Giacomo betrat seine alte Stube. Das Bett war frisch gemacht, auf dem Tisch stand eine Flasche Wein.
Ungelenk ließ er sich auf das Bett fallen. Jeder Knochen tat weh, er konnte sich kaum noch rühren. Ächzend beugte er sich vor, um die Stiefel auszuziehen. Erleichtert bewegte er die Zehen. Dann erhob er sich doch nochmal, um die Flasche zu holen. Er goss sich einen Becher ein und trank in tiefen Zügen. Hernandez hatte sich nicht lumpen lassen, das war ein guter Tropfen. Genießerisch leckte er sich über die Lippen.
Der zweite und dritte Becher ließen seine schmerzenden Sitzhöcker langsam in Vergessenheit geraten, der vierte Becher versetzte ihn in einen angenehmen Nebel. Er kippte zur Seite und schlief, bevor sein Kopf das Kissen berührte.
Kapitel 48
“Maldito!”, rief Aliena aus, als sie hörte, dass sie nicht genug Waffen hatten. Dann schrie und zeterte sie: “Wie konnte er nur! Das wird er mir büßen, dieses alte Aas. Dieser miese, alte Sack soll mich kennen lernen! Ich werde Rafael rächen!” Sie fuchtelte wild mit der Faust. Warlock und Carlos wechselten einen Blick. Es war, als stünde Don Pedro höchstpersönlich vor ihnen. Aliena beruhigte sich nur mühsam. “Lasse sämtliche Tore schließen und verdopple die Wachen, Carlos. Warlock, du gehst zur Aurelia und holst die Mannschaft. Und so viel Waffen und Munition wie ihr auftreiben könnt”, wieß sie die beiden an.
Nicht lange darauf kam Warlock mit der Mannschaft an. Sie hatten einen Karren dabei, auf dem sich Waffen und Pulverfässer befanden. Nachdem der Letzte durch das Tor getreten war, wurden die Torflügel geschlossen und verriegelt. Aliena ließ noch einmal alle Angestellten und Bediensteten antreten. “Hier sind zwei Männer, die bezeugen können, wie mein Vater gestorben ist. Zum einen James MacLeod und Leon, an den sich viele bestimmt noch erinnern”, rief sie laut. Bei der Nennung von Leon ging ein raunen durch die Versammelten. Leon und James traten vor und berichteten von der Nacht, in der Don Pedro starb. Danach herrschte Stille im Hof. Nun konnte es keine Zweifel mehr über Aliena’s Ansprüche auf ihr Erbe geben.
Die Vorbereitungen, den bevorstehenden Überfall abzuwehren, zogen sich bis lang in die Nacht. Da das Anwesen nur mit einer Umfassungsmauer vom angrenzenden Land getrennt war, gab es keine Laufgänge in Höhe der Mauerkrone. So mussten Aliena und Warlock an bestimmten neuralgischen Punkten des Gehöfts, wie etwa dem Bereich um das Tor und den Bereichen, an denen Gebäude bis an die Mauer reichten, hastig Gerüste, aus verwertbaren Möbeln, Karren und Leitern und vieles mehr zimmern lassen. Es war wichtig gute Schusspositionen für die Verteidigung zu errichten. Jeder packte mit an, jeder Knecht, jede Magd, die Seeleute der Aurelia. Selbst die wenigen Kinder der Bediensteten halfen, wo sie nur konnten.
Trotz der ungewissen Stunden, die ihnen allen bevorstanden, war Aliena glücklich. Sie war glücklich zu sehen, dass niemand mehr an ihr zweifelte, ihre Anordnungen wurden befolgt und trotz der Anspannung sah man hier und da lächelnde Gesichter. Vereinzelt war auch Gelächter unter den Menschen zu hören.
Als lange nach Mitternacht alles getan war, stellte sich Warlock hinter Aliena und umfasste zärtlich ihre Schultern.
„Jetzt heißt es abwarten!“, sagte er und schmiegte seinen Kopf an ihren.
In Hernandez’ Taverne schlief Giacomo noch seinen Rausch aus. Das Hämmern an der Tür nahm er gar nicht wahr. Nach einer guten Minute öffnete der Bursche vorsichtig die Tür. Die Gestalt auf dem Bett rührte sich nicht, schnarchte dafür um so lauter.
“Giacomo! Giacomo! Aufwachen, Mann, steh’ auf!”, rief er laut. Keine Reaktion. Vorsichtig trat er noch näher an die Schlafstatt heran und wollte Giacomo gerade an der Schulter packen und schütteln, als der wie ein Kastenteufel hochfuhr und dem erschrockenen Jungen ein Messer an die Kehle hielt.
“Hey, vorsichtig, Mann. Ich sollte dich wecken, um jeden Preis, hat Hernadez gesagt. Die Männer sind bereit zum Aufbruch, sie warten unten im Hof.” Dann rannte er hinaus.
Giacomo stöhnte und hielt sich den Kopf. Allein diese kleine Bewegung jagte stechende Schmerzen durch seinen Körper. Warum hatte der Kerl ihn geweckt? Er hatte so schön geträumt, dass Don Pedro wieder da sei … er freute sich schon auf die vielen Geschichten die er immer mit viel Verve erzählt hatte. Er lächelte.
“Giacomo! Kommst du jetzt runter oder sollen wir ohne dich losreiten?”, brüllte jemand im Hof. Er zuckte zusammen. Wohin reiten?
Schwere Tritte polterten auf der Treppe nach oben. Hernadez steckte seinen Quadratschädel durch die Tür.
Jetzt fiel es ihm wieder ein. Don Pedro, ermordet. Aliena, die alles an sich reißen wollte. Und dieser Warlock, einer der schlimmsten Feinde, mit dem sie …
“Ja, ja, ich komme schon. Gleich”, knurrte er übellaunig.
Mühsam rappelte er sich hoch, schwang langsam erst ein Bein, dann das andere über die Bettkante. Jede Bewegung schmerzte höllisch. Er zwang sich, aufzustehen und kam nicht hoch. Mit einem beherzten Griff nach dem Bettpfosten schaffte er es nach ewig erscheinenden Minuten, sich aufrecht zu stellen und atmete tief durch.
Die Stiefel anzuziehen stellte sich allerdings als schier unmöglich heraus. Er konnte sich einfach nicht bücken.
Mit kleinen Trippelschritten, sich möglichst wenig dabei bewegend, schlich er zum Fenster und riss es auf.
“Hernandez! Schick mir den Burschen nochmal rauf, ja?” Schnelle, leichte Schritte auf der Treppe, dann lugte der Junge vorsichtig zur Tür herein.
“Komm schon rein, ich tu dir nichts. Hilf mir mit den Stiefeln und mit dem Mantel. Und wo ist mein Degen?”
Giacomo erreichte schwerfällig den Treppenabsatz und quälte sich die Stufen hinunter. Hernandez saß mit ein paar Männern an einem Tisch. Er winkte Giacomo zu sich und zeigte auf einen freien Platz “Komm, setze dich, du siehst ja aus wie der leibhaftige Tod”. Giacomo ließ sich von dem jungen Burschen stützen und nahm keuchend bei den Männern Platz. Hernandez öffnete einen ledernen Beutel, entnahm eine Handvoll grüner getrockneter Blätter, stopfte sich ein paar davon in den Mund und reichte Giacomo den Rest “Hier, zerkau das, schön langsam, das wird deine Lebensgeister wecken”. Nach und nach bedienten sich die Männer. Giacomo stopfte sich die Blätter in den Mund und begann darauf zu kauen, schluckte den bitteren Saft, der in der Kehle brannte.
Wenige Augenblicke später spürte er, das sein Mund taub wurde, dann ließen die Schmerzen nach. Hände und Füße fühlten sich so leicht an, alles fühlte sich so leicht an, als würde er sich jeden Augenblick in die Höhe erheben, fliegen. Hernandez und die Männer standen auf. Giacomo hatte sich in seinem Körper lange nicht mehr so wohl gefühlt, er fühlte sich um Jahre jünger. Er stützte sich mit den Händen an der Tischplatte ab und stand auf, dann ging er mit den anderen hinaus, etwas langsam doch nicht mehr so schwerfällig und mit schmerzverzerrtem Gesicht wie noch vor einigen Minuten. Die steifen Glieder machten ihm das Aufsitzen zwar nicht leichter, doch benötigte er nur zwei Versuche um auf dem Rücken seines Pferdes zu kommen. Hernandez ging auf ihn zu, klopfte Giacomo auf die Schenkel, wünschte ihm viel Glück und reichte ihm den Beutel mit Koka Blättern “Die wirst du brauchen, alter Freund”. Ein bulliger Mann mit schwarzen öligen Haaren und einem Vollbart führte die Gruppe an. “Abmarsch”, gab er den Befehl. Die Bande von zwanzig schwer bewaffneten Männer setzte sich in Bewegung. Hernandez blieb zurück. Er hob noch einmal grüßend die Hand und verschwand in seiner Spelunke.
Es war windig, die Sonne stand bereits über dem Horizont. Die unregelmäßige Wolkendecke reflektierte die Sonnenstrahlen und Giacomo bestaunte die wie auf Leinwand gemalte Kulisse. Er zog geradewegs in eine heroische Schlacht und er würde als Sieger seinen Degen erheben, seinen Anspruch geltend machen, als der Patrone, Giacomo. Er griff in den Beutel und nahm sich eine Handvoll Blätter, die er gierig in den Mund stopfte, hastig zerkaute und den bitteren heilsamen Saft hinunterschluckte.
El Golfo schien wie ausgestorben, als die Männer hindurch ritten. Bis auf ein paar streunende Hunde hatten sich die Bewohner des Dorfes in ihre Häuser zurückgezogen.
Das Anwesen Don Pedro´s lag oberhalb des Dorfes. Giacomo ritt voran, er führte die Reiter nicht zum Haupttor. Er wählte den Weg über einen steinigen Pfad zum einem kleinen Durchgang, der an der seitlichen Umfassungsmauer lag.
Aliena und Warlock hatten kaum geschlafen. Sie waren bis spät in die Nacht damit beschäftigt, sich auf den bevorstehenden Angriff vorzubereiten. Sie hatten entlang der Mauer mit Leitern und Brettern Gerüste gezimmert und auch auf dem Dach des Hauses Wachen postiert. Dann waren sie erschöpft und eng umschlungen auf dem Stroh in der Scheune für wenige Stunden eingeschlafen. “Sie kommen”, rief einer der Wachen vom Dach und zeigte auf die seitliche Mauer. “Das Hurentor”, rief Aliena aufgeregt. Sie hatte dieses kleine Seitentor einmal so bezeichnet, nachdem sie herausgefunden hatte, das ihr Vater gelegentlich Besuch von Damen hatte, die er nicht durch das Haupttor empfing. Aliena hatte vorgesorgt. Das Hurentor war mit Holzstapeln verbarrikadiert.
Giacomo nahm noch einen Handvoll der Koka Blätter zu sich und schwang sich vom Pferd. Er stürzte auf den sandigen Boden, raffte sich wieder auf. Sein Körper schien so leicht wie eine Feder. Das Tor ließ sich nicht öffnen. Einer der Männer nahm einen Strick, band ihn an die Eisenbeschläge und das Arbeitsgeschirr seines Pferdes. Nach wenigen Minuten gab das Tor nach und brach aus den Angeln.
Die Banditen warfen In Pech getränkte, brennende Fackeln über die Mauern.
Der Wind hatte aufgefrischt und die Lale Andersen befand sich in voller Fahrt nur noch wenige Seemeilen vor El Golfo. Scully nahm das Fernrohr vom Auge “Land in Sicht, eine halbe Stunde voraus”, berichtete er Morgan, der neben ihm stand, dann setzte der das Fernrohr schnell wieder an, irgendetwas hatte er aus dem Augenwinkel heraus wahr genommen. “Käpt´n”, rief er “Ich sehe, starken Rauch”.
Morgan überkam plötzlich ein ungutes Gefühl, mochte Geraldine mit ihrer Sorge recht behalten haben? Waren Warlock und Aliena in Gefahr? “Macht die Beiboote bereit”, rief er und wandte sich an Scully “Bewaffne die Männer und mache das Schiff gefechtsbereit”.
Morgans Boot legte als erstes an. Die anderen folgten direkt darauf. In Windeseile waren Männer und Waffen an Land gebracht und Morgan führte seinen Trupp im Laufschritt dem Dorf entgegen.
Als sie die letzten Häuser El Golfos passierten, wurde der Ursprung des Feuers sichtbar. An der rechten Flanke des Anwesens brannte ein Zugang an der Mauer lichterloh. Das Feuer hatte leichtes Spiel, da im Anschluss an dem Tor ein Holzschuppen stand, in den sich die Flammen gefräßig ihren Weg bahnten.
Das Geschrei und die Schüsse, die von dort herüberklangen, verhießen nichts Gutes.