Cooper hatte die erste Wache. „Was ist los, Thomas?“, fragte Tim müde. „Die Lale und die Aurelia liegen im Hafen“, berichtete er. Tim sah auf. „Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, die befinden auf dem Weg nach Übersee?“, sagte er. „Nun, vielleicht sollten wir das annehmen“, meinte Cooper. Tim nickte. „Das werden wir herausfinden“, entgegnete er.
Im Riddler’s herrschte nach der turbulenten Wiedersehensfeier die übliche Geruhsamkeit. Alle Zimmer im Haus waren jetzt von Morgans Familie und den Freunden belegt. Jan und die anderen der Mannschaften waren auf die Lale und die Aurelia zurückgekehrt.
Auch wenn sie hier in heimatlichen Gewässern und in einem freundlich gesonnenen Hafen lagen, die Wachen wurden eingeteilt und sorgsam durchgeführt.
Jan haderte immer noch mit Sophies Verrat und konnte nicht schlafen. Also kletterte er den Großmast hinauf ins Krähennest und starrte auf die See hinaus. Er kniff die Augen zusammen. Was war das denn für ein Schiff, das da draußen auf Reede lag? Als sie ankamen, war es noch nicht da gewesen.
Der Silhouette nach musste es eine Brigg sein. Jedenfalls ein Zweimaster. Die Positionslichter leuchteten schwach durch die Nacht, am Heck waren noch ein oder zwei Fenster erleuchtet.
Jan kraxelte wieder hinunter und suchte Skully. Er fand ihn mit seiner Pfeife im gemütlichen Plausch mit zwei anderen Matrosen und zupfte ihn am Ärmel.
“Da liegt eine Brigg auf Reede, die war vorhin noch nicht da”, berichtete er. Skully stand auf und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
“Ist gut, Jan. Das hat Zeit bis morgen früh, Junge. Geh schlafen, du bist in der Hundewache eingeteilt.”
Jan stöhnte und verholte sich flugs in seine Koje.
Skully gab den restlichen Männern seiner Wache Bescheid und schickte Peter, den anderen Schiffsjungen, rüber zur Aurelia, um auch deren Besatzung zu informieren. Bei der Übergabe an die Abendwache erzählte er Davy Jones von der Brigg.
Bis zum Morgengrauen gab es keine besonderen Vorkommnisse.
Bei Sonnenaufgang legte ein Beiboot von der Enterprise ab. An Bord waren Timothy Northwny und Murtagh McKinnley. Das Wichtigste war jetzt, so schnell wie möglich das Ruder reparieren zu lassen.
Als sie im Hafen neben der Lale anlegten, spürten sie viele Augenpaare auf sich gerichtet.
Skully und Davy Jones standen an der Reling und beobachteten Northwny und McKinnley, konnten aber nicht hören, was die beiden besprachen.
Was ihnen aber sofort auffiel: keiner der beiden trug eine Uniform! Beide waren in normaler Kapitänskleidung, offenbar hochwertig, aber zivil.
Jan und Peter waren eifrig dabei, das Deck zu schrubben. Skully pfiff leise, und die Köpfe der Jungen ruckten herum. Skully winkte sie heran.
“Jan, Peter, ihr müsst diesen beiden Männern folgen, wenn sie den Hafen verlassen. Ich will wissen, wohin sie gehen und was sie vorhaben. Aber lasst euch nicht beim Spitzeln erwischen! Die haben beide keine Skrupel, also passt gut auf. Jan, du hängst dich an Timothy, und Peter, du folgst dem Rotschopf.” Beide Jungs nickten begeistert. Das war viel spannender als Deckschrubben!
“Na, dann los!”
Tim warf der Crew der Lale finstere Blicke zu. Er hätte zu gern gewusst, warum sie hier waren. Unauffällig hielt er Ausschau nach Francis und Morgan, doch keiner der beiden war zu entdecken. Murtagh sprang auf die Kaimauer und vertäute das Boot. „Wir gehen zuerst zum Riddler‘s. Es drängt mich, Emma wieder zu sehen. Und vielleicht kann sie uns jemanden empfehlen, der uns das Ruder reparieren kann“, sagte Tim.
Emma staune nicht schlecht, als plötzlich Timothy Northwny und ein ihr unbekannter Mann mit roten Haaren vor ihr stand. „Hallo Emma“, begrüßte Tim sie. „Timothy, was tust du denn hier?“, fragte Emma. Tim wunderte sich über die äußerst kühle Begrüßung. Er runzelte die Stirn und fragte: „Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?“
“Doch schon. Ich bin nur überrascht”, antwortete Emma zögernd. Sie musterte Tim. Er hatte sich verändert. Und das nicht zu seinem Vorteil. “Und wer ist dieser junge Mann?”, fragte sie mit Blick zu Murtagh. “Das ist mein Offizier. Murtagh McKinnley”, stellte Tim ihn vor.
“Zu euren Diensten, Madame”, sagte Murtagh und verbeugte sich formvollendet. Emma lächelte und sagte: “Ein Offizier und ein Gentleman.” Murtagh lachte auf, entgegnete aber nichts. “Wir stehen jetzt im Dienst des Konsuls von Madeira und sind in seinem Namen unterwegs”, erklärte Tim. “Nun ja. Was dich betrifft, Tim, so habe ich aber ganz andere Geschichten gehört”, sagte Emma ernst. Tim winkte ab und meinte: “Man soll nicht alles glauben, was man so hört.”
“Was willst du hier, Northwny?” Tim fuhr herum und erblickte Francis der eben die Treppe herunter kam. “Das gleiche könnte ich dich fragen, Fulton”, entgegnete Tim ebenso misstrauisch. “Ich wohne hier. Schon vergessen?”, fragte Francis spöttisch.
“Ach ja, richtig. Wie konnte ich das nur vergessen”, entgegnete Tim sarkastisch. Er und Francis glichen zwei Hähnen, die kurz davor waren, sich aufeinander zu stürzen. Charlotte tauchte hinter Francis auf und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Murtagh lenke ein in dem er sagte: “Lass gut sein, Tim.”
Beim Anblick von Murtagh bekam Charlotte einen Schreck. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn je wieder zu sehen.
Mozy rettete die peinliche Situation indem er auf Tim zukam. „Das ist ja eine Überraschung. Wie geht es dir und was führt dich hierher?, begrüßte er Tim. „Es geht mir gut. Danke. Wir sind, wie gesagt, im Namen des Konsuls unterwegs. Leider ist unser Ruder kaputt und jetzt suchen wir jemanden, der es reparieren kann. Kannst du uns jemanden empfehlen?“, fragte Tim. “Was hat euch der Konsul aufgetragen?”, mischte sich Francis ein. “Das werde ich dir gerade auf die Nase binden, Fulton”, sagte Tim und sah ihn böse an.
“Jetzt ist aber gut!”, rief Emma dazwischen.
„Ich schicke jemanden zu Salvatore. Er ist der beste Bootsbauer hier“, sagte Mozy. „Möchtet ihr in der Zwischenzeit etwas frühstücken?“, bot Mozy ihnen noch an. „Gern“, sagte Murtagh und setzte sich. Er warf einen flüchtigen Blick auf Charlotte. Sie war schöner als je zuvor.
Jan und Peter sahen durch das Fenster. „Was machen wir jetzt?“, flüsterte Peter. „Du gehts zurück zum Schiff und sagst Skully Bescheid. Ich schleiche mich durch die Hintertür und wecke Morgan. Der schläft bestimmt noch“, sagte Jan und grinste. „Meinst du die bleiben friedlich?, fragte Peter noch. Jan zuckte die Achseln. „Keine Ahnung.“ So eine richtige Kneipenschlägerei hätte schon seinen Reiz, dachte Jan.
Peter machte sich aus dem Staub, Jan schlich zur Hintertür des Riddler’s. Köstliche Düfte nach frischen Zimtschnecken drangen nach draußen, sodass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Vorsichtig drückte er die Tür auf und lugte in die Küche. Prompt wurde er von einem der Küchenmädchen entdeckt. Sie zeigte mit einem riesigen Kochlöffel auf ihn, mit dem sie eben noch in einem großen Topf gerührt hatte. Vier Augenpaare richteten sich auf ihn, und er wäre am liebsten in einem Mauseloch verschwunden.
“Was willst du hier? Verschwinde, du hast hier nichts zu suchen!”, rief eine der Frauen laut und machte eine scheuchende Handbewegung. Er nahm all seinen Mut zusammen.
“Ich bin Jan, von der Lale Andersen, und ich muss meinen Käpt’n sprechen! Es ist wichtig! Kapitän Morgan!”, piepste er. Ausgerechnet jetzt musste ihn seine Stimme im Stich lassen. Blöder Stimmbruch. “Und ich hätte gerne eine von den Zimtschnecken, die hier so lecker duften”, fügte er treuherzig hinzu.
“Na, wenn das so ist … komm rein, Junge!”, rief eine kräftige Frau mit hochrotem Kopf. Sie stand gerade am Backofen und zog ein Blech voller Zimtschnecken heraus. “Kapitän Morgan hat Zimmer 5, ganz oben. Lauf die Treppe da hinten hoch, liefer deine Nachricht ab und komm wieder her. Bis dahin sind die Schnecken essbereit!” Sie lachte gutmütig, als sie seinen sehnsüchtigen Gesichtsausdruck sah. “Nun lauf schon!”
Jan nickte mit dem Kopf und eilte derart ungestüm los, das er mit einem der Küchenmädchen zusammenstieß. Die Schüssel entglitt dem Mädchen aus den Händen und noch bevor diese auf den Boden prallte, ergoss sich die teigige Masse über Jans Hosen und Stiefel.
“Verflixt und Donnerwetter”, schimpfte die Köchin, stemmte die Hände in die Hüfte und bedachte Jan mit einem zornigen Blick. Sie warf Jan ein Tuch zu, womit er sich Hose und Schuhe notdürftig sauber wischen konnte. “Das bringst Du nachher in Ordnung, wenn du da oben fertig bist”, rief sie und scheuchte ihn hinaus.
Jan sauste die Treppe hoch. Vor der Tür zu Zimmer 5 angekommen, hielt er kurz inne und schnaufte durch. Er hob die Hand, um anzuklopfen, da wurde die Tür von innen aufgerissen und Morgan stand, noch im Nachthemd, aber bewaffnet mit einer kleinen Muskete, vor ihm.
Zum zweiten Mal an diesem Morgen brach seine Stimme vor lauter Aufregung.
“Käpt’n, ich habe wichtige Neuigkeiten!”
“Hast du eine Anstellung als Küchenjunge gefunden?”, Morgan zeigte auf die von Teig verkrusteten Kleider und lachte, dann bat er Jan in sein Zimmer.
“Ach das”, Jan sah an sich hinab “ein Mißgeschick, in der Eile”, dann begann er hastig zu berichten.
Während Jan seine Beobachtungen schilderte verfinsterte sich Morgan´s Miene zusehends. Noch während der Junge sprach, schlüpfte er in Hose und Stiefel, streifte sich ein Hemd über und schnallte sich den Degen um.