Charlotte warf einen forschen Blick zu Geraldine hinüber, “Nun ist Diplomatie gefragt”, dann blickte sie verwundert in die Runde, “Wo ist eigentlich Warlock?”.
“Hier bin ich.” Er tippte seiner Schwester von hinten auf die Schulter. Charlotte zuckte zusammen und fuhr herum. Sie war verärgert. “Wie kannst du mich nur so erschrecken? Und wo hast du dich wieder herumgetrieben?”
Bevor Warlock etwas erwidern konnte mischte sich Jan ein. “Er ist Don Pedro’s Tochter gefolgt.”
Warlock verfluchte Jan innerlich für sein loses Mundwerk.
“Bist du verrückt? Wenn Großvater das erfährt, ist was los!”, fuhr ihn Charlotte an.
“Na ja”, begann Warlock verlegen und dachte daran, dass er sich vor Aliena wie ein absoluter Idiot aufgeführt hatte. Er hatte stundenlang auf dieser Treppe gewartet, aber sie war natürlich nicht wieder aufgetaucht.
Charlotte schnitt ihm das Wort ab. “Lassen wir das jetzt. Wir haben ganz andere Probleme.” Sie warf die Arme nach oben und meinte noch: “Ausgerechnet in eine Piratentochter musst du dich verlieben.” Warlock grinste schief. Das kann man sich nun mal nicht aussuchen, dachte er.
Charlotte wandte sich fragend an Skully, der aufmerksam die Aktivitäten auf der Beagle durch sein Fernrohr beobachtete. “Auf der Beagle und Victorius wurden bereits die Segel eingeholt”, murmelte Skully, “und sie haben ein Beiboot herunter gelassen”, er begann zu zählen, “Acht bewaffnete Soldaten und zwei Offiziere.”, er nahm das Fernroh herunter, “Ich hoffe, ihr habt das Deck ordentlich geschrubbt, wir bekommen gleich hohen Besuch”.
In wenigen Minuten würde das Beiboot der Beagle anlegen und Charlotte wünschte sich, Morgan und Francis wären in diesem Augenblick hier. Warlock und Geraldine waren zu jung und zu unerfahren um sich der Sache anzunehmen. Jan auf seinem Krähennest träumte von der unendlichen Freiheit. Sie musterte Skully, der ihren Blick erwiderte und zustimmend nickte.
Das Beiboot der Beagle legte an der Lale an, die Soldaten kamen an Deck, postierten sich entlang der Reling, dann erschien der Kapitän, Timothy Northwny. Er schaute sich irritiert um “Wo sind Lord Francis und Kapitän Morgan?”.
Charlotte ging auf Northwny zu. “Willkommen an Bord, Mister Northwny. Ich bin Charlotte Fulton, die Ehefrau von Lord Francis Fulton”, bitte begleiten sie mich. Sie drehte sich um, ohne eine Reaktion des Engländers abzuwarten und ging zur Kapitänskajüte. Charlotte zitterte innerlich wie Espenlaub. “Bitte, nehmen Sie Platz”. Sie griff nach einer Flasche des guten Ports, den Morgan für besondere Ereignisse aufbewahrte und über dieses Getränk von seiner besten Waffe an Bord schwärmte. Northwny nahm seine Mütze vom Kopf, legte sie auf den Tisch. “Madam”, sagte er höflich. Sie nickte ihm zu und er nahm Platz. Sie schenkte zwei Gläser ein und setze sich ihm gegenüber.
“Timothy”, sprach sie ihn mit seinem Vornamen an und nippte an ihrem Glas. Wie konnten die Männer diesem Gesöff nur so verfallen sein, dachte sie sich und zwang sich zu einem größeren Schluck, “Emma hat mir viel von ihnen erzählt”. Sie spürte unmittelbar die wohlige Wärme des Ports und begann frei heraus zu erzählen. Sie füllte erneut die Gläser.
Northwny vergaß ganz und gar den gewichtigen Grund seines Besuches. Kurz nach dem Anlegen vor Funchal hatten sie die Lale ausgemacht, ein Beiboot zu Wasser gelassen und waren mit einigen bewaffneten Soldaten an Bord gegangen. Er erhoffte sich Informationen über den Verbleib des Goldes und er hätte all zu gerne gewußt, wo sich dieser Schurke Don Pedro aufhielt. Nun saß er Charlotte Fulton gegenüber, die ihn sichtlich in ihren Bann zog. “Lady Charlotte, bei allem Respekt und meiner Sympathie zu ihrer Person und unseren gemeinsamen Freunden, treibt mich ein Gedanke dennoch stets umher”, Charlotte füllte erneut sein Glas. “Ich sage es Euch ganz ohne Umschweife, bin ich auf der Suche nach dem Gold und ich suche nach diesem Schurken Don Pedro”.
"Das Gold?, das Gold liegt für alle Ewigkeit in der verschütteten Grotte. Dann lachte Charlotte auf, “Don Pedro?”, sie erhob die rechte Hand und deutete mit dem Daumen nach Steuerbord, “Wenn ihr Don Pedro sucht, der liegt mit seinem Schiff Aurelia hier im Hafen”.
Timothy blickte Charlotte weiterhin an. Er glaubte ihr kein Wort. Ihm war das leichte Zittern nicht entgangen, als sie die Gläser füllte, und ihr Lachen klang zu schrill. Er nahm das Glas und trank einen Schluck. Über den Rand des Glases fixierte er sie mit einem Blick. Sie hatte Mühe, ihm in die Augen zu sehen. Als er nichts erwiderte, redete sie nervös weiter. “Don Pedro kam letzte Nacht hier an. Mit seiner Tochter. Wir haben uns gefragt, was ihn wohl hierher verschlagen hat und …”
“Genug der Worte Mylady. Wo ist Fulton? Und wo ist das Gold?”
In diesem Augenblick öffnete sich die Kajütentür und Francis kam herein. Timothy sprang auf und warf Fulton einen feindseligen Blick zu. Francis trat an den Tisch und schenkte sich betont lässig einen Wein ein. Bevor er trank, prostete er Tim zu. “Ich bin hier. Nur das Gold, so fürchte ich, ist wohl für alle Zeit verloren.” Tim trat einen Schritt vor und ballte die Faust. “Beruhigt euch, Northwny.” Francis drehte sich zu Charlotte um. “Ich komme gerade vom Konsul. Er gibt morgen Abend einen Empfang und er freut sich schon, deine Bekanntschaft zu machen.” Er wandte sich erneut Tim zu. “Und jetzt erlaubt mir eine Gegenfrage. Wieso ist Don Pedro wieder frei? Wenn ich mich recht erinnere, wart ihr es doch, der ihn aus dem Wasser gefischt habt.”
Tim schluckte. Das hier verlief ganz und gar nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. “Verdächtigt ihr mich, mit Don Pedro gemeinsame Sache zu machen? Nun, dann muss ich euch enttäuschen. Er wurde krank und da die Mannschaft angst hatte, sich anzustecken, haben sie ihn einfach über Bord geworfen.” Tim kam ein Gedanke. “Offensichtlich war es die gleiche Seuche, die auch euch heimsuchte.” Tim lächelte innerlich, als Fulton kaum merklich zuckte.
Charlotte gähnte. “Es ist schon spät und ich möchte ausgeruht sein, für den Empfang morgen.” Timothy verbeugte sich vor ihr. “Natürlich. Gute Nacht, Mylady.” Er lief zur Tür. “Wir sprechen uns noch Fulton”, zischte er Francis zu, bevor er die Kajüte verließ.
Sie Sonne war untergegangen und überall auf den Schiffen und im Hafen waren die Laternen entzündet, als er an Deck trat. “Was ist los?”, fragte er, als ihm Murtagh aufgeregt entgegen kam. “Don Pedro befindet sich auf der Aurelia. Und wie ich noch erfahren habe: Seine Tochter hat vor Stunden das Schiff verlassen und ist nicht wieder aufgetaucht.” Dann war es also wahr, was Charlotte gesagt hatte. Murtagh setzte das Fernrohr an und sah zur Aurelia hinüber. “Was macht der den hier?”, rief er überrascht aus. “Wer?”, fragte Tim. Murtagh reichte ihm das Fernrohr. “Sein Name ist James MacLeod. Als ich ihn das letzte Mal sah, saß er in einem Kerker in Edinburgh.” Tim beobachtete aufmerksam das Deck der Aurelia. Außer MacLeod war noch ein Mann zu sehen. Einen finster aussehenden Kerl, dem man den Killer sofort ansah. “Was machen wir jetzt?”, wollte Murtagh wissen, als Tim das Fernrohr zusammenschob. “Wir holen Verstärkung und dann stellen wir die Aurelia unter Arrest. Und wir informieren den Konsul. Der wird nicht begeistert sein, wenn er erfährt, dass Don Pedro vor Anker liegt.” Tim freute sich schon, Don Pedro bald hinter Gittern zu wissen.
Ramirez vertröstete sie schon seit Stunden. Allmählich hatte Aliena das Warten satt. „Ich will jetzt endlich meine versprochenen Waren haben“, sagte sie zu der Wache vor seiner Tür. „Ramirez ist beschäftigt, Herzchen.“ Aliena stieß ihn zur Seite und rieß die Tür auf. Sie prallte zurück. Ramirez war gerade mit seiner Mätresse zugange. „Komm morgen wieder. Es sei denn, du willst dich zu uns legen“, sagte er mit einem anzüglichen Grinsen. Aliena sah ihn angewidert an. „Ich verzichte.“ Sie warf die Tür zu und rannte nach draußen. Auf dem Weg zum Hafen hörte sie Soldaten auf sich zukommen. Sie drückte sich schnell in eine Seitengasse und sah mit Entsetzen, wie ihr Vater, Leon, El Torso und James abgeführt wurden. „Was mache ich jetzt nur?“, sagte sie verzweifelt zu sich selbst.
Sobald die Soldaten mit ihren Gefangenen vorüber marschiert waren, zog sie ihren Manton über Kopf und Schultern und ging mit gesenktem Kopf, rundem Rücken und schleppenden Schritten langsam Richtung Hafen. Wenn sie nach ihr suchten, würden sie eine junge Frau suchen, keine alte.
Aus der Deckung der schmalen Gasse, die auf die Hafenpromenade mündete, beobachtete sie die Aurelia.
An Deck waren britische Soldaten zu sehen, die immer zu zweit auf und ab gingen. Dorthin konnte sie also nicht.
Ihr Blick fiel auf das neben der Aurelia vertäute Schiff. Lale Andersen, seltsamer Name für eine stolze Fregatte. An Bord herrschte normaler Betrieb, soweit sie das sehen konnte: ein Matrose im Krähennest, einige andere mit Decksarbeiten beschäftigt, ein Befehlshabender auf dem Achterdeck.
Dann bewegten sich zwei Frauen und drei Männer in ihr Blickfeld.
Geraldine? Eine der Dirnen ihres Vaters? Was zum Teufel tat die an Bord der Lale? Wem gehörte die?
Dann fiel ihr Blick auf den Mann, der ihr schon am Morgen im Café am Kai aufgefallen war und der sie heute Vormittag so unverfroren angefasst hatte. Wie lange er wohl auf der Treppe gewartet hatte? Sie erinnerte sich an seine tiefblauen Augen und das verwegene Gesicht. Und an seine Sprachlosigkeit. Vielleicht konnte sie ihn irgendwie auf sich aufmerksam … ein heftiger Stoß von hinten brachte sie fast zu Fall. Sie konnte sich gerade noch an der Wand abstützen, musste dazu aber die Gasse verlassen. Der betrunkene Mann hatte sie offenbar gar nicht bemerkt und torkelte selig vor sich hin lallend weiter zum Hafen.
Nach dem Besuch der britischen Soldaten waren alle an Bord der Lale noch sehr nervös und behielten die Umgebung stetig im Auge.
Jan hatte von seinem hohen Ausguck just in dem Moment die Hafenseite betrachtet. Laut rufen sollte er nicht, also wieselte er die Wanten hinunter und zupfte Warlock am Ärmel.
“Hey, schau mal, da drüben, an der Gasse! Das ist doch die Frau von heute morgen, oder? Sieht aus, als könnte sie Hilfe gebrauchen.” Alle drehten sich gleichzeitig um.
Aliena bemerkte die vielen Blicke nicht, die neugierig auf ihr ruhten. Der Betrunkene hatte ihr, als er sie beinahe zu Boden stieß etwas zugesteckt. Zwischen den Bändern ihres Lederbeutels steckte ein zusammengerolltes Papier. Sie wandte sich ab und suchte eine der Laternen an der Promenade. Das Papier enthielt eine Nachricht: Mitternacht,Igreja do Socorro, Fortaleza De Sao Tiago.
Konsterniert starrte sie den Zettel an. Wer schickte ihr eine solche Nachricht? Die kleine Kirche kannte sie, aber Mitternacht … Ihr Blick suchte die Turmuhr der Sé, aber es war schon zu dunkel. Wie spät mochte es jetzt sein? Halb neun, so etwa. Was sollte sie bis dahin machen, solange konnte sie sich nicht hier am Hafen aufhalten, ohne aufzufallen.
Francis hatte nur einen flüchtigen Blick hinunter geworfen. Er sah auf die Uhr. Er hatte dem Hafenmeister versprochen, sich nach dessem Dienstende noch einmal mit ihm zu treffen. Francis konnte die Einladung zu einem gemeinsamen Plausch und einem guten Glas Wein nicht einfach ausschlagen. Er sprach kurz mit Charlotte, küsste sie flüchtig, gab Skully noch einen Handschlag und verließ das Schiff und begab sich entgegengesetzt der neugierigen Blicke, die immer noch auf Don Pedro´s Tochter ruhten in Richtung der Hafenmeisterei.
Warlock war es sichtlich unangenehm, das nun alle hinunter zum Kai starrten. Er dachte daran, das es vielleicht seine letzte Gelegenheit war, sie anzusprechen, bevor sie erfuhr wer er war. Er drehte er sich um. “Warlock, wo gehst Du hin?”, rief Charlotte ihm nach. Warlock drehte sich kurz um, warf ihr einen Kuss zu. Dann lief er grüßend an den Wachen vorbei und verließ das Schiff. “Leute, genug geschaut, macht das ihr wieder an eure Arbeit geht!”, rief Charlotte und die kleine Gruppe löste sich allmählich auf.
Warlock hastete zur Uferpromenade. Nach wenigen hundert Schritten musste er einen Augenblick innehalten. Sein Herz schlug wie wild und er wäre am liebsten wieder umgekehrt, zurück zur Lale, in Sicherheit. Was machte er da gerade? Plötzlich empfand er sein Vorhaben, dieser wundervollen Frau wieder zu begegnen als völlig sinnlos. Sein Großvater hatte ihn vor einigen Wochen noch scherzhaft als Grünspecht oder Grünfink bezeichnet, ganz so genau wusste er das nicht mehr. Wie sollte er einer solch starken und gestandenen Frau gegenüber treten? Er fühlte sich in diesem Augenblick hin und her gerissen. Sein Verstand widersetzte sich dem Ruf seines Herzens. Warlock lehnte sich an die Kaimauer, holte tief Luft, starrte in den sternklaren Nachthimmel. Der kleine Bär war deutlich zu erkennen, dann Kasiopeia das Himmels W, dann Kepheus und nordwestlich stand Perseus. Warlock atmete beinahe erleichtert auf. Er war immer schon fasziniert von dieser wohl grenzenlosen, unendlich weit entfernten Sternenwelt und er verstand sich als kleinen Teil von all diesem Großen und Ganzen. Nachdem sein Vater die Insel mit ihm verlassen hatte, befand sich Warlock stets auf der Flucht und auch wenn er sich über längere Zeit an einem Ort aufhielt, hatte er doch immer ein ungutes Gefühl, keinen sicheren, dauerhaften Platz auf dieser Welt zu haben, nirgendwo sicher zu sein, keine Heimat zu kennen. Das alles hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert. Mit Morgan, seiner Schwester Charlotte, Francis und den anderen hatte er so vieles erlebt. Sie waren in dieser kurzen Zeit zu einer richtigen Familie verwachsen. Warlock spürte, wie er allmählich wieder zur Ruhe kam. Sein Blick glitt noch einmal über den abendlichen Sternenhimmel. Dann sah er einen hellen Schein, der über den Nachthimmel zog. Eine Sternschnuppe. Ganz leise rief Warlock seinen Wunsch in den Nachthimmel.
Ein Geräusch lies in aufschrecken. Er drehte sich um. Sein Herz reagierte schneller als sein Verstand und begann bis ins Mark zu schlagen.
“Seid ihr nicht der ungehobelte Bursche, der mir heute schon einmal nachgestellt hat?”, Aliena´s Hand lag an der Gürtelschnalle ihres Kleides und umfasste den Griff des Messers. Warlock streckte den Kopf, “Wenn ihr die Dame seid, die mir beinahe die Kehle durchtrennt hat?, dann ja”.
Aliena´s Blick in diese wundervollen blauen Augen raubten ihr beinahe den Verstand. Es war, als würde sie eintauchen, in ein grenzenloses Meer, darin versinken, von den Wellen und Wogen emporgehoben, an weit entfernte Plätze davon getragen werden, so leicht, so schwebend.