Inzwischen war der Hafen vollends erwacht und es herrschte turbulente Betriebsamkeit. Warlock erhob sich gemächlich, um sich noch etwas die Beine zu vertreten. Lautes Gebrüll an Bord der Aurelia veranlasste ihn, ein paar Schritte näher an das Schiff heranzugehen.
Ein alter Mann mit wirrem grauen Haarschopf hatte die Frau am Arm gepackt, aber sie schüttelte ihn ab.
“Lass doch, Vater. Es ist ja nichts passiert”, suchte sie ihn zu beschwichtigen.
“Das darfst Du Dir nicht gefallen lassen, Aliena! Keine Tochter Don Pedros wird respektlos behandelt! Wenn ich den in die Finger kriege!”, geiferte der Alte immer weiter und wollte sich gar nicht mehr beruhigen.
Warlock verschluckte sich an den letzten Krümeln seines Kuchenstücks. Don Pedro? Was machte der hier? Mit so einem Schiff und diese wunderschöne Frau war offenbar seine Tochter?
Das gab ihm einen schmerzlichen Stich ins Herz.
Trotzdem wollte er mehr über sie erfahren. Doch zuerst galt es, die anderen zu warnen. „Was ist denn los?“, fragte Charlotte, als ihr Bruder atemlos in die Pension gerannt kam. „Don Pedro ist unten im Hafen. Mit seiner Tochter“, keuchte er. Francis, Antoine und Morgan sprangen alarmiert vom Frühstückstisch auf. Geraldine blieb leichenblass sitzen. Er hatte es wieder einmal geschafft, sich aus einer ausweglosen Situationen zu befreien, dachte sie.
Morgan beobachtete Warlock eine Weile, wie er nervös auf und abging und sichtlich keine Ruhe zu finden vermochte. “Was ist los mit Dir, Junge?”. Warlock schaute zu Morgan hinüber, sein Blick sprach Bände. “Oh, versenk mich doch! Sie hat dir den Kopf verdreht!”.
Warlock warf abwehrend die Arme nach oben und schaute abwechselnd zu den anderen. “Nein, es ist nicht so, wie ihr denkt”, dann hielt er kurz inne, seine Arme sanken langsam nach unten, sein Gesicht, seine ganze Gestalt schien plötzlich wie verzaubert, seine Augen nahmen einen seltsamen Glanz an und er begann verträumt zu lächeln. “Sie ist so wundervoll, so wunderschön”.
Charlotte schien sichtlich ergriffen und legte die Hand ans Herz, während Francis seine Hand an die Stirn legte und in leisem Ton murmelte “Bitte, lasst mich über die Planken gehen”.
Morgan schaute beinahe vergnügt in die Runde. Im Laufe seines Lebens hatte er diesen Hafen schon viele Male angefahren. Madeira war eine der schönsten Inseln und er verliebte sich immer wieder aufs Neue in diese Schönheit, die es vermochte einen Menschen zu verzaubern, in ihren Bann zu ziehen. In letzter Zeit hatte er oft darüber nachgedacht, wo auf der Welt er seinen Lebensabend verbringen würde. Das ihn das Schicksal nun wieder auf diese Insel verschlug, das Warlock nun ebenso diesem Zauber erlag und er sich auch noch in die Tochter seines ärgsten Feindes verliebt hatte, das gab ihm nun aber auch ein wenig zu bedenken. Er persönlich zweifelte an einer friedlichen und einvernehmlichen Lösung mit Don Pedro.
“Wir sollten nichts überstürzen und halten uns erst einmal zurück”, sagte Morgan und fügte noch hinzu: “Ich wüsste nur zu gern, warum er Madeira angesteuert hat. Noch dazu mit seiner Tochter.” Er wandte sich an Geraldine. “Kennst du seine Tochter?”, fragte er. Geraldine schüttelte den Kopf. “Ich wusste gar nicht, dass er überhaupt eine hat”, antwortete sie.
Morgan winkte seinen Enkel zu sich. “Du schleichst dich zur Lale und sagst Skully und der Mannschaft bescheid. Sie sollen die Wachen verdoppeln. Und bitte - er sah Warlock streng an - tu nichts unüberlegtes”, schärfte er ihm ein. “Sei unbesorgt, Großvater”, versicherte Warlock und machte sich auf den Weg.
Morgan schaute ihm zweifelnd hinterher. “Hoffen wir es”, brummte er in seinen Bart.
Als Warlock verschwunden war, sah er die anderen nachdenklich an. “Vielleicht wäre es besser, wenn wir das Gold so schnell wie möglich vom Schiff schaffen und es hier irgendwo auf der Insel verstecken.”
“Das ist eine vernünftige Idee, Morgan. Ich weiß auch schon, wohin wir die Fässer bringen können, ohne dass es auffällt.” Francis wandte sich an Charlotte. “Du hast meinen Vater ja auch noch kennengelernt, und weißt sicher noch, wie sehr er seinen Madeira liebte. Er hatte hier einen befreundeten Händler, mit einem riesigen Gelände und ausgedehnten Kellereien und Lagerhallen. Der handelt nicht nur mit Madeira, sondern mit allem, was man so braucht, ist Schiffsausrüster, Kolonialwarenhändler und Weinhändler zugleich.”
Charlotte nickte lächelnd, sie erinnerte sich gut an seinen Vater und seine Vorliebe für einen speziellen, sehr süffigen Malvasia. “Können wir ihm denn vertrauen? Nicht, dass er wie Don Pedro ist?” Bei dem Gedanken wurde sie ganz blass. Francis fasste nach ihrer Hand und drückte sie innig. “Keine Sorge, das können wir. Herbert Rowland “Rolly” Fitz-Fulton gehört zur Familie!”
Morgan lachte. Mit Rolly Fitz hatte er auch schon viele Geschäfte gemacht, der hatte einen ausgezeichneten Ruf. Er kannte ihn allerdings nur unter seinem Spitznamen. Die Verbindung zuf Familie Fulton war ihm neu, aber das konnte nur nützen.
“Wir müssen aber trés vorsischtig sein, die Aurelia liegt ja gleich neben der Lale. Gut, dass wir alle nicht da waren, als sie angelegt 'aben.” Antoine vergaß fast seinen Akzent.
“Ja, natürlich. Aber Scully und die Mannschaft können schon einiges vorbereiten und wir gehen dann im Schutz der Dunkelheit heute Abend wieder an Bord.” Francis nickte bekräftigend. “Gut, dass Du Rolly auch schon kennst, Morgan, dann kannst Du ihn aufsuchen und ihn schon mal vorbereiten. Ich gebe Dir einen Brief mit. Du fällst hier in den Straßen am wenigsten auf, als Seemann.” Morgan grinste.
Unterdessen war Warlock wieder im Hafen angekommen und überlegte angestrengt, wie er unauffällig an Bord der Lale gelange könnte, vor allem, ohne dass er von Bord der Aurelia gesehen wurde. Er lachte leise, als genau vor ihm ein ganzer Tross von wichtigtuenden Hafenbeamten auftauchte. Nonchalant schloss er sich ihnen an und duckte sich dann schnell zwischen einige Kisten, die neben der Gangway der Lale gestapelt waren. Dann schwang er sich behände an Bord und ging gleich hinter der Reling in Deckung.
Skully staunte nicht schlecht, als Warlock ihm die Neuigkeiten berichtete. “Wer hätte das gedacht.” Kopfschüttelnd stieß er die Luft aus. Während Skully sich daran machte, die Mannschaft zu Unterrichten und die notwendigen Vorbereitungen zu treffen, beobachtete Warlock weiterhin die Aurelia. Leider zeigte sich Don Pedro’s Tochter nicht mehr. Angestrengt überlegte er, wie er es anstellen sollte, ihr über den Weg zu laufen.
“Sitz hier nicht so faul herum und hilf uns gefälligst.” Jan stieß Warlock mit dem Fuß an. “Ja, ja ich komm ja schon”, maulte Warlock und erhob sich. Sein Blick wurde sofort gefesselt von Aliena, die soeben wieder an Deck auftauchte. Jan bemerkte den Blick, mit dem er sie ansah, und grinste breit. Bevor er eine Bemerkung machen konnte, lief Warlock eilig von Bord. Sein Herz klopfte wie wild, als er Aliena folgte, die sich erneut Richtung Stadt aufmachte. Er hatte Mühe, hinter ihr her zu kommen, denn trotz ihrem langen Rock war sie sehr schnell. Als er sie erreichte, fasste er ihren Arm. Sie fuhr herum.
“Lass sofort meinen Arm los”, funkelte sie ihn wütend an und blickte auf seine Hand, die sie gepackt hielt.
Von dort, wo er sie berührte, bereitete sich ein wohliges Kribbeln in ihm aus. Der Drang, sie zu küssen war übermächtig, doch er war wie gelähmt. Plötzlich spürte er ein Messer an seiner Kehle.
“Hörst du schlecht? Loslassen, hab ich gesagt.” Augenblicklich ließ er sie los und hob die Hände. “Was willst du von mir?”, fragte Aliena misstrauisch. Warlock’s Herz schlug ihm bis zum Hals. Er war so beeindruckt von ihr, dass er kein Wort herausbrachte. “Bist du auch noch stumm?”, fragte sie spöttisch. Er schüttelte den Kopf. “Nun gut. Ich muss weiter, denn ich habe zu tun. Warte doch einfach hier, vielleicht fällt dir ja wieder ein, was du von mir wolltest.” Sie steckte ihr Messer weg und schenkte ihm ein Lächeln, bei dem ihm die Knie weich wurden. Sie drehte sich um, und weg war sie. Warlock ließ sich seufzend auf die Stufen der steilen Treppe nieder. Innnerlich schalt er sich, dass er sich hatte einschüchtern lassen. Aber er würde hier waren. Und wenn sie wieder kam, würde er ihr einen Kuss rauben. Ganz bestimmt.
Lächelnd stieg Aliena die Treppe hoch. Er war ihr auch schon aufgefallen. Heute morgen vor dem Café. Seine schlanke Gestalt, das schwarze Haar, dass er zu einem Knoten zusammen gebunden hatte und seine Augen. Sie waren so blau, wie das Meer und Aliena drohte, darin zu versinken.
Jan war fertig mit der Verrichtung seines Tagewerkes. Nach einem letzten prüfenden Blick auf die Takelage kletterte er ins Krähennest und ließ seinen Blick über das Meer schweifen. So endlos, so riesig, er kam sich so unbedeutend und klein vor. Alle Probleme schienen von ihm abzufallen. Er konnte stundenlang so dasitzen und auf das Meer blicken. Er hoffte auch den Sonnenuntergang beobachten zu können, wie die Sonne dann langsam im Meer versank.
Das sachte schwankende Krähennest und die harte Arbeit taten ihr Werk, fast wäre er eingeschlafen. Dann schrie eine Möwe direkt vor ihm und er schreckte hoch und rieb sich die Augen. Gleich würde die Sonne untergehen, das sah immer so wildromantisch aus. Er blinzelte in das rotgoldene Licht.
“Jan!”, brüllte Scully von unten, “Wenn Du schon da oben sitzt, halt gefälligst Ausschau! Rundum und nicht nur nach Westen, hörst Du!”
Der konnte einem den ganzen Spaß vermiesen. Aber er traute sich nicht, ungehorsam zu sein und schrie ein “Aye, aye!” nach unten.
“Da kommen zwei Schiffe, Süd-Südost, sehen aus wie Fregatten!”, vermeldete er einige Minuten später. Die Sonne war inzwischen unterm Horizont verschwunden, also kletterte er flink wie ein Eichhörnchen die Wanten runter.
Scully hatte schon das Fernrohr in der Hand und suchte den Horizont nach Süden und Südosten ab. Im schwächer werdenden Licht konnte er die Masten mit voll gesetzten Segeln noch gut erkennen.
“Bei Poseidon! Das sind die Engländer! Was wollen die hier? Das wird ja immer besser. Los, Leute! Alle Posten doppelt besetzen, und passt ja auf! Das ist kein Spaß mehr.”
Drüben auf der Aurelia tat sich auch etwas. Die Mannschaft bereitete sich auf einen abendlichen Landgang vor. Einzeln oder in kleinen Gruppen verließen sie das Schiff. Zwei Wachen blieben zurück an Bord. Die englischen Fregatten waren ihnen nicht aufgefallen. Scully rief einen Schiffsjungen herbei und trug ihm auf, Morgan über die Ereignisse auf der Aurelia und auf See in Kenntnis zu setzen. “Aye aye, sir”, antwortete der Schiffsjunge, salutierte etwas unbeholfen und machte sich eilig auf den Weg in die Stadt.
Nur wenige Augenblicke, nachdem der Schiffsjunge von Bord ging, kamen ihm Francis und Antoine mit zwei Transportkutschen entgegen. Der Junge berichtete aufgeregt. Francis stieg vom Kutschbock, band ein hinten angehängtes Maultier los und gab dem Jungen eine Nachricht für Charlotte, die in der Pension wartete und für Morgan, der sich bereits auf dem Weg zu Rolly´s Gutshof in Câmara de Lobos befand . Francis war nun noch mehr in Eile. Er und Antoine wollten so schnell wie möglich die Fracht von Bord holen und sich ebenfalls auf den Weg machen. Scully hatte mit der Mannschaft gute Vorarbeit geleistet und sämtliche Fässer an Deck geholt und bereit gestellt. Das Verladen auf die Kutschen verlief daher sehr zügig und sie würden mit ihrer wertvollen Fracht noch vor dem Eintreffen der englischen Fregatten den Hafen verlassen können.
Nachdem die Fracht verladen war, suchte Francis Dr. Koch in seiner Kajüte auf und bat ihn, Antoine zu begleiten. Nachdem die beiden sich mit der wertvollen Fracht verabschiedet hatten, machte sich Francis auf den Weg zum Hafenmeister um das Schiff anzumelden und den Liegezoll zu entrichten. Zudem gedachte er um ein Treffen beim Konsul zu bitten, als Fulton genoss er ein ebenso hohes Ansehen auf der Insel und er war sich sicher, das der Hafenmeister dem Sekretär des Konsuls umgehend berichten würde. Jan nahm unterdessen wieder seinen Platz im Krähennest ein und beobachtete die beiden englischen Fregatten, die sich nun auf Sichtweite näherten. Jan vermutete, das die Engländer unmittelbar neben der Lale vor Anker gehen würden. Dann sah er Charlotte und Geraldine, die eilig den Weg zum Hafen gelaufen kamen und sich hier und da einiger bereits angetrunkener Seleute erwehren mussten. Neben der etwas zierlichen Charlotte, die wie ein scheues Reh die anzüglichen Gesten der Männer umging, verfügte Geraldine über eine außerordentliche gute Schlaghand und Jan vermutete, das sich so mancher ungehobelte Bursche gerade eine blutige Nase einfing. Nachdem Charlotte und Geraldine an Bord kamen, verließ Jan seinen Beobachtungsposten. Die Engländer waren bereits in unmittelbarer Nähe der Lale am Ankern. Scully setzte das Fernrohr ab. “Es sind die Beagle und die Victorius”.