht parke ich den Wagen vor dem Haus, in dem ich ein kleines Apartment bewohne. Eine Junggesellenbude, nichts Luxuriöses, mein Gehalt ist bescheiden. Während ich meine Wohnungstür aufschließe, spüre ich eine fremde Präsenz mehr, als dass ich sie höre. Türe aufreißen, Licht anschalten, „Hallo“ rufen, ist ein Sekundenbruchteil.

Oups, Du bist ja schon da. Du arbeitest doch sonst immer bis zum Morgengrauen…“ Die männliche Stimme kommt aus Richtung meines Schaukelstuhls, der direkt am Fenster steht. Mein einziges Möbelstück, das Gemütlichkeit ausstrahlt. Ein Vermächtnis meiner Mutter.

Ich greife mir einen Regenschirm zur Verteidigung und betrete den Wohnraum. Im Schaukelstuhl sitzt ein gemütlich aussehender weißer Rauschebart mit rotem Nikolauskostüm und blinzelt mir zu.

Wer sind Sie, wie sind Sie hier hereingekommen, was…

Langsam, junger Freund. Wonach sehe ich aus? Und was mache ich wohl am Nikolaustag?

Du hast zwar keinen Brief an den Weihnachtsmann geschrieben, aber ich kenne deine Bedürfnisse auch so. Du arbeitest rund um die Uhr, springst wann immer dein Chef dich ruft und nimmst dir kaum Zeit für nette Freizeitaktivitäten. Und du hast noch nie bemerkt, dass die hübsche Volontärin oft extra wegen dir länger im Büro bleibt.

Irgendwer muss mich kneifen. Ich halluziniere.

Ich bin nicht durch deinen nicht vorhandenen Schornstein gerauscht und ich lasse auch keine Pakete da“, meldet sich nun wieder Rauschebart zu Wort. „Aber du sollst wissen, dass das Leben jede Menge Geschenke für dich bereit hält, wenn du dir die Zeit nimmst, hinzuschauen. Die örtlichen Vereine hier freuen sich über fröhliche Neuzugänge und nehmen Schreiberlinge wie dich mit Kusshand auf. Und wie gesagt: die süße Volontärin würde sich sicher mal zum Essen ausführen lassen…

Mein Tinnitus fängt jetzt an zu klingeln. Ich stammele noch einmal: „Wer sind Sie“?

Doch Bartmann presst als Antwort nur beide Daumen zusammen und ruft: „Rudolf, hol mich ab“. Und in einem plötzlich aufzischenden weißlich-gelben Funkenregen verschwindet mein seltsamer Gast. Zurück bleibt eine fast körperlich spürbare Stille. Und ein Blatt Papier, das langsam zu Boden gleitet.

Ich mache zwei schnelle Schritte, hebe das Papier auf und starre fassungslos auf die Schrift. Ich erkenne sie - nie würde ich die Worte vergessen, die vor Jahren damit geschrieben wurden. Wie Flashbacks flammen sie vor mir auf: Versager - nutzlos - enttäuscht - lass Dich nicht mehr blicken…

Mir wird schlecht, ich will das Blatt fallen lassen, aber meine brennenden Augen werden wie magisch vom Text festgehalten. Ich lese:

Lieber Nikolaus“ steht da,

Ich bin eigentlich zu alt für einen Brief an den Weihnachtsmann. Doch ich bin am Ende der Straße angelangt, und ich bin voller Schmerz. Ich hatte einmal einen Sohn, er war - und ist - mein ganzer Stolz. Doch ich habe ihn aus dem Haus gejagt, weil er nicht das Leben gelebt hat, das ich für ihn vorgesehen hatte. Ich weiß nicht, ob er mir je verzeihen wird. Aber ich hoffe sehr, dass er seinen inneren Frieden schließen kann mit seinem abscheulichen Vater, der ich ihm war.

Wenn es Dich Weihnachtsmann wirklich gibt, habe ich einen Wunsch: Zünde ein Licht an im Herzen meines Sohnes, das ihm stets seinen Lebensweg erhellt und mit Freude und Güte erfüllt. Und vielleicht lässt Du ihn im Schein dieses Lichts auch ein wenig mich, seinen alten Vater, erkennen, so wie ich hätte sein können, wenn ich mein Herz zur rechten Zeit geöffnet hätte.“

Beim letzten Satz ist das Papier etwas feucht, und ich fahre mir schnell über die Augen. Ich setze mich in den Schaukelstuhl und schaue hinaus in das winterliche Treiben. Dort, ist da nicht noch ein wenig Funkenregen vom Nikolaus? Ich fühle mich auf einmal warm und behaglich, und ich lächle meiner Spiegelung in der Glasscheibe ein klein wenig zu. Sind wir nicht da, um Wärme und Licht weiter zu tragen? Ich schicke ein „Danke“ hinaus in die Nacht und greife zum Telefonhörer.

Glitzerstaub und Weihnachtsglück

Die letzte Nacht vorm großen Fest
Ich schlief sehr schlecht, war wohl gestresst

Ein Geräusch drang mir ans Ohr
Im Haus da ging doch wohl was vor

Zack, bin ich aus dem Bett gehuscht
Es klang als ob da jemand duscht

Doch konnte das wohl gar nicht sein
Schließlich wohnte ich allein

Aus dem Bad drang sanftes Licht
Schnell auf die Tür und….freie Sicht

Ich traute meinen Augen kaum
Nur bedeckt von Seifenschaum

Hier in meinem kleinen Haus
Splitternackt stand Santa Claus

Pitschnass und voller Pein
Sprang er in seinen Mantel rein

„Gute Frau, es tut mir leid
Der Weg hierher war wirklich weit

In Afrika war es so heiß
Ich roch ein wenig stark nach Schweiß

Und Euer Schornstein voller Ruß
Beschmierte mich von Kopf bis Fuß

Nun geht sie weiter meine Reise“
Flüstert er mir zu, ganz leise

Dann war er weg und lies zurück
Glitzerstaub und Weihnachtsglück

Verwirrt blickte ich ihm nach
Träum ich oder bin ich wach?

Ich zwickte mich und musste lachen
Erleb nur ich verrückte Sachen?

Mir kam es vor als war’s ein Traum
Doch lag dort unterm Weihnachtsbaum

Ein Glöckchen…
….wohl vom Rentierzaum

Hoffnung entsteht, wo sonst nichts ist.

Ein etwa zwölfjähriger Junge tritt in die Schwärze der Nacht, in die, nur im Bereich der geöffneten Tür, ein Lichtkeil getrieben wird. Ich kenne das Kind nicht, weiß aber, dass es Miron heißt. Miron, der Friedensbringer. Er stapft durch hohen Schnee hinüber zu einem Schuppen, der, genauso wie das Haus aus dem er kam, deutliche Zeichen eines Bombardements davon getragen hat. Miron muss keine Tür öffnen, denn die Bretterbude hat nur noch drei intakte Wände und ein halbes Dach. Mit Spaten und Eimer strebt er dem Wald zu, der sich hinter dem Haus ausdehnt.

Ein schwächelnder Taschenlampenkegel weist ihm den Weg zu einer kleinen Fichte – kaum einen Meter hoch. Miron murmelt etwas, das ich nicht verstehe, wobei er seinen Blick hoch hinauf in die benachbarten Bäume richtet. Dann beginnt er schonend zu buddeln, um die Wurzeln nicht zu verletzen. Er hat es den Elternbäumen versprochen. Schwerstarbeit, denn der Boden ist knüppelhart gefroren, aber er will das Bäumchen lebend haben. Zu viele Verluste hat Miron in seinem kurzen Leben erfahren. Zuletzt hat er seinen Vater an den verfluchten Krieg verloren. Er ist jetzt der Mann im Haus. Die Sorge um seine Geschwister Natalja, die heute ihren achten Geburtstag hat, und den kleinen Pavel teilt er sich mit ihrer Mumiya. Die Kleinen waren so traurig, dass sie keinen Weihnachtsbaum haben würden. Geschenke erwarten sie in diesen schlimmen Zeiten sowieso nicht. Doch Miron will ihnen wenigstens einen kleinen Baum schmücken, den er später seinen Eltern wieder zurückbringen will.

Schwer schneidet der Henkel des Eimers in Mirons blasenübersäte Handfläche. Mochte die Fichte nicht viel wiegen, aber der frostige Erdballen desto mehr. Froh, ihn bis zum Haus geschleppt zu haben, stellt Miron den Eimer in den kleinen Hof, bringt beim Zurückstellen des Spatens eine Holzstiege aus dem Schuppen mit, in der er übers Jahr gebastelten Baumschmuck vor neugierigen Geschwisteraugen versteckt hatte. Püppchen aus Stroh, Spinnen aus Nussschalen, Zapfen und kleine Sterne aus getrockneten Halmen und Holzspan. Zufrieden betrachtet er sein Werk. Mit etwas Glück würden echte Spinnen noch glitzernde Schleier weben, galten sie doch hier als Glücksbringer. Während er schnell noch ein wenig aufräumt, beginnt es zu schneien. Dicke, federleichte Flocken schweben herab, hocken sich dicht gedrängt auf die Nadeln des Weihnachtsbaumes und schubsen sich gegenseitig vom Zierrat. Die Welt wird still und verlangsamt sich.

Die Haustür fliegt auf und Natalja und Pavel stürzen hinaus. „Mumiya komm raus, es schneit“, rufen sie, „und ein richtiger Weihnachtsbaum steht hier!“ Übermütiges Gelächter begleitet ihr Gehopse um das Bäumchen und Miron strahlt vor Stolz. Als ihre Mutter dazu kommt, stehen sie alle andächtig im Hof und bestaunen die kleine, herausgeputzte Fichte. „Aber ein Stern für die Spitze wäre noch schön“, sagt Natalja.

Da erhebt sich aus dem Nichts eine schneidend kalte Böe, und alle drehen dem angreifenden Wind sofort ihren Rücken zu und schließen ihre Augen. Der eisige Windstoß jault wie ein getretener Hund, als er um das kriegsversehrte Haus jagt und in dann in das Dickicht des Waldes fährt. Als wäre ein Spuk entsandt worden, der dem eigentlichen Zauber den Weg frei machen sollte, denn als sich die Mutter und ihre Kinder wieder dem Bäumchen zuwenden, strahlt er im Sternenglanz eines kristallklaren Himmels, über den sich, Geschenkbändern gleich, irisierende Lichteffekte in purpurrot und türkis winden. „Polarlichter! Oh, die hat es bei uns doch noch nie gegeben“, staunt die Mutter und weint vor Freude. Die vier nehmen sich in den Arm und beginnen zu singen.

„Frohe Weihnacht!“ Ein Bassstimme.

Meine Lider flattern. Ich erwache aus meinem Traum mit einem erstickten Röchelton, weil mein Kopf nach hinten gesackt war. Mein Gesicht ist tränennass und ein Speichelrinnsal läuft aus meinem Mundwinkel. Peinlich! Gut, dass mich niemand sieht. Meine Erinnerung kommt nur langsam zurück, denn ich bin todmüde und letzte Traumfetzen geistern noch durch mich hindurch. Der Fernseher begab sich selbst in den Ruhemodus, als ich einnickte. Ein kitschiger Weihnachtsfilm hatte mich samt meiner alten Erinnerungen zur Ruhe gebettet.
Das Erschrecken kommt in Etappen und erst in der letzten schreie ich entsetzt auf! Neben mir auf der Couch sitzt jemand. Per se nichts Erschreckendes, jedoch nicht, wenn man wie ich, alleine in Zimmer 24 im Seniorenstift lebt. Eine große weiß behandschuhte Hand legt sich auf meine Schulter.
„Nicht doch! Bitte, hab‘ keine Angst.“ Die Bassstimme!
Ich starre und bin erstarrt. Neben mir sitzt … ein? … der? … Weihnachtsmann! Weder hat er geklopft, noch habe ich einen Kamin. Wie also, ist er hereingekommen?
Er liest meine Gedanken. „Großes Weihnachtsmann-Geheimnis“, sagt er und lächelt sein Großvaterlächeln. „Hat dir meine Geschichte gefallen?“
„Welche Geschichte?“
„Na, die von Miron, natürlich!“
Mein Traum fällt mir wieder ein. „Deine Geschichte?“
„Ich habe sie dir erzählt, weil du traurig warst und im Schlaf geweint hast. Ein Weihnachtsfest braucht nicht viel. Ein paar Lieder, ein paar schöne Geschichten und Menschen, mit denen man beides teilen kann. Alles andere ist überflüssig. Ich weiß, dass du keine Lust hast, aber nimm Heiligabend an der Weihnachtsfeier teil. Alle haben sich viel Mühe gemacht und der Baum ist herrlich geschmückt. Mache deinem Namen Ehre, Hope.“

DIE VERDIENTE ÜBERRASCHUNG oder auch EINE INTERTEXTUELLE WEIHNACHTS-HOMMAGE


Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf ALLEN erstplatzierten Siegertexten von Woche 1-7.


„Fröhliche Weihnachten!“

Manfred lächelte den fremden Mann auf der Straße an.

„Ja, definitiv keine fröhlichen Ostern“, erwiderte er mit einem Schmunzeln und fügte nahtlos hinzu: „Auch dir fröhliche Weihnachten.“

Während er in seinem langen, kuscheligen Mantel durch den Schnee stapfte, kam er nicht umhin, stolz auf sich zu sein. Er hatte definitiv Fortschritte gemacht. Begrüßungsformeln beherrschte er mittlerweile aus dem Stegreif.

Nach dem ersten Auslandssemester war er sicher gewesen, nie wieder hierher zurückzukehren. Das war zumindest so, bis die Option eines 2. Auslandsemester im Raum stand und er von Erde 2.0 gehört hatte.

Ein feiner, leichter Regen, schneeflockengleich und dazu in sämtlichen Regenbogenfarben, hatte für dieses wunderbare Update gesorgt. Er hatte die Menschen bei seinem ersten Besuch zwar kaum verstanden, aber dass sie zuckersüße Dinge, die nach Mandeln und einem Hauch Zitrone rochen, nicht widerstehen konnten, das hatte er schon damals gewusst. Es war folglich ein genialer Götterstreich gewesen.

Nun war er also wieder hier, tausende Erdenjahre (oder nach der Zeitrechnung seines Planeten nur 3. Semester) später, neugierig auf die großen Veränderungen. Und das, obwohl seine Noten diesmal gut genug für Astaria gewesen wären.

Zu seiner Enttäuschung ähnelten sie der ersten Version immer mehr. Infrastruktur, Religion, Kultur… vieles hieß sogar so wie früher. Weihnachten war das beste Beispiel dafür.

Immerhin war seine erneute Integration dadurch einfacher geworden. Es erleichterte ihm auch die besondere Mission, zu der er heute unterwegs war. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Verhalten der Erdenmenschen genau zu analysieren. Und die, die mit gewissen Aktionen besonders hervorstachen, bekamen dann eine Überraschung, die sie verdient hatten. So wie die Familie, zu der er gerade wollte. Es war die perfekte Nacht für sein Vorhaben. Viel Feuchtigkeit, kaum Wind.

Er ging an Luigis Pizzeria vorbei und überquerte die Straße zum Haus. Sie hatten es erst vor kurzem gekauft, früher lebte hier niemand. Ein alter Kastanienbaum stand dort, im Putz waren überall Risse. Da waren wohl noch große Renovierungsarbeiten geplant.

Manfred erschrak, als gleich neben ihm die Fensterläden zuknallten. Fast wäre ein Ziegelstein auf ihn gestürzt, doch auf seine Reflexe war Verlass. Rasch sprang er zur Seite, mehrere Lehmscherben zerbarsten in Stücke. Fasziniert betrachtete er die Wolke aus Staub und Scherben. Er hatte von den vielen Unfällen gehört, aber sie niemals geglaubt.

Er schüttelte sich, dann konzentrierte er sich wieder auf seine Mission. Leichtfüßig sprang er aufs Dach, zwängte sich mit seinem Mantel aus rotem Stoff und weißer, flauschiger Kunstpelz-Borte durch den Kamin.

Als er unten ankam, hieß ihn eine beschaulich-friedliche Atmosphäre willkommen. Das Radio spielte einen weihnachtlichen Jingle. Während Manfred sich den Ruß von seiner spitz zulaufenden Mütze und den Hosenbeinen klopfte, betrachtete er das Wohnzimmer.

An der Wand stand ein altes Eichenregal, gleich davor ein runder Tisch mit einer leeren Flasche und einem Glas bernsteinfarbener Flüssigkeit. Daneben stand ein Sessel, in dem ein alter Mann vergraben saß und tief atmete. Sein Gesicht war von Falten durchzogen, die Augen fest verschlossen. Es roch nach Schottland, Torf und Rauch.

Manfred griff nach seinem Jutesack und schlich auf seinen schwarzen Stiefeln hinaus in den Flur, auf der Suche nach dem Schlafzimmer. Er fand es schließlich. Als er die Tür einen Spalt breit öffnete, sah er einen Mann und eine Frau in einem Bett liegen. Ein Tablet lag zwischen ihnen. Die Klimaanlage an der Schlafzimmerwand war ausgeschaltet. Er sah auf den Nachttisch. Die Digitalanzeige des Weckers zeigte 2:58 Uhr. Als der Mann sich auf die Seite drehte, knarrte der Lattenrost.

„Opa, bist du das?“

Manfred drehte sich um. Ein kleiner Junge stand im Flur und starrte ihn an. Er schüttelte den Kopf. Er wusste genau, was er sagen musste, um die Menschen in Sicherheit zu wiegen.

„Nein, mein Kleiner“, antwortete er in tiefer Stimme, „dein Opa ist auf dem Sessel im Wohnzimmer eingeschlafen. Ich bin der Weihnachtsmann.“

Die Augen des Jungen leuchteten augenblicklich auf.

„Du bringst uns also die Geschenke!“, rief er nun überraschend laut.

Wieder hörte Manfred, wie der Lattenrost unter dem Gewicht des Mannes stöhnte.

„Ja. Ich bringe dir und deiner Familie die Überraschung, die ihr verdient habt.“

„Der Weihnachtsmann ist da?“

Es kam, wie es kommen musste. Ihr Gespräch hatte die Eltern geweckt, nur der Großvater schnarchte weiterhin friedlich im Wohnzimmer, ganz in Manfreds Interesse.

Frau und Mann wirkten verschlafen und überaus verwirrt, es war klar, dass sie den Fremden im Flur nicht zuordnen konnten. Nur das Weihnachtskostüm schien sie ein wenig zu beruhigen.

„Ja, der Weihnachtsmann“, bestätigte Manfred.

„Aber Weihnachten ist doch erst morgen“, versuchte es die Frau zaghaft.

Er zuckte mit den Schultern.

„Das hier konnte nicht warten.“

„Darf ich sehen, was im Sack ist?“, fragte der Junge ganz aufgeregt.

Manfred grinste zufrieden.

„Natürlich“, versprach er.

Doch vorher drehte er sich zu den Eltern um.

„Bevor ich den Sack öffne, möchte ich ganz sichergehen: Sie sind der Besitzer vom roten BMW, der vor dem Haus steht, richtig?“

Der Vater nickte langsam. Manfred tat es ihm gleich. Er hatte es bereits gewusst, doch er kontrollierte seine Pläne lieber mehrmals, bevor ihm ein Fehler unterlief.

„Also gut. Dann gibt es keinen Zweifel. Dann sind Sie wirklich die Familie, die gestern die zwei Katzen angefahren hat.“

Im Haus wurde es kälter. Draußen kratzte der Nebel an den Fenstern.

Manfred öffnete den Sack und schüttete den Inhalt aus.

Als die tote Katze zu Boden fiel, fing der Junge sofort an zu weinen. Die zweite Katze hisste, stellte sich schützend vor die andere, rieb schließlich ihr Köpfchen an den steifen Körper.

Die Mutter hielt sich erschrocken die Hand vor dem Mund, der Vater erbleichte.

„Es war ein Versehen“, stammelte er, „ein schreckliches Versehen. Die Straßen waren nass, am Vortag hat es geregnet. Und hier ist ja gleich diese enge Kurve…“

Manfred schüttle mit strenger Miene den Kopf.

„Sie sind einfach weitergefahren. Die ganze Familie. Sie haben die zwei einfach ihrem Schicksal überlassen. Das hätten Sie nicht tun dürfen. Es hat nun über Ihr Schicksal entschieden.“

Die Temperatur sank weiter. Nebel kroch die Treppen empor, seine kalten Finger streiften das Nachthemd der Frau, schmiegten sich um die Knöchel des Jungen.

Im Mondlicht blitzte etwas Längliches in Manfreds Hand auf.

„Mein Gott, was ist das? Was passiert-?“, rief die Frau verängstigt, doch ihre Frage ging in einem Gurgeln unter.

Manfred war schnell. Bevor auch der Vater oder das Kind handeln konnten, verstummten sie gleichfalls im Nebel.

Zufrieden betrachtete der falsche Weihnachtsmann sein Werk, dann zuckte er zusammen. Er hörte den alten Mann im Wohnzimmer stöhnen. Bevor er aufwachen konnte, lief Manfred aus dem Haus, vorbei an dem alten Kastanienbaum, vorbei an Luigis Pizzeria. Er eilte mit klappernden Sohlen und schweißnasser Stirn durch die Nacht, obgleich seine Sorgen unbegründet waren. Ihm konnte nichts passieren. Der Nebel schützte ihn und sein wahres Wesen.

Am Ende der Straße blieb er stehen und sah zufrieden zurück. Noch drei Monate, dann war auch dieses Auslandssemester vorbei. So lange würde er für Recht und Ordnung sorgen. Niemals wieder durften die Menschen werden wie die Prototypen vor ihnen.

Wirklich

Oh du fröhliche Weihnachtszeit! Dabei ist das Stress. Den Baum habe ich mir gerade noch vor Toresschluss geschnappt. Toll gewachsen ist er nicht, sieht aus wie einer, der bis zuletzt am Verkaufsstand ausgeharrt hat. Dafür ist er im Preis reduziert. Das tut unserem schmalen Geldbeutel gut.
Gleich bin ich mit dem Schmücken fertig. Die anderen schlafen schon. Die Kinder sollen nicht merken, dass Weihnachten Stress ist. Die sollen nur die Freude sehen. Den Rest kriegen sie später selber mit.
Sorgfältig alle Kugeln angebracht – die sind kostbar. Meine Frau sagt: unersetzlich.
Jetzt noch schnell die letzte Kerze an den Zweig da vorn. Fertig!
Moment, ich muss die Lichterkette ausprobieren. Das Kabel? Ach, das darf ausnahmsweise mal quer durch den Raum gehen. Ich räume das morgen auf.
Eingesteckt. Alles leuchtet! Gut. Ab ins Bett. Ich schleiche die Treppe hoch.
Zähne putzen. Raus aus dem Bad. Ich kriege ich kaum noch die Augen auf. Halb blind wie ein Maulwurf schlurfe ich über den Teppichboden zum Schlafzimmer.
Schepper! Klirr!
Ich bin wieder wach. Die anderen zum Glück nicht. Ich eile zur Treppe. Unten im Wohnzimmer wälzt sich jemand auf dem Fußboden. Ich greife mein uraltes und halbkaputtes Mobiltelefon. Ich mag es nicht ersetzen, Umweltschutz und so. Und ehrlich, ich kann es auch nicht. Sonst würde ich eher in einen geraden Weihnachtsbaum investieren.
Zum Glück geht die Taschenlampen-App noch. In ihrem Schein zeichnet sich ein Mann im roten Frack ab, der sicher lange kein Fitness-Center mehr gesehen hat. Eilig rückt er seine rote Mütze zurecht. Die Bommel hängt ihm ins Gesicht. Mit einem Kopfschwung wirft er sie nach hinten, was seiner Gestalt Würde verleiht.
„Welcher Depp hat hier ein Kabel quer durchgelegt?“, fragt er streng.
„Und wer bricht hier ein?“
„Ich breche nicht hier ein, ich bringe Geschenke!“ Er zeigt auf einen Berg Kisten, der da neben der Ruine, die mal unser Weihnachtsbaum war, inmitten eines Scherbenhaufens stehen. Scherben der unersetzlichen Kugeln.
„Und jetzt ist auch noch mein QR-Code-Scanner im …, äh kaputt“, meint er und reibt sich das Knie vom Sturz. „Dabei muss ich die Pakete als ausgeliefert registrieren, sonst steigt mir die SAP-Administration am Nordpol wieder aufs Dach. Das kann ich mir dann den ganzen Sommer über anhören.“
Ich reiche ihm mein altgedientes Telefon.
Er seufzt. „Nicht das neueste Modell, was?“
Aber es tut seinen Zweck. Er scannt. Dann geleite ich ihn unfallfrei aus dem Haus.
Anschließend gehe ich ins Bett. Ich bin zu fertig, die Katastrophe zusammenzufegen.
Stunden später erwache ich aus einem unruhigen Schlaf.
Unten aus dem Wohnzimmer dringt Gekreische.
Mist, die haben die Ruine gefunden! Und die Scherben! Ich kann mir über Weihnachten eine Pension suchen. Meine Frau verzeiht mir das nie!
Egal, ich muss mich stellen und gehe die Treppe hinab. So muss sich der Gang zum Galgen anfühlen.
„Also DAS hätte ich nicht von dir gedacht!“, empfängt mich meine (noch) Angetraute. Ich biege um die Ecke, damit ich das Trümmerfeld sehen und erklären kann. Doch, Moment mal …
„Das ist der beste Weihnachtsbaum!“, vibriert ihre Stimme.
Da funkelt eine Tanne, gerade und stattlich bis zur Zimmerdecke! Und die Kugeln hängen dran und sind heil!
Ich bekomme einen Schmatz auf die Backe. Unverdient. Egal, man nimmt mit, was man kriegen kann.
Die Kinder kommen gerannt: „Best Weihnachten ever!“ Sie sind in der Denglisch-Phase. Hoffentlich schaffen sie es wieder raus.
In einem Berg von Geschenkpapier liegt ein noch unversehrtes Päckchen. Meine Frau reicht es mir. Ich packe ungläubig aus: Ein nagelneues Smartphone. Und das mir? Wo ist eigentlich mein altes? „Schalt schon ein!“, drängeln die Kinder. Sicher erhoffen sie sich, dass ich nachher gleich ein Spiel drauf installiere und es ihnen überlasse.
Der Bildschirm leuchtet. Komisch, es ist vollständig auf mich eingerichtet. Ein Messenger poppt auf: „Danke, alter Knabe, und sorry für den Unfall gestern! Die neue Weihnachtsbeleuchtung lädt sich über Solarzellen. Hält ein Leben lang. Keine Kabel. Dein altes Telefon habe ich ordentlich recycelt. Das neue soll dich daran erinnern, dass du dir mal was gönnst. Frohe Weihnachten!“
So weit so gut, aber wie erkläre ich jetzt den Kindern, dass ich sie jahrelang belogen habe und dass es den Weihnachtsmann wirklich gibt?