Da der wachhabende Matrose sich den Männern in den Weg gestellt hatte und sie mit seiner Pistole versuchte in Schach zu halten, war die Situation schon äußerst angespannt, als Skully eintraf. Ein Riese von einem Kerl wurde von den zwei anderen Männern daran gehindert, nicht auf den Matrosen loszugehen.
„Was ist hier los?“, brüllte er. Was wollt ihr hier auf der Lale?“
Einer der Männer, der sich vor den Riesen gestellt hatte, drehte sich zu Skully.
„Wir sind Don Pedros Männer. Wir haben gesehen, was mit ihm passiert ist. Lasst uns mit seiner Tochter reden, ich bitte euch. Sonst kann ich unseren Freund hier nicht länger vor einer Tat, die wir alle bereuen werden, abhalten.“, James hatte sichtlich Mühe, sich gegen El Torso zu stemmen. Leon gab von hinten sein Bestes, in dem er in den Gürtel des Riesen griff und so versuchte ihn zu halten.
„Ich habe schon nach ihr rufen lassen.“, sagte Skully und richtete die Waffe auf El Torso. „Aber ich werde einen Teufel tun und euch Halunken an Bord lassen!“
„Halt!“, rief es vom Decksaufgang her. „Nehmt die Waffen runter. Skully, ich bitte euch!
Aliena und Warlock rannten herbei. Auch Jan kam dazu gerannt, einen Belegnagel als Bewaffnung in der Hand haltend.
“Ramon, beruhige dich! Ich bin hier. Was willst du?” Aliena stand an Deck, neben Warlock, die Hände in die Hüften gestemmt.
Skully und der Matrose hatten zwar ihre Waffen gesenkt, aber nicht weggesteckt. Dieser Riese war ihnen nicht geheuer.
“Aliena de Herrera, du bist die rechtmäßige Erbin! Das ganze Imperium deines Vaters gehört jetzt dir, und ich gehöre dazu. Ich habe immer den Herreras gedient, also jetzt auch dir. Sag mir, was ich tun soll, wen ich umbringen soll, um deinen Vater zu rächen!” Wild gestikulierend unterstrich er seine leidenschaftlichen Worte mit weit ausholenden Armbewegungen.
Aliena zuckte zusammen. Da war es wieder, der Hinweis auf die verbrecherischen Machenschaften ihres Vaters, auf sein Imperium der Furcht und auf die Methoden, vor denen er nicht zurückgeschreckt war.
Das hatte sie nicht gewusst, er hatte alles Unehrenhafte immer von ihr ferngehalten. Um so härter traf sie dieses ungeschminkte Angebot.
Hilfesuchend sah sie erst Warlock, dann Skully an. Sie hatte Ramon nie so wütend erlebt, und sie hatte Angst vor ihm, wie er wutschnaubend immer noch versuchte, an Bord der Lale und näher an sie heranzukommen. Leon und James krallten sich in seinen Kleidern fest, aber er zerrte die beiden unerbittlich mit sich.
“Hier wird niemand umgebracht! Nie wieder, hörst du, Ramon! Ich habe andere Pläne. Dich brauche ich nicht dazu. Du bist ein hinterhältiger Mörder und Auftragskiller, dir kann man nicht trauen!” Aliena wusste selbst nicht, woher sie den Mut nahm, so mit El Torso zu reden.
Warlock legte ihr eine Hand auf die Schulter, er war so stolz auf sie.
El Torso dagegen schien mit jedem ihrer Worte noch wütender zu werden. Hochrot im Gesicht fuchtelte er in Richtung des Matrosen und Skully. “Ihr haltet mich nicht auf, ihr nicht! Lasst mich zu ihr, ich muss ihr Vernunft beibringen! Lasst. Mich. Los!”, brüllte er und Speichelfetzen flogen umher. Leon und James verließen die Kräfte, sie konnten ihn nicht mehr halten. Plötzlich des Gegengewichtes der beiden Männer entledigt, stolperte er zwei Schritte vorwärts.
Skully und der Matrose rissen erschrocken ihre Waffen hoch und wichen zurück. Von seinem Momentum getragen, taumelte El Torso mit ausgestreckten Fäusten noch einen Schritt und fluchte dabei lauthals. Bevor er sein Gleichgewicht wiederfinden konnte, krachten zwei Schüsse fast gleichzeitig in seine Brust.
Die auf der Aurelia postierten Wachen hatten im Laufe des Abends vier Matrosen, die von ihrem Landgang zurückgekehrt waren, in Gewahrsam genommen. Während Cooper sich mit dem wachhabenden Offizier unterhielt, drang lautes Stimmengewirr von der Lale herüber. “Floyd und Johnson”, rief Cooper und die beiden Wachen folgten ihm zur Anlegestelle der Lale. Von weitem erkannte er Warlock, und eine ihm unbekannte Frau. Wenige Schritte daneben erkannte er Scully und zwei Matrosen. Sie standen einem Riesen von Mann gegenüber, der mit ausgestreckten Fäusten auf Warlock zu ging, begleitet von zwei bewaffneten Männern. Er erkannte die bedrohliche Lage. Der Riese taumelte plötzlich, drehte sich um und hielt inne. Cooper erhob die dopelläufige Pistole und schoß. Er traf den Mann mit zwei Schüssen.
Mit einem fassungslosen Blick knickte El Torso auf die Knie und schlug dann lang hin. Alle schauten schockiert auf die Leiche des hühnenhaften Schlägers welche langsam von Blut eingerahmt wurde.
[INDENT]„Wir sollten Morgan und Francis benachrichtigen,“ brach Davy Jones das entsetzte Schweigen. Skully nickte mechanisch. Davy nahm ihm die Waffe ab und richtete sie auf Leon und James. „Und wir geben der Kommandantur Bescheid, dass wir die Flüchtlinge gefasst haben.“ Aliena legte ihre Hand auf Davy‘s Arm. „Leon und James haben sich nichts zu schulden kommen lassen. Leon ist Koch und James ist Steuermann. Bitte lasst sie gehen.“ Skully horchte auf. „Einen Smutje und einen Steuermann können wir brauchen. Verbürgst du dich für die beiden, Aliena?“ „Ja Mr. Skully, antwortete sie. Leon griff dankbar Aliena‘s Hand und James stieß erleichtert die Luft aus. „Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte,“ bat James ums Wort. „Wir fahren Don Pedro und El Torso mit dem Beiboot raus und übergeben sie der See. Den Kommandanten zu informieren wird nicht nötig sein. Und ich für meinen Teil nehme das Angebot an, mit euch zu segeln.“ Leon nickte nur.[/INDENT]
Skully winkte ein paar Matrosen heran. Sie legten die beiden Leichen auf eine Karre und brachten sie zum Beiboot der Lale. Während die leblosen Körper in Tücher gelegt wurden, ließ Warlock zwei schwere Kisten aus dem Laderaum holen. Die mit Gold belegten Kanonenkugeln, die einst zur Versenkung Don Pedro´s Patache immer noch im Laderaum der Lale lagerten, wurden nun als Gewichte in die Leintücher vernäht. Nun hatte er endlich seinen Frieden gefunden, dachte Warlock. Sie luden die Leichen auf das Beiboot und fuhren ein Stück weit hinaus.
Aliena weinte und griff nach Warlocks Hand, als die sterblichen Überreste Don Pedro de Herrera der See übergeben wurden. Er war ein gemeiner Schuft, dachte Warlock und beim Anblick seiner trauernden Aliena schien dieser Schurke trotz all seiner Verfehlungen dennoch ein liebender und liebevoller Mensch gewesen zu sein. „Ruhe er in Frieden“.
Kapitel 42
Die Musiker legten eine Pause ein. Charlotte setzte sich auf einen Stuhl am Rand. “Soll ich dir noch einen Wein holen?”, fragte Francis und sah sie liebvoll an. “Nein Danke. Ich habe schon einen kleinen Schwipps”, antwortete sie ein wenig atemlos. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Einzelne Strähnen hatten sich aus ihrer hochgesteckten Frisur gelöst und ihr Busen hob und senkte sich rasch. Sie bot einen überaus reizenden Anblick. Der Konsul winkte Francis. “Entschuldige mich einen Moment, Liebes.” Er drückte Charlotte einen Kuss auf die Stirn. “Aber natürlich.” Sie sah ihm lächelnd hinterher. Murtagh gewahrte Chalotte, die allein am Rand der Tanzfläche saß. Er nahm ein Glas Wein von einem Tablett eines vorbeieilenden Lakais und stürzte es in einem Zug hinunter. Ein wenig flüssiger Beistand konnte nicht schaden. “Welch ein erfreulicher Anblick sind die strahlenden Augen im Gesicht einer schönen Frau. Guten Abend, Madame. Mein Name ist Murtagh McKinnley. Dürfte ich um die nächsten beiden Tänze bitten?”, fragte er und verbeugte sich höflich.
Charlotte blickte in intensiv leuchtende, blaue Augen. “Sehr gern”, stimmte sie zu und neigte den Kopf. Er hatte den unglaublichsten Rotschopf, den sie je gesehen hatte.
Die Musiker spielten erneut auf und Charlotte und Murtagh stellten sich einander gegenüber. “Von wo aus Schottland stammen sie?”, fragte sie Murtagh während sie sich einander umkreisten. “Von den Orkney Inseln. Ich lebe jedoch schon seit vielen Jahren in Edinburgh.” “Dann sind ihre Vorfahren Wickinger?” “Aye”, antwortete er und lachte. Charlotte hatte Schotten immer für geistlose Barbaren gehalten, aber Murtagh belehrte sie eines besseren. Er war witzig und sehr charmant. Sie lachte herzlich über seine Scherze und die Leute im Festsaal wurden auf das Tanzpaar aufmerksam.
“Das ist doch ihre Verlobte, Fulton, wenn ich mich nicht irre”, sagte der Konsul mit Blick zum Tanzparkett. Francis drehte sich um und erstarrte. Eifersucht machte sich in ihm breit, als er sah, mit welch glühenden Blicken Murtagh Charlotte ansah. Am liebsten hätte er Charlotte aus seinen Armen gerissen und ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Es kostete ihn einige Mühe, sich zu beherrschen. Francis trat hinter Murtagh und als dieser einen Schritt zur Seite machte, trat er an seine Stelle. “Francis”, rief Charlotte überrascht aus. “Wie ich sehe, scheinst du dich gut zu amüsieren”, knurrte er. In diesem Moment wurde er von Murtagh zur Seite gedrängt. “Was soll das. Sie sehen doch, dass ich mit der Dame tanze”, beschwerte er sich. Francis drehte sich zu Murtagh um. “Diese Dame ist zufällig meine Verlobte”, sagte er und hieb Murtagh mit der Faust ins Gesicht. Charlotte schrie entsetzt auf. Murtagh fackelte nicht lange. Er wischte sich die blutige Nase ab und schlug zurück. Bevor das Ganze zu einer Schlägerei ausartete wurden sie von den herbei eilenden Wachen zurückgehalten. Francis riss sich los und stürmte nach draußen. Charlotte rannte hinter ihm her. “Du entschludigst dich auf der Stelle”, sagte sie bestimmt. “Den Teufel werd ich tun”, rief Fransic aufgebracht. Er ließ die Kutsche kommen und Charlotte blieb nichts anderes übrig, als ein zu steigen. Während der Fahrt zurück zum Schiff, wechselten sie kein weiteres Wort.
Francis saß Charlotte stocksteif gegenüber und presste ein angefeuchtetes Tuch auf sein linkes Auge, das McKinnley mit seinem Schwinger erwischt hatte.
Charlotte blickte angestrengt an ihm vorbei.
“Ho-o”, brachte der Kutscher die Pferde neben der Lale zum Stehen und winkte einen der herumlungernden Burschen heran, um den Schlag zu öffnen und die Trittstufe auszuklappen.
Francis stieg zuerst aus und wollte Charlotte seinen Arm anbieten, aber sie hatte ihren Rock mit beiden Händen zusammengerafft und den Schritt nach unten mit formidabler Haltung bereits gemeistert.
Ohne ihn, ihren herbeieilenden Bruder, Aliena, oder sonst jemanden auch nur eines Blickes zu würdigen, ging sie zielstrebig über die Gangway und sofort in ihre Kabine. Sie warf die Tür zu, feuerte sie ihr Retikül auf ihre Koje, ließ sich auf einen Stuhl fallen und brach in bittere Tränen aus.
Francis sah ihr hinterher, aber folgen konnte er ihr nicht, denn Warlock, Skully, Aliena und Jan umringten ihn sofort. Sie redeten alle zusammen auf ihn ein und er verstand nur einzelne Wortfetzen. Ein Name stach aus dem Gewirr heraus. Don Pedro.
Francis hob abwehrend die Hand. “Leute, nicht alle gleichzeitig, ich verstehe kein Wort! Was war hier los? Was ist mit Don Pedro? Ist der etwa hier aufgetaucht?!”