Stimmen drangen in die Kabine, die sie mit Francis teilte. Der schlief tief und fest und schnarchte leise. Einen Arm hatte er um sie gelegt, sein Kopf lag an ihrer Schulter. Sie lauschte einen Moment angestrengt, erkannte den Bass ihres Großvaters. Aber auch die andere Stimme kam ihr vertraut vor. Das war doch … ja, das war die Stimme ihres Vaters!
Vorsichtig wand sie sich aus Francis’ Umarmung, hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn und stand leise auf. Er drehte sich zur Wand und schnarchte um so lauter weiter. Sie zog sich an, platschte eine Handvoll Wasser ins Gesicht und fuhr mit dem Kamm durch ihre Haare. Sie steckte sie geschwind zu dem praktischen Knoten, den sie in den letzten Tagen und Wochen schätzen gelernt hatte. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel, dann verließ sie die Kabine.
Eilig kletterte sie den Niedergang hinauf und tatsächlich, da stand ihr Vater mit Morgan, gerade im Begriff, in Morgans Kajüte zu gehen.
“Papa! Wie schön, Dich zu sehen!”, rief sie fröhlich, und sein Kopf ruckte herum.
“Charlotte! Mein Mädel, wie geht es Dir?” Mit ein paar großen Schritten kam er ihr entgegen und sie verschwand in seiner Umarmung.
“Kommt, ihr beiden, gehen wir hinein, sonst wecken wir noch das ganze Schiff auf, und die Aurelia gleich mit”, meinte Morgan verschmitzt und ging voraus.
“Wir haben ja so viel zu erzählen, Papa. Stell’ Dir vor, Piraten, britische Fregatten, Erdbeben, und Antoine hat Geraldine gefunden, Warlock hat Aliena und Francis und ich …”, sprudelte sie hervor, verhaspelte sich prompt und wurde rot. Verlegen wandte sie sich ab und suchte Teebecher aus dem Schapp.
“Ja, davon habe ich schon einiges zu hören bekommen, im Riddler’s”, antwortete Thomas grinsend. Sein Vater und seine Kinder waren doch immer wieder für abenteuerliche Geschichten gut. Er setzte sich an den Kartentisch.
“Wer ist Aurelia?”, wollte er dann wissen.
“Hast Du bestimmt neben der Lale liegen sehen, Papa. Das ist Alienas Schiff”, antwortete Charlotte. Jan kam mit dem Teepott herein.
“Jan, lauf geschwind zur Aurelia rüber und hole Warlock und Aliena, ja?”, bat sie ihn dann. Jan nickte und sauste los.
Charlotte nahm gegenüber Platz und musterte ihren Vater. Thomas schaute seiner Tochter in die Augen. “Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Du bist erwachsen geworden”, sagte er.
“Danke für die Briefe”, sagte Charlotte “Das hat mir sehr über die lange Zeit geholfen. Ich dachte schon, ich hatte befürchtet, wir sehen uns nie wieder”. Thomas legte seinen Arm über den Tisch und Charlotte ergriff seine Hand.
“Du bist mein Kind”, sagte Thomas “In meinen Gedanken und mit meinem Herzen war ich immer bei dir”.
“Ich weiß, Paps”, antwortete Charlotte und drückte seine Hand. Er bemerkte die Bernsteinkette um ihren Hals und lächelte.
Schritte polterten an Deck. Jan steckte den Kopf herein und sagte, dass er gleich noch einen Teepott bringen würde.
Gleich hinter ihm standen Aliena und Warlock, die Hand in Hand Morgans Kabine betraten.
Thomas sprang auf und blieb dann wie angewurzelt stehen.
Es waren doch nur wenige Monate gewesen, seit Warlock abgehauen war! Jetzt stand da ein erwachsener Mann vor ihm, muskulös, braun gebrannt, mit einem verwegenen Knoten im Haar und Bart. Und die Frau an seiner Seite! Das verschlug ihm erstmal die Sprache.
Warlock stand in der Kabine und rief “Charlotte, deine Idee mit dem Bad war …”, er schaute auf und stockte mitten im Satz, vor Überraschung fiel ihm die Kinnlade herunter. Er erkannte den Mann der gerade um Morgans Tisch herum ging und auf ihn zu kam. Er konnte es jedoch kaum glauben.
“Warlock”, Thomas hob überrascht die Arme und betrachtete seinen Sohn von Kopf bis Fuß.
Warlock klappte den Mund wieder zu. “Vater!?!”
Grinsend beobachtete er, wie sein Vater ihn und vor allem Aliena musterte.
Dann lachte er auf “Wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich Dich schon vor einigen Jahren in die Nanuk gesteckt und davonsegeln lassen”.
Darüber mussten alle herzlich lachen, und die Stimmung lockerte sich merklich.
Warlock umfasste Alienas Taille und drückte sie leicht. Sie lachte und wandte sich dann Thomas zu.
“Vater, das ist Aliena de Herrera, meine Liebe, Partnerin, Freundin, und bald auch Verlobte.”
Nun war es Thomas, dem die Kinnlade herunterfiel. “De Herrera?”
“Ja, richtig. Aliena de Herrera, Tochter und Erbin von Don Pedro”, sagte sie dann selbstbewusst. Beim Wort Erbin merkte Thomas auf.
“Ich kann mich nicht für meinen Vater entschuldigen, dafür hat er viel zu viel Schreckliches verbrochen in den letzten Jahren. Aber er ist tot. Und ich habe vor, die Geschäfte ab sofort ehrenhaft zu führen.”
“Aber eine wunderschöne.” schwärmte Charlotte.